
Wladimir Pastuchow, russischer Politologe
Jemand, der aufmerksam die Ereignisse in Russland verfolgt, kann die qualitativen Veränderungen in der russischen Kulturschicht nicht übersehen. Diese Probleme offenbaren sich in erster Linie in der Ablösung des dominierenden „Kulturtypus“. Obwohl die Quantitätskennzahl auch ihren Wert hat.
Die Herabsenkung des „absoluten“ kulturellen Niveaus in Russland ist eine erschreckende Tendenz, die man in der Zukunft wahrscheinlich nicht ignorieren können wird.
Man muss allerdings sagen, dass es dabei um keine neue Tendenz handelt, sondern um eine Fortsetzung der Bewegungsbahn, die von der bolschewistischen Revolution bereits vor fast einhundert Jahren vorgegeben wurde.
Über den Zustand der russischen Kultur nachzudenken hat mich das vor kurzem in Canterbury aufgeführte Ballett nach dem Roman von Nobelpreisträger William Golding „Herr der Fliegen“ gebracht. Ich habe nie vermutet, dass jemand mithilfe eines Tanzes so ausdrucksvoll und voluminös den Prozess einer Rückevolution des Menschen in einen Affen darstellen kann.
Es ist bekannt, dass sich der menschliche Genotyp vom Affengenotyp nur um minimale Prozentpunkte unterscheidet, die aber trotzdem ausreichend sind, um eine unüberwindbare Grenze zwischen den Primaten und dem Menschen zu ziehen.
Matthew Brown hat anschaulich bewiesen, dass genau dieselben minimalen Prozentpunkte eine menschliche Gesellschaft von einer wilden Herde unterscheiden und eine Rückkonvertierung der ersten in die zweite schnell passieren kann.
Die Politik des Kreml, die auf der Basis des Widerstandes gegenüber dem Westen im Kampf um den Einfluss in der Ukraine ausgeformt wurde, beinhaltet ernsthafte kulturelle Risiken, die wohl kaum von den Architekten des neuen Kremlkurses berücksichtigt worden sind. Das Risiko liegt hier darin, dass der Kreml – ohne es selbst zu wollen – einen Mechanismus der Ent-Zivilisierung der russischen Gesellschaft in Gang gesetzt hat, der irreversibel werden kann, wenn keine außerordentlichen Massnahmen ergriffen werden.
Vieles von dem, was gerade in Russland passiert und was eine gerechtfertigte Empörung des liberalen aufgeklärten Gesellschaftsteils hervorruft, ist gar nicht unmittelbar Teil eines verhängnisvollen „Kremlplans“ sondern passiert automatisch, ist die lebendige „Massenkunst“ – auf diese Weise schwappt der jahrelang angesammelte Groll nach außen.
Und genau dieser Umstand ist am meisten beängstigend.
Wo ist das „denkende Schilfrohr“?
Gleichzeitig passiert eine Ausspülung der kulturellen Elemente aus der politischen Schicht. Das erinnert an den Calciumverlust in den Knochen bei Osteoporose: äußerlich sieht der Knochen genau so aus, aber innen sind überall Hohlräume.
Die Plätze auf dem politischen Pyramidengipfel sind immer öfter von halbgebildeten Provinzlern okkupiert. Aus irgendwelchen unerklärlichen politischen Ritzen kriechen ignorante unwissende Menschen heraus, die eine sehr vage Vorstellung von der Geschichte und der Kultur jener Zivilisation haben, deren Würde sie sich zu beschützen erklären. Viele öffentliche Erklärungen der Staatsmänner der „Neuesten Welle“ schockieren nicht mal durch ihre Rückschrittlichkeit (was ja noch verständlich wäre), sondern durch ihr Analphabetentum.
Sicherlich war Konstantin Pobedonoszew, der Berater des russischen Imperators Alexander III., der den Reformkurs seines großen Vaters begraben hatte, nicht weniger reaktionär als viele Funktionäre der jetzigen russischen Duma, aber ihn kann man wenigstens nicht der totalen Kulturlosigkeit verdächtigen.
Leider ist das, was heute in Russland passiert, gar kein präzedenzloser Fall in der Weltgeschichte. Etwas ähnliches haben die Intellektuellen in Russland und Deutschland in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts beobachtet.
Ehrenburg hatte in seinen Werken oft das Thema des „denkenden Schilfrohrs“ angesprochen: eine sehr dünne Schicht von Elite, welche die Gesellschaft von der Rückkehr zum urtümlichen Zustand von Wildheit zurückhält.
