
Menschenrechtler Sergei Kowalew über die Gründe, aus welchen das heutige Russland ohne politische Morde nicht auskommen kann.
Die zufällige Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Ereignisse: des Endes vom Prozess über Michail Glushtschenko, der der Organisation des Mordes an Galina Starowojtowa beschuldigt wird, und der Gedenkfeier für Boris Nemzow (Am 27. August ist ein halbes Jahr seit seinem Tod vergangen) zwingen einen darüber nachzudenken, warum die ganze Geschichte des modernen Russlands von politischen Morden begleitet wird.
Die Opferliste beschränkt sich nicht auf die Namen Nemzow und Starowojtowa – in dieser traurigen Aufzählung sind unter anderem die Journalistin Anna Politkowskaja und der ehemalige Geheimdienstoffizier Alexander Litwinenko enthalten. Vereint werden all diese unterschiedliche Menschen durch die Tatsache, dass sie alle gegen das in Russland herrschende System von Beziehungen zwischen der Führungsmacht und der Gesellschaft auftraten. Der heutige Gesprächspartner von Radio Swoboda ist ein Veteran der russischen Menschenrechtsbewegung, politischer Gefangener zu Sowjetzeiten Sergej Kowalew.
– Viele von diesen Verbrechen sind nicht umsonst ungeklärt geblieben, obwohl ich weit davon entfernt bin zu behaupten, dass einige von diesen Morden ganz bewusst von der Regierung organisiert worden sind. Diese Formulierung kann ich nur in einem Fall benutzen – beim Mord an Litwinenko. Hier wussten hohe Staatbeamte ganz genau, dass dieser Mord geschehen würde, und nicht umsonst versuchen sie stets, Andrej Lugowoj „reinzuwaschen“. In dieser Reihe stehen übrigens auch ganz andere Dinge, wie etwa die berüchtigten Terroranschläge, ob auf die Theateraufführung in „Nord-Ost“ oder auf die Schule in Beslan.
Es ist eine bewusste „Gesamteinstellung“ der Regierung, die Opfer nicht zu berücksichtigen, wenn sie gerade das sogenannte Staatsprestige verteidigt. Das Leben der Geisel hat in der ganzen Welt die höchste Priorität, bei uns hingegen hat es was substanzloses. Im Fall von Nord-Ost hätte sogar ein Schüler die Wirkung von einschläferndem Gas vorhersagen können. Und natürlich liegt die Schuld für das Massensterben in Beslan bei denjenigen, die den Sturm organisiert hatten. Dass die Terroristen den Sturm provoziert haben sollen, ist eine Lüge.
Eine Regierung, die im Land einen Zustand der Hysterie und Wahnsinns erschafft, eine Regierung, die in ihren Gesetzen und Erlässen verfassungswidrige Normen verabschiedet – eine solche Regierung ist bei einem politischen Mord auf jeden Fall ein wichtiger Mittäter. Ich vermute, dass der Mord an Galina Wasiljewna Starowojtowa mit denen „da oben“ nicht abgesprochen worden war, aber das anschließende Scheitern der Ermittlungen fand meiner Ansicht nach nicht ohne die Beteiligung der „höheren Mächte“ statt. Dasselbe kann man wahrscheinlich über Anna Stepanowna Politkowskaja sagen, und ja, wahrscheinlich auch über Boris Jefimowitsch. Die Spur dieser Verbrechen führt nach Tschetschenien, und Herr Putin versucht ganz offensichtlich Ermittlungen gegen Ramsan Kadyrow zu verhindern. Das ist eine offensichtliche Sache, genauso offensichtlich wie die Gründe, aus welchen Putin sich nicht von diesem Gauleiter trennen kann. Putin steckt in einer Sackgasse, er weiss nicht wohin: entweder mit dem Kopf durch die Wand, oder aber eine Kapitulation. Putin ist aber keiner, der Kompromisse, eine allmähliche Kapitulation oder einen sukzessiven Rückzug suchen würde. Ich vermute übrigens, dass die heutige russische Führung sich die Wege zu einem sanften Abgang bereits abgeschnitten hat.
– Ich meine nicht nur Putin, sondern das ganze System der russischen Macht in der postsowjetischen Periode. Warum besteht bei diesem System kein Interesse daran, die Organisatoren der Morde an diesen ehrenwerten Menschen zu finden? Ist es der Meinung, dass diese Menschen in Interessen des Staates getötet wurden?
