
von Slawa Rabinowitsch, einem russischen Wirtschaftler
Meiner bescheidener Ansicht nach hat Putin 2014 sieben (plus-minus) verhängnisvolle Fehler begangen. Drei davon versteht er selbst ausgezeichnet, und vier aber nicht. Wird er aber bald.
Fehler 1
Er dachte, er sei ein mächtiger, willensstarker Politiker, der von der absoluten Mehrheit der Bevölkerung Russlands unterstützt wird, und dass die europäischen Politiker aber schwach, schlaff und dumm sind. Und er hat in diesem „großen politischen Spiel“ beschlossen, das erste dem zweiten entgegenzustellen, überzeugt davon, dass er „Europa zersplittern kann“. Und wenn die Richtigkeit der ersten Behauptung eine strittige Frage ist, so ist die zweite Behauptung schlicht und einfach falsch. Anstatt sich zu spalten, hat sich Europa gegen die russische Aggression zusammengeschlossen. Gegen die verbrecherische Aggression – sowohl die militärische als auch die terroristische.
Fehler 2
Er hat überhaupt nicht erwartet, dass die USA, Kanada, die EU, Japan und andere Länder politische und wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland, einzelne russische Firmen und seinen engsten Umkreis einführen werden. Wie man „da oben“ sagt, war er anfangs darüber völlig geschockt. Es sieht aus, als ob Alexej Kudrin nun der einzige reale „Botschafter“ Putins hinter den Kulissen ist, der versucht, die Sanktionen „zurechtzubiegen“. Aber Kudrin ist kein Zauberer, und das weiß er. Die Sanktionen sind eingeführt worden, und sie werden bleiben, nicht weil Kudrin es „nicht geschafft hat“, sondern weil momentan gar nicht beabsichtigt ist, die Bedingungen für die vollständige Abschaffung der Sanktionen zu erfüllen.
Mehr noch, mir persönlich ist es nicht wirklich verständlich, ob Putin die Situation tatsächlich absolut kontrolliert. Zum Beispiel hat man mir eine Geschichte erzählt, derzufolge Gennadij Timtschenko, ein Staatsbürger Finnlands und nun auch ehemaliger Aktionär der Firma „Gunvor“, eines der größten Ölhandelsunternehmen der Welt (der von dem internationalen Ölverkauf fast aller russischer Firmen fast alles abgesahnt hat), zu Putin gekommen sei und gegenüber seinem Freund seine sehr starke Unzufriedenheit mit der Situation geäußert hätte, wegen der er selbst höchstpersönlich unter die Sanktionen gekommen und schon am 19. März 2014 gezwungen war, seinen Anteil an „Gunvor“ schnellstmöglich an seinen „Partner“ Torbjörn Törnqvist zu verkaufen. Ich weiß nicht, ob es wahr ist, aber es heißt, dass als Timtschenko irgendsowas da gesagt und seinen „Unmut“ geäußert hatte, so dass ihm nicht Putin selbst, sondern jemand anderer (jemand vom Sicherheitsrat?) geantwortet hätte, wenn er nicht sofort „die Fresse hält, dann ist die Liege von Chodorkowski noch warm“. Ich weiß nicht, wie wahrheitsgemäß diese Story ist, aber wenn es wahr ist, dann ist die Frage: Wer kann sich denn erlauben, mit einem engen Freund von Putin so zu reden? Patruschew? Bortnikow? Schoigu? Wer noch? Jemand hinter den Kulissen, den wir gar nicht kennen? Von „welchen“? Und wenn dem so ist, was bedeutet das? Wie ist das möglich? Putin hat keine volle Kontrolle darüber, was jemandem in Bezug auf seine Freunde zu sagen oder sogar zu tun erlaubt ist?
