Andrej Piontkowski ist Initiator einer berühmten gesellschaftlichen Kampagne unter dem Titel „Putin muss gehen“, die in Russland von oppositionellen Aktivisten und Kulturschaffenden organisiert wurde. Am 10. März 2010, zu dem Zeitpunkt, als diese Bewegung im Internet startete, bekleidete Putin den Posten des Regierungschefs, war aber faktisch die Hauptperson des Staates geblieben.
„Hiermit erklären wir, dass die gesellschaftlich-politische Konstruktion, die Russland in den Abgrund führt und den Bürgern unseres Landes aufgedrückt wurde, einen Architekten, Kurator und Beschützer in Personalunion hat. Sein Name ist Wladimir Putin. Wir erklären, dass keine existenziellen Reformen in Russland möglich sind, solange Putin die reale Macht im Land besitzt… Die Befreiung vom Putinismus ist der erste unvermeidbare Schritt auf dem Weg in ein neues freies Russland,“ heißt es in der Ansprache.
In dem von Piontkowski geschriebenen Text werden die misslungenen Reformen Putins aufgezählt, Ereignisse wie der zweite Tschetschenien-Krieg und die Wohnhäuserexplosionen in russischen Städten erwähnt. Unter diese Erklärung hatten ursprünglich 34 Menschen ihre Unterschrift gesetzt, unter anderem auch die Menschenrechtler Elena Bonner, Wladimir Bukowski, die Politiker Garry Kasparow und Boris Nemzow, die Schriftsteller Sachar Prilepin und Wiktor Schenderowitsch, später haben sich ihnen noch Walerija Nowodworskaja, Konstantin Borowoj und andere Oppositionelle angeschlossen. Am Tag der Veröffentlichung dieser Ansprache gab es einen Hackerangriff auf die Website „Jeschednewni Journal“ („Tägliche Zeitschrift“),, weswegen die Unterschriftensammlung auf eine andere virtuelle Plattform verlegt werden musste. In den ersten Tagen sammelte die Ansprache schnell viel Unterstützer, bis zu 2500 Unterschriften am Tag, dann haben die Organisatoren Mahnwachen für die Sammlung von „lebendigen“ Unterschriften veranstaltet. Einige Zeit später ließ das Interesse der Russen an dem Projekt nach. Aber Andrej Piontkowski ist weiterhin ein überzeugter politischer Opponent Putins geblieben. Seine spitzigen und scharfsinnigen Blogs in sozialen Netzwerken und auf verschiedenen Websites lesen Tausende, unter anderem auch diejenigen, die in Russland lebend dran gewohnt sind, über brennende Fragen zu schweigen. Lesen und schweigend zustimmen – das ist in Russland noch nicht verboten.
Piontkowski gestand gegenüber der Zeitschrift „Gordon“: „So wie die restliche Welt beschäftige ich mich in letzter Zeit nur mit der Ukraine – das ist sehr interessant und sehr wichtig“.
– Andrej Andrejewitsch, ich weiß nicht, ob Sie den Geburtstag von Putin gefeiert haben, aber in Grosny hat zu seinen Ehren eine Demo mit über 100.000 Menschen stattgefunden. Glauben Sie, dass der Personenkult nach Russland zurückkehrt?
– Ich glaube, der Personenkult Putins wird aufgedrückt. Jeder Teilnehmer dieses Straßenumzugs in Grosny hat bestimmt jemanden von seinen Verwandten in diesem grausamen Krieg verloren, den Putin gegen das tschetschenische Volk vom Zaun gebrochen hat. Aber Kadyrow veranstaltet solche Spektakel, weil es für ihn politisch vorteilhaft ist. Er hat jenen Krieg gewonnen, und alle verstehen das ausgezeichnet. Russland zollt dem Sieger den Tribut in Form von Haushaltszuschüssen. Wenn aber was von Kadyrow gefordert wird, dann nur eine formale Loyalität Putin gegenüber. Das ist ihre persönliche Linie und ich versichere Ihnen, dass so ein Straßenumzug nirgendwo sonst in Russland stattfinden könnte.
– Glauben Sie, dass sich von den 84% Putinanhängern, wenn man den Umfragen glaubt, keine 100.000 Bürger einfinden werden, die ihre Treue ihm gegenüber sehr gern bezeugen würden? Vielleicht liegt es nur daran, dass es sonst nirgendwo solch‘ talentierte Organisatoren wie Kadyrow gibt?