– Zumindest nicht ohne einen gewissen Anteil solcher Überlegungen. Weil die Opfer aller politischen Morde Gegner der Regierung waren. Und wenn ich sage, ich möchte nicht mit Sicherheit behaupten, dass jeder dieser Morde auf höchster Ebene organisiert wurde, dann meine ich Folgendes: Die Regierung erzeugt im Land eine Situation, die diese Morde begünstigt, und diese Regierung kann keine andere Situation erzeugen. Weil Putins Hauptziel ist, an der Macht zu bleiben und weiterhin unermessliche Gelder zu verteilen, um seine Statthalter zu füttern.
Ganz in unserer historischen Tradition des sowjetischen Regimes will auch die russische Regierung von der Wahrheit nichts wissen. Sie lässt sich die Ereignisse mit Hilfe von hoftreuen Experten in für sich akzeptablen Begrifflichkeiten erklären. Zum Beispiel, wenn Putin öffentlich alle Schuld auf die USA schiebt, denke ich, versucht er nicht nur die Zuhörer, sondern auch sich selbst von der globalen Schuld der USA zu überzeugen. Irgendwann mal erzählte mir Swetlana Aleksejewna Gannuschkina eine Episode aus einem Treffen Putins mit den Mitgliedern der Menschenrechtskommission. Jemand sagte dem Präsidenten: „Sie verstehen doch, dass das hier bei uns keine Wahlen sind, diese Prozedur kann man doch nur schwer „Wahlen“ nennen?“. Putin antwortete nicht: „Was reden Sie da? Unsere Wahlen sind eine demokratische Prozedur!“. Er sagte :„Denken Sie, dass es bei denen anders ist? Es ist genau so, nur sind sie erfahrener und können die Spuren besser verwischen“. Das sagte der Präsident Putin. Er versteht also, was die russischen Wahlen sind, versucht aber zu glauben, dass die Wahlen im Westen genauso sind.
– Verstehe ich Sie richtig: Zum Opfer des russischen Systems werden diejenigen, die besonders hartnäckig die Mächtigen daran zu hindern versuchen, das Land zu auszurauben?
– Richtig. Der eine versucht, die Führungsmächte daran zu hindern, das Land auszurauben, der andere versucht, sie mit alten Dissidenten-Lösungen dazu zu zwingen, der Verfassung zu folgen. Unsere Verfassung ist doch genauso unwirksam wie die stalinistische. Das ist nur eine Broschüre, in der etwas geschrieben steht, was keiner liest. Ja, diese Verfassung hat viele Mängel, sie hat aber ein Potenzial zur Weiterentwicklung und der Verbesserung des gesellschaftlich-politischen Systems Russlands. Übrigens ist es ein Dokument der direkten Anwendung. Aber alles läuft darauf hinaus, wie uns einst ein Aufsichtsstaatsanwalt im Gefängnis sagte: „Schreibt nie wieder Beschwerden und Gesuche an mich mit Verweisen auf die Verfassung. Ich erkläre: Sowjetische Verfassung ist nicht für Euch geschrieben, sondern für amerikanische Schwarze – damit sie genau verstehen, wie glücklich das sowjetische Volk lebt“. Unsere heutige Verfassung unterscheidet sich in keinster Weise von der stalinistischen.
– Gibt es Ihrer Meinung nach irgendwelche Kräfte in Russland, die fähig sind die Situation zu verändern?
– Mich wundern nicht die 86% „KrimUnser!“. Mich wundert, dass es unter diesen 86% ziemlich viele Vertreter der intellektuellen Elite gibt, gebildete und kluge Menschen, die Lebenserfahrung haben und verstehen, was sie tun, wenn sie zu Handlangern des Herrn Putin werden oder wenn sie die Ukraine für ihre „faschistische Juden-Banderas“ kritisieren. Für mich begann die Tragödie des Landes im Herbst 1999 oder Anfang 2000, als Putin Präsident wurde. Ich kann mit den Fingern einer Hand die Personen des öffentlichen Lebens abzählen, die damals sagten „Was macht ihr da? Man darf keinen KGB-Oberst zum Präsidenten eines Landes machen! Das ist wie wenn in Deutschland ein STASI- oder Gestapo-Offizier zum Kanzler werden würde“.
