
Anfang Juli 2019 erklärte der neue ukrainische Präsident Volodymyr Selenski in einer Videoansprache, es werde dieses Jahr keine Parade zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine geben, stattdessen bereite sein Team „ein neues Format“ der jährlichen Feier vor. Diese Entscheidung löste jedoch Empörung in großen Teilen der Gesellschaft hervor, Kritik äußerten auch die Vertreter der Regierung und selbst sein Vorgänger, der zurückgetretene fünfte Präsident der Ukraine Petro Poroschenko sagte, es sei „kurzsichtig, das ukrainische Volk der Möglichkeit zu berauben, der Armee seinen Respekt und Ehre zu erweisen“. Einige nannten diese Entscheidung „ein strategischer Minus“, andere bestanden darauf, dass in einem Land, das sich seit fünf Jahren in einem Verteidigungskrieg befindet, es unabdingbar sei, seinen Soldaten zu danken, die seine Unabhängigkeit sichern. Bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und selbst der Sprecher des Parlaments Andrii Parubij riefen die Bevölkerung dazu auf, am Tag der Unabhängigkeit ins Zentrum Kyjiws zu kommen, um den gefallenen und den lebenden ukrainischen Soldaten zu danken.
Einige bekannte Volontäre machten sich daraufhin an die Arbeit heran und organisierten einen Marsch der Verteidiger, der parallel zu der offiziellen staatlichen Veranstaltung am Maidan laufen sollte. Dazu luden sie alle Militärangehörige ein, sowohl aktive Soldaten als auch bereits aus dem Krieg zurückgekehrte Veteranen, sowie die Nahestehenden von unseren Gefallenen und die Volontäre, die im Laufe des Krieges der Armee aktiv zur Seite standen.
Das Ausmaß dieser Veranstaltung konnte keiner ahnen…
Zur offiziellen Veranstaltung, die um 9:30 Uhr morgens begann, waren kaum Menschen gekommen. Die offizielle Veranstaltung beinhaltete die Rede des Präsidenten an die Nation, Ehrenerweisungen für die gefallenen Helden der Ukraine an der Allee der Himmlischen Hundert (die ehemalige Instituskaja-Straße in Kyjiw, auf der die schlimmsten Kämpfe während des Maidan 2014 stattfanden), die Fahnenhissung, sowie verschiedene kulturelle Veranstaltungen wie die Verleihung von Orden an Militärangehörige, Singen der Hymne usw. Auf den Bildern dieser Veranstaltung sind allerdings kaum Besucher zu sehen, außer den offiziell eingeladenen Personen. Merkwürdig wirkte auch die von staatlichen Vertretern gewählte Hauptfarbe der Veranstaltung: es war Weiß, was viel Kritik auslöste, denn weiße Farbe im Krieg bedeutet nichts anderes als Kapitulation…
Links: Die offizielle staatliche Veranstaltung. Rechts: Der Marsch der Verteidiger
Um 11:30 Uhr begann an der Taras-Schewtschenko-Universität in Kyjiw der freiwillige Marsch der Verteidiger. Nach verschiedenen Angaben sind dorthin etwa 40 bis 50.000 Menschen gekommen – freiwillig und aus eigenem Willen. Die Veranstalter sprachen von Überlastung und einer völlig unerwarteten Anzahl der Besucher.
Die Militärangehörigen sind aus verschiedenen Regionen der Ukraine zum Marsch angereist, einige gingen unter den Fahnen ihrer Gebiete, andere – unter der Fahnen ihrer Abteilungen. In der ersten Linie des Marschs gingen Verwundete, einige von ihnen wurden direkt aus dem Krankenhaus zum Marsch gebracht, andere waren selbst gekommen. Hinter ihnen liefen die Volontäre, solche wie Jana Sinkewytsch, die 2014 freiwillig als Sanitäterin an die Front ging und eigenhändig um die 200 Soldaten vom Schlachtfeld herausgebracht hat, später erschuf sie das Sanitätsbataillon „Hospitaljery“, das 2.500 ukrainischen Soldaten das Leben rettete. Der Sprecher unseres Teams InformNapalm Mychailo Makaruk lief ebenfalls unter den Freiwilligen bei dem Marsch mit.
- Mychajlo Makaruk, Pressesprecher von InformNapalm
- Jana Sinkewytsch
Hinter den Volontären und Verwundeten liefen die Nahestehenden der gefallenen ukrainischen Helden mit den Porträts ihrer Söhne, Väter und Ehemänner.