– Als ein Mensch, der sich mit Soziologie beschäftigte, sage ich, dass in einem autoritären Regime soziale Umfragen keinerlei Bedeutung haben. Der rumänische Präsident Ceaușescu hatte zwei Tage, bevor er und seine Ehefrau wie Hunde erschossen wurden, noch eine Zustimmung von 97% gehabt. Und es geht nicht mal darum, dass die soziologischen Dienste die Ergebnisse fälschen. Da sitzt ein Mensch in seiner Wohnung, er wird angerufen und gefragt: „Sagen Sie mal, sind Sie für Putin oder gegen ihn?“. Die ganze vorige historische sowjetische Erfahrung legt diesem Menschen nahe „Ja, ich bin für Putin“ zu antworten. Darum ist die Auswertung der gesellschaftlichen Meinung keine Soziologie. Am 21. September fand in Moskau eine Friedensdemo statt, an der ich auch teilgenommen habe. Nach vorsichtigsten Bewertungen sind 50.000 Menschen zu dieser Demo gekommen, aber ich denke, dass wir viel mehr waren, viel mehr als bei den Friedensdemos des letzten Jahres oder des vorletzten. Die Mächtigen hat es natürlich sehr genervt, darum haben sie eine Woche später beschlossen, uns ihre eigene offizielle, proputinistische Kundgebung entgegenzustellen.
– Sie wurde angeblich zum Gedenken an die Gefallenen von „Neurussland“ durchgeführt…
– Scheinbar war genau das eine Möglichkeit, Putins reale Popularität zu messen. Wir hatten gar keine Informationsmöglichkeiten: weder Radio noch Fernsehen, und für dieses „Puting“, wie wir es nennen, wurde überall geworben. Viele Menschen wurden von ihren Arbeitsstellen mit Bussen hingebracht, in sozialen Netzwerken hat man eine Entlohnung für alle versprochen, die freiwillig kommen – 1500 Rubel, und es gibt auch Videoaufnahmen als Nachweise, wie das Geld ausgezahlt wurde. Und trotzdem hat dieses „Puting“ maximal 10-15.000 Menschen auf die Beine stellen können. Also, trotz der überschwappenden Hysterie der russischen Medien ist das reale Verhältnis zwischen den Gegnern und den Anhängern Putins in der Ukrainefrage 5:1, zu unseren Gunsten. In solchen heftigen historischen Momenten spiegelt sich das reale Bild nicht durch die passive Bevölkerungsmehrheit wieder, sondern durch seine aktive Minderheit.
– Auf Ihrer Facebookseite haben Sie eine Liste mit 14 Faschismusmerkmalen gepostet, die von Dr. Lawrence Britt erstellt wurde. Welche davon treten Ihrer Meinung nach in Russland zutage?
– Alle aufgezählten Punkte treten in Russland zutage, aber ich persönlich halte die „Krimrede“ Putins, die er am 18. März 2014 im Kreml gehalten hat, für die deutlichste Bestätigung des russischen Faschismus. Anlässlich des formalen Beitritts der Krim zu Russland: Nicht nur ich sondern ganz viele andere Beobachter haben festgestellt, dass es sich um ein fast 100%-iges Remake der Rede des deutschen Reichskanzlers Hitler nach der Annexion des Sudetenlands gehandelt hat. In dieser Rede sind alle Basisansätze der deutschen nationalsozialistischen Außenpolitik übernommen worden. Putin hat dabei zum ersten Mal gesagt: „Wir Russen sind ein zersplittertes Volk“. Außerdem hat Putin einen Begriff verwendet, den es vorher im russischen politischen Lexikon nicht gab: „Nationalverräter“. Und das klingt auch irgendwie ziemlich faschistisch.
– Üblicher für uns ist seit den Sowjetzeiten ein anderer Begriff, nämlich „Volksfeind“.