Die Regierung darf nicht aus dieser „Firma“ gewählt werden! Das ist ein Jammer: im Land mit einer solchen Leidensgeschichte der Intelligenz fanden sich nicht genügend Menschen, die gesagt hätten: aus diesem Verein dürfen wir keine Führung wählen. Und jetzt sitzen alle Künstler und Musiker – mit wenigen Ausnahmen – im Erdloch. Demokratie ist nicht der Wille des Volkes, sondern die Freiheit der Minderheiten, ungehindert um die Anerkennung der Mehrheit zu konkurrieren. Ungehindert, fair, offen und transparent sowohl mit der Führungsmacht als auch mit anderen Gegnern zu konkurrieren.
Als Biologe kann ich Ihnen sagen –so eine Situation ist in unserem Genom festgeschrieben. Denn schon unsere entfernten tierischen Vorfahren teilten die Welt in das „Eigene“ und das „Fremde“ auf. Sie zeigten den Fremden ihre Zähne und hielten sich dicht an die Eigenen. Lesen Sie Czeslaw Milosz, er setzt sich brillant mit diesem Phänomen auseinander – er beruft sich natürlich nicht auf tierische Vorfahren sondern auf den menschlichen Instinkt: man soll handeln, wie alle anderen. In unserem Land ist der Drang wie alle anderen zu handeln, sich nicht von der Mehrheit zu unterscheiden, nicht aus der Herde herauszutreten, besonders stark ausgeprägt.
– Man kann also dieses „russische Genom“, diesen Drang in der Herde zu bleiben und wie alle anderen zu sein, nicht ändern? Das bedeutet unter anderen auch, dass die Organisatoren der politischen Morde niemals gefunden werden?
– Beide Ihre Fragen verneine ich. Sowas ähnliches wie die polnische „Solidarnosc“ ist in unserem Land zur Zeit leider nicht möglich. Erinnern Sie sich, die Anfangsziele dieser Gewerkschaft waren strikt sozial – Verbesserung von Arbeitsbedingungen und der Bezahlung. Die Gewerkschaft begriff aber sehr schnell, dass diese Position allein untauglich war, man braucht politische Freiheiten, erst dann kann man die sozialen Veränderungen sicher durchsetzen. Ohne politische Freiheiten gelingt nichts. Wir haben momentan die gleiche Situation, aber ohne „Solidarnosc“.
Bedeutet das, dass die Situation hoffnungslos ist? Die Natur ist voll von Beispielen, wo kleine Bemühungen oder die Bemühungen von kleinen Gruppen plötzlich zu ernsthaften Ergebnissen führen. Das nennt man „Trigger Effekt“. Sagen Sie mir, worauf basieren die Weltreligionen? Auf Berichten einzelner Menschen, dass jemand nach dem Tod auferstanden sei, oder auf den Träumen des Propheten Mohammeds. Was ist das für eine Grundlage? Und was ist daraus entstanden?
Es wäre sicherlich vorlaut, an dieser Stelle die sowjetische Dissidenten-Bewegung der 1960-80er zu erwähnen, aber in Wirklichkeit war es etwas Ähnliches. Ohne diese Bewegung wäre das, was wir Perestroika nennen, nicht in Gang gekommen. Und der Westen hätte nicht eine signifikante Liberalisierung der UDSSR gefordert. Der Westen ist pragmatisch und feige. Er forderte die Veränderungen in der UDSSR, nicht weil westliche Politiker, sondern weil westliche Öffentlichkeit begann, darüber mit ihren Anführern zu sprechen. Im Westen darf man die öffentliche Meinung nicht ignorieren.
Ich möchte hoffen, dass unsere intellektuelle Elite irgendwann mal aufwacht. Denn selbst jetzt ist die Zahl derer, die wir Straßenopposition nennen, nicht mit der in den 60ern zu vergleichen. Es sind immerhin Zehntausende und manchmal sogar über hunderttausend Menschen. Ja, wir erinnern uns an die Zeiten, wo eine halbe Million auf die Straßen von Moskau hinauskamen, aber das war doch nur ein kurzer Triumph, nachdem das von allen gehasste System zusammengebrochen war. Abgesehen davon war diese Macht nicht von 86%, sondern von 96% unterstützt worden, und viele hatten ebenfalls so getan, als ob sie an die Ergebnisse der soziologischen Umfragen glaubten.
Quelle: Sergei Kowalew im Interview mit Andrei Scharyi für svoboda.org; übersetzt von Zoya Schoriwna/ Irina Schlegel.
- Lesen Sie auch: Sergei Kowalew „Stolz und Vorurteile: Ein offener Brief an den Westen“
No Responses to “Sergei Kowalew: Man darf den Chef nicht aus der „Firma“ wählen”