Der große soziale Psychologe Reich, der das traurige Privileg hatte, die Versenkung des Dritten Reichs in den Wahnsinnsabgrund zu beobachten, schrieb darüber, dass es genügt, einen ganz dünnen Damm im menschlichen Bewusstsein durchzubrechen, der die in seinem Unterbewusstsein verschmachteten Komplexe und unterdrückten Instinkte bezähmt, um den Menschen in ein krankes und bösartiges Tier zu verwandeln.
Der Trend zur „Gedankenangst“
Die heute in Russland zu beobachtende allgemeine Herabsetzung des Kulturniveaus passt in die Tendenz, die noch von den Bolschewiken vorgegeben wurde. Auch wenn man ihren Verdienst bei der Kulturverbreitung „in die Breite“ würdigen sollte, kann man nicht verschweigen, dass gerade sie die Ersten waren, die der äußerst dünnen und verwundbaren russischen Kulturschicht einen irreparablen Schlag versetzt hatten.
Ein Teil dieser Schicht überlebte und nahm an der Erschaffung dessen teil, was man heutzutage „sowjetische Intelligenz“ nennt.
Aber die soziale Orgie der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts, die zu einer totalen Kriminalisierung und Verelendung der russischen Gesellschaft führte, hatte auch die „sowjetische Intelligenz“ erledigt. Ihre zerstückelten Reste haben nach dem Trägheitsgesetz noch einen begrenzten Einfluss auf das gesellschaftliche Leben Russlands des folgenden Jahrzehnts gehabt. Aber es sieht aus, als ob dieser Trägheitseinfluss nun ein Ende findet, und auf die Vorbühne der russischen Kultur ein neuer ignoranter Held tritt.
Bislang wurde die demografische Krise als eine strategische Bedrohung für den Erhalt der russischen Zivilisation wahrgenommen. Es gibt aber eine akutere Bedrohung: die Verdünnung der kulturellen Schicht, die weitaus schneller geschieht, als die Depopulation der russischen Bevölkerung infolge der niedrigen Geburtsrate und hoher Emigration.
Die Dystrophie der Kultur scheint zu einem chronischen negativen Hintergrund für alle zukünftigen russischen Krisen zu werden. Dabei ist die eingewurzelte russische Krankheit, die Gedankenangst, über die in Russland am Anfang des letzten Jahrhunderts so viel geschrieben wurde, als der Bolschewismus seinen neuen kulturellen Trend gerade kennzeichnete (auch von den Autoren des berühmten „Wechi“) wieder in voller Kraft zu Tage getreten.
Über den Schwanz und den Hund
Die Gedankenangst geht Hand in Hand mit dem sozialen Infantilismus einher. Viele russische Geister sind brillant. Das wird auch durch die Arbeitsergebnisse bestätigt, die in den Westen emigrierte russische Wissenschaftler an den europäischen und amerikanischen Universitäten erreichen.
Trotz allem kann nirgendwo außer Russland eine hohe professionelle („technische“) Kultur neben einer sozialen Verantwortungslosigkeit und „geistigen Beschränktheit“ in ein und demselben Menschen so grotesk koexistieren.
Kluge und in ihrem Fach beschlagene Menschen verwandeln sich schlagartig in Barbaren, sobald es um die Lösung der gesellschaftlichen Konflikte geht, egal, ob es sich um einen Nachbarschaftsstreit in einem Mehrfamilienhaus oder um den Krieg gegen die Ukraine handelt.
Aus der Vormundschaft der kulturellen Schicht ist eine ziemlich ignorante und grobe Menschenmasse ausgebrochen, die sich in einem Zustand des permanenten Affekts befindet und Russland droht, sich genau in den Hundeschwanz zu verwandeln, der mit dem Hund wedelt.
Der Kreml setzt fälschlicherweise voraus, dass er die Volksstimmung leicht manipulieren kann. Aber es ist eine Einbahnstraße. Der „patriotische Aufstieg“, der vom Kreml initiiert wurde, hat einen äußerst unangenehmen Nebeneffekt gebracht, in dem er dunkle gesellschaftliche Instinkte geweckt hatte. Nikolai Berdjajew bezeichnete es bildlich als „den dunklen Wein der russischen Geschichte“.
Diese von der Verstandeskontrolle befreiten Leidenschaften kann man nicht auf Befehl wieder zähmen, sobald man will. Ein Instinkt ist eine abgefeuerte Kugel, die man nicht wieder einfangen kann.
Eine Hysterie kann man wohlüberlegt provozieren, man kann aber nicht genauso überlegt wieder daraus herauskommen. Dafür braucht man üblicherweise eine Schocktherapie. Die Deutschen haben im letzten Jahrhundert eine Niederlage in einem grauenhaften Krieg gebraucht, um daraus herauszukommen.
Die Russen wurden vom Sieg geheilt, dessen Preis gleich dem Niederlagepreis war.
Wladimir Pastuchow für BBC russian; übersetzt von Irina Schlegel