- Mutter
- Mutter…
Dahinter liefen die Vertreter verschiedener ukrainischer Truppen sowie Vertreter solcher Freiwilligenbataillons wie Asow, Ajdar usw. – jeder unter seiner Flagge.
Auf beiden Seiten des Weges standen einfache Bürger der Ukraine, die aus ganz Ukraine angereist waren, um ihren Verteidigern zu danken.
Zu sagen, dass dieser Marsch gewaltig war, ist gar nichts zu sagen. Die Mütter der Gefallenen liessen ihren Tränen freien Lauf, Kinder schrien „Slawa Ukraini“, erwachsene Männer, Krieger, schrieben später aus Facebook, wie sehr sie von der Menschenmenge um sie herum gerührt waren, die ihnen unter Tränen dankte. Seltsamerweise war der neue Präsident Selenski nicht mehr am Maidan, als der Marsch dort ankam…
„Wir danken Euch!“ und „Slawa Ukraini!“ war über den ganzen Weg zu hören, der von der Universität über die Hauptstraße von Kyjiw Kreschtschatyk bis zum Maidan verlief und etwa zwei Kilometer betrug. Als die ersten Teilnehmer des Marschs bereits am Maidan ankamen, war die Hälfte des Marschs noch gar nicht von der Universität losgegangen – die Organisatoren der Veranstaltung hatten nicht erwartet, dass so viele Menschen kommen werden: viele Teilnehmer hatten sich gar nicht angemeldet, sondern sind einfach so gekommen.
Diese Feier wird wohl in die Geschichte der Ukraine eingehen – soviele Menschen gab es am Maidan zuletzt während der Revolution der Würde 2014. Die Ukraine hat gezeigt, wie sehr sie ihre Freiheit und diejenigen schätzt, die ihr diese Unabhängigkeit und Freiheit bescheren. Das Volk hat wohl somit sein tiefes Bedürfnis nach Dankbarkeit an seine Verteidiger ausgedrückt – selbstorganisiert und gewaltig stark.
Wir sind nicht in weißer Farbe – unsere Farben sind Gelb und Blau, wie die ukrainische Steppe und der ukrainische Himmel, die wir verteidigen. Wir sind bereit, weiter zu kämpfen und unsere Freiheit zu verteidigen. Wie jemand auf Facebook schrieb: „Der Präsident wollte dem Volk seine Parade nehmen, also hat das Volk die Parade selbst organisiert und den Präsidenten nicht eingeladen“.
Das Böse rechnet nämlich immer mit der „weißen“ Güte: mit der schwachen Güte, mit Nächstenliebe und Widerstandslosigkeit. Es gibt aber auch die andere Güte: die Güte mit dem Mal eines Kriegers, die schützt, abwehrt, zurückwirft, stürzt. Diese Güte ist schwer, sie lebt immer mit dem Gedanken, dass sie einst zurückschlug, ausmerzte, Schmerz zufügte… Die starke Güte, die Güte der Verteidigung der Welt und ihres Friedens. Die Unglückliche – eine mit dem ewigen Schmerz…
Wir sind unseren Helden dankbar und lassen uns nicht verbieten, ihnen stets die Ehre zu erweisen, die sie verdient haben.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Ukraine!
Ексклюзивні та найкращі кадри з Маршу Захисників України.
Ексклюзивні та найкращі кадри з Маршу Захисників України.
Posted by Спілка ветеранів війни з Росією on Monday, August 26, 2019
Weitere Fotos von dem Marsch, die die Stimmung des Marsches und seine gewaltigen Emotionen wiedergeben, finden Sie unter folgenden Links: Anna Chabarai, Olexij Pisko.
Slawa Ukraini!
„Freiheit oder Tod!“, und eine Sonnenblume. Foto: Anna Chabarai
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalmDeutsch verfasst.
Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein aktiver Link zu unserer Ressource erforderlich ( Creative Commons — Attribution 4.0 International — CC BY 4.0 )
Wir rufen unsere Leser dazu auf, unsere Publikationen aktiver in den sozialen Netzwerken zu verbreiten. Das Verbreiten der Untersuchungen in der Öffentlichkeit kann den Verlauf von Informationskampagnen und Kampfhandlungen tatsächlich brechen.
Besuchen Sie uns auf Facebook: InformNapalmDeutsch
No Responses to “Unabhängigkeitstag der Ukraine: Einige Überlegungen zum Marsch der Verteidiger”