Die Sanktionen sind ein Schock für Putin. Sie waren es, sie sind es und sie werden es bleiben. „Unvorhersehbare Umstände“. Unvorhersehbar allein aus dem Grund, dass man in der KGB-Akademie so etwas nicht unterrichtet hatte. Eigentlich hat man so etwas an der juristischen Fakultät der Leningrader Universität auch nicht unterrichtet, bei allem Respekt gegenüber Anatolij Sobtschak. Welche juristische Bildung haben die Schüler und Studenten zu UdSSR-Zeiten bekommen? In der Schule, soweit ich mich erinnere, gab es das Fach „Grundlagen des sowjetischen Staates und Rechts“. Oder war das an der Uni, im ersten Jahrgang? Weiß ich nicht mehr… Im ersten Jahrgang aller Unis gab es Fächer wie „Geschichte der KPdSU“, „Marxistisch-leninistische Philosophie“, „Politwirtschaft“. Weiter hat man an der juristischen Fakultät der LU sowjetisches Recht unterrichtet, gestützt hat man sich dabei auf die UdSSR-Verfassung, das StGB der UdSSR usw. Und zu jenen Zeiten beinhaltete das StGB Artikel über antisowjetische Propaganda und die Staatszersetzung der sozialistischen Staatsform, wie auch Artikel über den Währungsverkauf, wobei diese ausländische Währung nicht nur unmöglich zu kaufen oder zu verkaufen war – man hat die nicht mal jemals in den Händen gehalten. Dafür wurde nämlich eine reale Gefängnisstrafe verhängt. Das hat man Putin, Medwedew usw. unterrichtet, an all diesen „juristischen Fakultäten“.
Darauf folgte der KGB, die Dienstzeit in die DDR, die Arbeit mit der Stasi und keine Dienstbeförderung bei der Rückkehr in die UdSSR, sondern, wie es gemunkelt wird, eine Dienstgradherabsetzung und eine Abberufung aus dem KGB. Man sagt, die dienstliche Beurteilung lautete „geht so“. Und ich weiß noch nicht mal, ob es gut oder schlecht war, vom Standpunkt dessen, was man über Putin jener Zeit denken sollte und könnte – über den Major des KGB während seiner Dienstzeit in der DDR.
Von allen Mitgliedern des Staatssicherheitsrats Russlands gibt es keinen einzigen Menschen, der verstehen könnte, wie die ganze äußere zivilisierte Welt lebt und arbeitet, vom Standpunkt der Folgen einer militärischen und terroristischen Aggression aus, wie auch vom Standpunkt der Folgen einer Annexion fremder Territorien. Weder der sogenannte „Leistungsteil“ des Staatssicherheitsrats noch die nominalen Figuren, die pflichtgemäß in den Staatssicherheitsrat hineingeraten sind (wie Matwijenko und Naryschkin) hatten eine Ahnung davon, was Sanktionen sind, und dass sie überhaupt möglich sind. Um so weniger, was man damit macht, wenn sie mal eingeführt werden. Und der „Wirtschaftsteil“ der Regierung hat gar nichts gewusst, denn die Entscheidung über die Abstimmung des Föderationsrats am 1. März wurde gänzlich ohne diesen „Wirtschaftsteil“ getroffen. Und auch wenn sie es gewusst hätten, hätten sie all die möglichen Folgen nicht erklären können, denn unter ihnen gibt es einfach keinen einzigen Wirtschafts- oder Finanzpraktiker derselben Größenordnung wie zum Beispiel Hank Paulson. Oder wenigstens wie Ruben Wardanjan, wenn man schon von den Praktikern in unserem Land spricht.
Fehler 3
Hier ist alles einfach. Putin dachte, dass sobald er ein Streichholz anzündet und es in die Ukraine wirft, zerfällt die Ukraine augenblicklich in zwei Teile, dessen östlicher Teil dem Kreml von allein in die Arme sinkt. Das Land ist wirtschaftlich am Rande des Abgrunds, eine Armee gibt es als solche nicht, das Land wird von „komischen Typen“ regiert.
Anstatt dessen – was für ein Schock! – hat sich die Ukraine zusammengerafft, und das so dermaßen, dass kein ukrainischer Anführer es besser und stärker zusammenschließen könnte. Das hat das Volk selbst gemacht, kein Anführer. Das Volk, das zuvor am Maidan bewiesen hatte, was es selbständig machen kann. Und jetzt ist Putin, ohne es selbst zu wollen, zu einem Gründervater der modernen ukrainischen Nation geworden. Auch ein Fehlschuss von ihm.
Hier gehen die Fehler zu Ende, die er wahrscheinlich für sich selbst schon eingesehen hat. Es fangen die Fehler an, die ihm noch nicht bewusst geworden sind.
Fehler 4
Ich habe schon viel darüber gesprochen, mehrere Monate in Folge: die „Toxizität“ von ganz Russland. Es ist unwichtig, was Sie sind oder wo Sie sind, unter den Sanktionen oder nicht. Für das Weltfinanzsystem ist Russland fast schon ein Tabu geworden. Toxisch. Fass‘ es nicht an, es kann töten. Und dagegen kann man nichts machen, nicht nur in der kurzfristigen Perspektive, sondern auch in der mittelfristigen. Das wird Russland keine Milliarden, keine Dutzende Milliarden, keine Hunderte Milliarden, sondern Trillionen von Dollar kosten.
