
Ein Interview mit Historiker des Instituts für Forschung totalitärer Regime (Tschechien) David Svoboda.
Vom 13. März 2014
Die Proteste auf dem Maidan in Kiew erweckten die Mythen über Stepan Bandera wieder zum Leben, wie auch Mythen über die Infizierung der Ukraine mit Neonazismus, Antisemitismus und über die Wiederbelebung der Pogrome. Nach Meinung des Historikers und Ukrainisten David Svoboda nütze die Moskauer Propaganda diese Mythen geschickt aus, oft mit Erfolg. Das hier angeführte Interview erschien in der Zeitung „Insider“ und wurde uns von der Redaktion der Web-Zeitung „Aktuálně.cz“ im vollen Umfang zur Verfügung gestellt.
Insider: – Warum ist plötzlich Bandera auf der „russisch-ukrainischen Bühne“ wieder aufgetaucht?
David Svoboda: – Proteste auf dem Kiewer Maidan lösten eine sehr angespannte und neurotische Situation aus, in der Ukraine als ein Land auftritt, das sich deutlich emanzipiert und von Russland unabhängig wird. Deshalb ist es nützlich zu wissen, dass es eine russische (und ich würde sagen – auch die sowjetische) leidenschaftliche „Passion“ für Stepan Bandera und Banderowzy seit dem Zweiten Weltkrieg gibt. Dabei sind „Banderentum“ und Bandera nur Mutationen im Wörterbuch russischer Propaganda. Vor Bandera haben die Russen schreckliche Geschichten über einen deutlich moderateren Kosaken-Anführer namens Symon Petljura in die Welt gesetzt – auch er strebte die Unabhängigkeit der Ukraine an.
In der antiukrainischen Propaganda nutzt Moskau eine Reihe von verschiedenen Figuren der Geschichte aus. Und Stepan Bandera ist aus ihrer Sicht ein Bandit, Terrorist, Antisemit … und Gott weiß, wer. Somit erhalten das „Bandera“-Etikett auch Bewegungen, die wie aus geographischer so auch sozialer Sicht weit von einander entfernt sind. So nannte Moskau die baltischen Partisanen auch „Banderowzy“. Und sogar die rumänischen Partisanen im heutigen Moldawien, die gegen die ukrainischen Nationalisten kämpften, seien auch Banderowzy gewesen. Kurz gesagt, im russischen Wörterbuch steht das Wort „Bandera“ für „Bandit“.
Insider: – Und vielleicht immer noch – in Tschechien, nicht wahr?
– Es stimmt. Hier hat diese Wahrnehmung in erster Linie das tschechische Kino erschaffen. Es genügt sich an Filme, wie „Die Schatten des heißen Sommers“ oder „Aktion „B“ zu erinnern. In „Aktion „B“ schiesst einer der künftigen Idole der Dissidenten-Bewegung in der Rolle eines Bandera-Anhängers aus einem Maschinengewehr auf Frauen und Kinder. Somit bekam der Name Bandera zwei Bedeutungen: die revolutionäre – die Flagge, und die verbrecherische – ein Bandit und ein Mörder. Dabei gehen selbst unter den ukrainischen radikalen Nationalisten die Ansichten bezüglich Stepan Bandera auseinander.
Übrigens, diese Gruppe ist gar nicht so mächtig, wie die russischen Medien behaupten, deren Schüren der Ängste von den westlichen und tschechischen Journalisten übernommen wird. Die Publikationen über Bandera sind entweder kritiklos lobpreisend, oder umgekehrt – beleidigend, erniedrigend. Für Moskau ist Bandera ein Symbol des wilden Hasses und barbarischen Verbrechens sowie der Nazi-Besatzung. Noch schärfer formuliert: für Moskau steht Bandera für den tierischen Hass auf die sowjetischen Errungenschaften, die sowjetischen Menschen und die sowjetische Ukraine.
Insider: – Wie sehen Sie Stepan Bandera?