Fehler 5
Die Wirtschaftsträgheit – das ist ein sehr wichtiger Faktor. Die Wirtschaft kann man nicht an einem Tag, in einer Woche, einem Monat oder Quartal radikal verbessern. Nehmen wir mal an, dass morgen sowohl die Außen- als auch die Innen-Politik eine Wendung um 180 Grad macht, nach den Rezepten, die ich im fast vollen Umfang schon gegeben hatte. Für das Aufscharren dieses ganzen Drecks wird man im besten Fall sechs-sieben Jahre brauchen. Nein, natürlich könnte man schon in 12-18 Monaten eine deutliche Verbesserung spüren, wenn man sich morgen um 180 Grad dreht… aber realistisch braucht es 6 oder 7 Jahre, um zu dem Punkt zurückzukehren, von dem Russland 2007 heruntergefallen ist. Wenn man miteinbezieht, dass seit 2007 sieben Jahre vergangen sind, reden wir insgesamt von 14 Jahren des „Wiederaufbaus“. Für so etwas gibt es zum Beispiel in den USA einen politischen Tod. Wobei, nicht nur für so etwas.
Fehler 6
Putin hat es nicht verstanden und versteht noch immer nicht, dass man seine Handelspartner nicht angreifen darf. Und das bezieht sich nicht nur auf die Ukraine. Die ganze zivilisierte Welt hat es persönlich genommen. Nicht nur die EU (die es natürlich in erster Linie persönlich genommen hat). Es sind auch die USA, Kanada, Japan, Australien usw. Und wenn man schon von großen Partnern spricht, dann ist es die EU, in die auch die Ukraine bereits eingeschrieben werden kann – nicht vom jetzigen politischen oder wirtschaftlichen Standpunkt aus, sondern einfach nur vom Standpunkt des Handels. Die Ukraine kauft selber Gas (zum Beispiel bei Russland) ein und dient als Transit ins restliche Europa. Wie kann man die Ukraine angreifen, und somit auch Europa??? Das sind deine KÄUFER!!! Customers! Das ist Russlands „customer service“?
Russland erpresste Europa schon jahrelang mit diesen „Gaskriegen“ – alle waren doch schon müde davon. Und nun hat es auch noch ein fremdes Territorium annektiert und hat in einem Nachbarstaat, der sein Handelspartner und Käufer ist, einen Krieg angezettelt. Von einer jahrelangen Erpressung zu einem realen Krieg.
Und für diesen „customer service“ wird Russland einen sehr hohen Preis zahlen. Es wird die Absatzmärkte aller seiner Hauptwaren verlieren.
Hier hat Putin echt alle überspielt.
Fehler 7
Internationale Klagen. Das ist ein Thema für sich, aber vor uns sind Summen, die sich womöglich auf eine Trillion Dollar Gesamtsumme belaufen werden. Für die Krim, für den Osten, für die Boeing, für alles. Sehr viel. Russland wird noch lange zahlen müssen, nachdem es auf natürliche Art und Weise keinen Putin mehr geben wird, wie es auch mich oder dich nicht mehr geben wird…
Das wäre jetzt alles. Vom Wichtigen. Drei sind ihm bewusst, vier nicht (noch nicht).
Ein politischer Tod? Bis jetzt hat er nur andere in den Tod geschickt. Nicht nur Soldaten. Manche werden sagen: die „Kursk“, Tschetschenien, Moskauer Wohnhäuser, Beslan, Nordost, Sobtschak, Litwinenko, sogar du und ich. Ich weiß nicht, ich habe dieses „Portfolio“ nicht erstellt und auch nicht studiert. Kann es aber bereitwillig glauben. Denn „in der Öffentlichkeit ist uns selbst der Tod schön“. Und hier ist „uns“ – das ist dir und mir, aber nicht ihm.
Quelle: Slawa Rabinowitsch; übersetzt von Irina Schlegel
One Response to “Slawa Rabinowitsch: Wie Putin sich selbst überspielt hat”
10/03/2015
S.Rabinowitsch: "Schalten Sie Russland vom Weltfinanzsystem ab!" - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Lesen Sie noch einen Artikel dieses Autors: S.Rabinowitsch “Wie Putin sich selbst überspielt hat” […]