– Moderne ukrainische Historiker bezeichnen ihn als „der romantische Terrorist„. Schließlich ergänzen sich Terrorismus und Romantik sehr oft. Aber Bandera war vor allem ein Romantiker. Dies resultierte aus der Umgebung, in der er aufwuchs und erzogen wurde. Bandera war ein junger Ukrainer, der darüber sehr entrüstet war, dass sein Volk unter dem Joch der Polen, des bolschewistischen Russlands, Rumäniens und der Tschechoslowakei verkümmerte. Er träumte davon, dass sein Volk sich heldenhaft erheben und von den Fesseln befreien würde. Dies wäre der erste Schritt zur Erschaffung einer einheitlichen und ungeteilten Ukraine. Dabei hätte es für einen Aufstand der unzufriedenen Massen eine Kleinigkeit gereicht – nur einen kleinen Funken. Im Kampf um Souveränität wurde die Gewalt bevorzugt.
Bandera war der Meinung, dass ein parlamentarischer Kampf nur etwas für degenerierte Demokraten oder Schwächlinge wäre, die nie etwas erreicht haben. Die Gewalt im Kampf für die Befreiung der Heimat wurde als heldenhaft betrachtet. Der befreiende und lustrierende Effekt wurde nur in der Gewalt und im Terror gesehen.
Insider: – Es scheint, als ob es von der Romantik bis zum Fanatismus in der Interpretation von Bandera nicht sehr weit war...
– Offenbar hat er gar keinen Unterschied gesehen. Die Verbrechen wurden im Namen einer guten Idee oder unter der Ablehnung der Mäßigung begangen. In der Zwischenkriegszeit organisierte Bandera eine Reihe von Angriffen auf die Politiker, die seiner Meinung nach vor der polnischen Obrigkeit einknickten. Dabei waren es Menschen, die die Zukunft der Ukraine in der polnisch-ukrainischen Versöhnung auf dem Weg der Kompromisse und gegenseitiger Zugeständnisse sahen. Aber einen solchen Weg lehnte der Terrorist-Romantiker Bandera ab. Er war ein Maximalist mit einer schwarz-weißen Weltansicht.
Insider: – Und genau diese „dunklen“ Aspekte der Bestrebungen von Bandera nutzt russische Propaganda aus?
– Sie tat es immer, aber jetzt tut sie es viel härter. Die Vergangenheit der ukrainischen Unabhängigkeits- und Banderabewegung wird heute von Moskau mehr als je zuvor zum Erwecken der Geister eingesetzt. Oder, wenn man so will – für die Sensibilisierung für die Ereignisse, für die Europa so empfindlich ist. Hitler und der Nationalsozialismus stoßen in zivilisierten Ländern automatisch auf Ablehnung… manchmal sogar auf Aberglaube. Nazi-Symbole lösen bei uns Ablehnung aus, die sowjetischen stören uns aber nicht besonders. Und genau auf dieser Saite spielt Moskau-Propaganda geschickt ihr Lied: „Schaut her! Am Kiewer Maidan sind Nazis auferstanden! Juden und die russische Minderheit in der Ukraine sind bedroht! Hier entsteht ein blutrünstiger Krater, der die Werte der Zivilisation aufsaugt!“.
Das heutige Russland vertritt Werte, die man als ultrakonservativ bezeichnen kann. Putins Russland verfolgt Homosexuelle. Putins Russland respektiert rohe Gewalt, nicht mal Frauen werden verschont, wie die Bilder aus Sotschi zeigen, wo Kosakenpatrouille protestierende Mädchen auspeitschte, die niemanden gefährdeten. Wenn man etwas übertreibt und Putins Propagandatechniken anwendet, dann könnte man sagen, dass ausgerechnet Russland nationalistisch ist, und nicht die rebellierende Ukraine.
Insider: – Kann man Stepan Bandera die Verbrechen zur Last legen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen und der Slowakei von so genannten „Banderowzy“ begangen wurden?
– Darin ist die Verrücktheit der Situation. Die Geschichte der Ukraine ist so tragisch und verwirrend, dass sich die Begriffe systematisch überdecken. Eine Sache ist Bandera als solcher, und eine ganz andere – die Banderowzy. Stepan Bandera arbeitete mit seinen Kollegen nur kurz – bis ihn die Nazis inhaftierten. Seitdem hatte er keinen Kontakt zu der „Bandera- Bewegung“ in der Ukraine. Gemeint werden Banderowzy, die in den Wäldern von Wolyn waren und diejenigen, die nach dem Krieg durch Mitteleuropa marschierten, und sogar die späteren Banderowzy im amerikanischen Exil.
Es geht um drei Abschnitte des ukrainischen bewaffneten Widerstands, die sich von einander sehr unterscheiden. Darüber hinaus war die „Bandera-Bewegung“ nur ein Teil des Gesamtkampfes für die Unabhängigkeit der Ukraine, den insbesondere die ukrainische Aufstandsarmee (UPA) verkörperte. Die Tatsache ist, dass die UPA und Banderowzy nicht dasselbe sind, obwohl in der sowjetischen, tschechischen, polnischen und anderen Nachkriegspropaganda und bis heute das Gegenteil behauptet wird. Das ist das Gleiche, wenn man die baltischen „Waldbrüder“ mit dem „dritten Widerstand“ in der Tschechoslowakei verwechseln würde.
Der große Fehler besteht darin, dass bis heute in der Tschechischen Republik ukrainische Widerstandsbewegung mit dem Etikett „Banderowzy“ assoziiert wird.
Insider: – Was die Etiketten betrifft: als ich mit Menschen auf dem Maidan sprach, bezeichneten sie den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch und die ehemalige Ministerpräsidentin Timoschenko als Banditen.
– Manchmal ist es schwer zu sagen, inwiefern die Ukrainer es selbst verstehen. Vor einiger Zeit habe ich in Deutschland gesagt, dass ich die ukrainische Widerstandsbewegung studiere. Und sie meinten, sie wussten gleich Bescheid über mich – sie sahen in mir einen Experten auf dem Gebiet „der ukrainische Banditismus“. Schließlich kann man den Materialien des Nürnberger Tribunals entnehmen, dass Bandera ein typischer Bandit war. Deshalb sollte man sich nicht wundern, dass Moskau glaubte, die Demonstranten auf dem Maidan seien Faschisten, dabei nannten die Protestierenden den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch genauso. Die aktuelle Restaurierung der Ängste im Zusammenhang mit dem Namen Stepan Bandera, hinter der oft Ignoranz und Unwissenheit der Geschichte steckt, beschäftigt mich sehr.
Insider: – Seiner Zeit war Stepan Bandera ein Idol der Widerstandsbewegung. Später hatte er vielleicht gar keinen realen Einfluss. Dennoch ließ KGB ihn in seinem Münchner Exil töten.
– In dem Befehl von Nikita Chruschtschow, Stepan Bandera zu eliminieren, gab es keine Notwendigkeit. Bandera war im Exil völlig isoliert. Man könnte ihn als ein „trauriger Ritter“ bezeichnen, der sich von der ukrainischen politischen Emigration zurückzog. Seine Opponenten betrachteten ihn immer noch als einen hartnäckigen, unversöhnlichen, gefährlichen und intoleranten Träumer, der ihrem Kampf für die Souveränität der Ukraine nur schädigt. Allerdings halten die heutigen ukrainischen Nationalisten den Mord an Bandera für Beweis seiner Größe und Bedeutung. Warum hätten die Sowjets ihn sonst getötet, wenn seine eigenen Kollegen ihn längst abgeschrieben hatten?
Insider: – Aber meines Wissens distanzierte sich Bandera als „träumender Revolutionär“ nie vom Terror und Gewalt im Kampf für die Freiheit der Ukraine.
– Man legte es ihm sehr zur Last, zum Beispiel die Amerikaner, die ihn schließlich ein „intolerantes pestartiges Element nannten, mit dem es wegen seiner Unverträglichkeit seinen Opponenten gegenüber schwierig zusammenzuarbeiten war“. Seine Opponenten hielten Bandera für einen Verräter großartiger Idee der unabhängigen Ukraine. Aus seiner Sicht, schlugen sie einen falschen Weg der zweifelhaften Demokratisierung ein. In dieser Hinsicht kann ich Banderas Kritiker verstehen, die ihm Banditentum und Verbrechen vorwarfen.
Er war ein unversöhnlicher Gewalttäter. Auf seine Initiative hin wurden Verbrechen sowohl an Ukrainern als auch an Personen anderer Nationalitäten begangen, die Bandera für illoyal und undiszipliniert hielt. Für diese Morde aus der Nachkriegszeit kann er für einen Verbrecher gehalten werden. Die mildernden Umstände liegen darin, dass seine Opponenten im Zweiten Weltkrieg auf die gleiche Weise gewalttätig waren, und zwar zu der Zeit, als Bandera in einem deutschen Konzentrationslager war.
Insider: – Anscheinend nutzt Moskau den Namen von Bandera auf eine alberne Weise aus, dennoch scheint es zu wirken…
– Wenn die Russen den Heldensagen und nationalistischer Literatur über Bandera eine ausgewogene Sicht auf sein Leben gegenüberstellen würden, dann würden sie in ihrer antiukrainischen Propaganda viel bessere Ergebnisse erreichen als bisher. Es besteht keinerlei Verbindung zwischen dem Maidan und den ukrainischen Radikalen aus den alten Zeiten.
Insider: – Der Übergang von UPA-Kämpfern oder Banderowzy durch die Slowakei ist für uns vielleicht ein ziemlich heikles Thema… aber auch vielleicht nur dank der kommunistischen Propaganda.
– Der Aufenthalt von Abteilungen der UPA in der Slowakei begann ungefähr im Sommer 1945. In der Slowakei erholten sie sich, um sich zu stärken, bevor sie zu den Kämpfen an der polnisch-sowjetischen Grenze zurückkehrten, wo die UPA gegen das polnische Regime und den sowjetischen Kommunismus kämpfte. Später, 1946 versuchte die UPA die Wahlen in der Slowakei zu beeinflussen, indem sie die Menschen über den wirklichen russischen Bolschewismus aufklärten.
Dabei befolgten die UPA-Agitatoren strenge Regeln im Umgang mit Menschen in der Slowakei: unter anderem wurde von ihren Kämpfern verlangt, auf das saubere Erscheinungsbild zu achten und Menschen in der Slowakei zu helfen. Später, 1947, fand ein großer Übergang von Einheiten der UPA durch das Territorium der Slowakei statt – sie wollten den Kampf gegen Stalin im Westen fortsetzen. Damals waren es schon tollkühne Draufgänger, die gegen alle kämpften. Vergeblich waren ihre Briefe an die UNO und an den Präsidenten Eduard Benes, in denen sie versuchten, ihre Ziele zu erklären und auf das tragische Schicksal der versklavten Ukraine hinzuweisen.
Insider: – Für Ihre Ansichten werden Sie wahrscheinlich viel Kritik einstecken müssen, die meisten wohl von Ihren Zeitgenossen.
– Das ist durchaus möglich. Meine Ansicht ist weit von den vereinfachten Vorstellungen entfernt, dass in die Slowakei irgendwelche Lumpen eingedrungen waren, die dann die Männer töteten und Frauen vergewaltigten. All das sollte man wissen, um eine Bewertung der aktuellen Ereignisse in der Ukraine machen zu können. Schließlich warf die Tschechoslowakei ihre Armeeeinheiten gegen Menschen, über die man nichts wusste.
Und diese wollten einfach nur weiterziehen. Daraus entstanden aber sinnlose militärische Auseinandersetzungen, bei denen Tschechoslowaken und die UPA-Kämpfer gefallen waren. Es ist bedauerlich, dass dies vor dem kommunistischen Putsch geschah und dass wir damals Menschen bekämpften, die den russischen Bolschewismus am eigenen Leib erfahren hatten. Letztendlich schafften es nur etwa hundertfünfzig Kämpfer von fünfhundert herauszukommen, dabei wurden mehrere Dutzend tschechoslowakische Soldaten und Polizisten getötet.
Insider: – Anscheinend ist die Nationalität „Ukrainer“ ein politisches Phänomen…
– Aber das ist wahr. Wenn ich jetzt beobachte, wie widersprüchlich in der Tschechischen Republik die ukrainischen Protestaktionen auf dem Maidan oder die Behandlung von Verwundeten in Prager Krankenhäusern aufgenommen werden, muss ich mit Entsetzen feststellen – ohne Übertreibung – welch‘ tiefe Wurzeln der Mythos von Bandera in uns geschlagen hat. Die Abneigung den Ukrainern als einer zweifellos politischer Erscheinung gegenüber hängt in der Luft, und das spüre ich. Dabei haben sie nichts anderes getan, als gegen die Diktatur zu kämpfen.
Insider: – In Internet-Diskussionen hört man oft den Einwand: warum sollten wir den Ukrainern helfen?
– Eine solche Position ist ein Zeichen für Faulheit und Unwissenheit. Nachdem die Russen die Ukraine unterwerfen, werden sie zu uns kommen. Wenn wir dran sind, wird es unser Ende sein. Wir werden Zeugen der Wiederherstellung einer Art der UdSSR sein.
Quelle: Jan Gazdik für zpravy.actualne.cz am 13. März 2014; übersetzt von Andrij Topchan; redaktiert von Irina Schlegel.