– Ja, und der wichtigste Ansatz, der diese Ansammlung faschistischer Ideen abrundet, ist die „Russische Welt“. Eine vollkommene Analogie zum Dritten Reich. Zur heiligen Pflicht des Kreml hat Putin den Schutz aller ethnischen Russen und aller Russischsprachigen erklärt, die an einem beliebigen Ort der Welt leben, auf einem beliebigen Territorium. Nicht der russischen Bürger, was ja selbstverständlich für jeden Staat wäre, sondern der ethnischen Russen und der Russischsprachigen. Mit diesem Konzept hat er die Annexion der Krim gerechtfertigt und sogar romantisiert. Eine Annexion, die gegen mindestens ein Dutzend internationaler Abkommen, die auch von Russland unterzeichnet wurden, verstoßen hat. Und gleichzeitig hat er auch die zweite Etappe der Erweiterung der Russischen Welt genannt: Die Erschaffung Neurusslands, was den Anschluss von acht weiteren Gebieten der Ukraine voraussetzt. Mit diesem Begriff hat er das russische politische Lexikon auch bereichert. Ist denn die Idee von Neurussland nicht der grellste Ausdruck vom Faschismus, der mit der Außenpolitik des Nazideutschlands übereinstimmt?
Es gibt da einen großen Kremlpropagandisten namens Migranjan, Vorsitzender der NewYorker Vertretung des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit, das die Einhaltung von Demokratie in den USA beobachtet. Also, in der Zeitung „Iswestija“ hat er einen Artikel veröffentlicht, in dem er schrieb, dass Hitler, der bis 1939 nur mit dem Sammeln von Territorien beschäftigt war, in der Geschichte seines Landes als ein Politiker des höchsten Rangs hätte bleiben können. Also, war Hitler auch mal „gut“? Klar, wie ein wahrer Patriot – alles im Interesse seines eigenen Staates…
– Die Analogie ist ziemlich deutlich. Und die „Tollwut“ Hitlers, ungeachtet der äußerlichen Zurückhaltung Putins, offenbart sich auch in seinen Handlungen, die durch Sinnlosigkeit gekennzeichnet sind. Können Sie, Andrej Andrejewitsch, als Mathematiker irgendeine Logik in seinen Handlungen finden?
– Ich erinnere mich oft an einen Aphorismus des naturwüchsigen, geistreichen russischen Generals Lebed: „Es handelt sich nicht um Dummheit, es handelt sich um eine andere Art Verstand“. In den Rahmen dieser widernatürlichen Logik kann man auch alle Postulate einordnen, die ich gerade aufgezählt habe: Die Vereinigung des russischen Volkes, Sammlung von russischen Territorien, Kampf gegen die Nationalverräter, Russische Welt, und dann noch den Kampf der Russischen Welt gegen die angelsächsische Welt. Und wenn man schon von psychologischen Charakteristika spricht, von seinen Ansichten und Taten, dann wird er fehlerhafterweise als kalter und berechnender Mensch eingeschätzt. Nein, er ist ein Mensch großer Leidenschaften, bösartiger Leidenschaften: Er hasst den Westen, er hasst Georgien, die Ukraine. Schaut doch auf seine Fotos, auf sein vom Groll verzerrtes Gesicht – er ist gefährlich, weil er zu wahnsinnigen Taten fähig ist.
– Sie haben darüber geschrieben, dass Putin den Westen mit einem Atomkrieg erpressen wird. Glauben Sie, er besitzt genug Verwegenheit, Atomwaffen anzuwenden?
– Ja, und ich habe darüber mehrmals in meinen Artikeln geschrieben: In der Ukraine entscheidet sich gerade nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern das Schicksal der ganzen Welt. Wenn Putin siegt (in seinem Verständnis) und den europäischen Vektor der ukrainischen Entwicklung komplett zu blockieren schafft, ihre Wirtschaft territorial zu zergliedern schafft, wird er so berauscht von seinem Sieg und der Hilflosigkeit des Westens sein, von seinem Standpunkt aus, dass er sich auf den Weg ins Baltikum macht. Denn das Konzept der Russischen Welt erfordert Grenzveränderung von zumindest zwei Ländern, die NATO-Mitglieder sind: Lettland und Estland. Und nun stellen Sie sich vor, dass „höfliche grüne Männchen“ in die Stadt Narva kommen. Sie werden da zwar von niemandem erwartet, so wie sie auch auf der Krim nicht erwartet wurden, von anderen Gebieten der Ukraine spreche ich gar nicht, aber sie werden da sogenannte „Referenden“ durchführen und den Anschluss von Narva und ihren Vororten an Russland einfordern. Und dann wird Estland in Übereinstimmung mit dem 5. Artikel des NATO-Reglements gezwungen sein, sich um Hilfe an seine Verbündeten zu wenden. Und Putin wird erklären, dass wenn versucht wird, die „grünen Männchen“ aus Estland zu vertreiben, Russland Atomwaffen anwendet, ungeachtet dessen, dass die russische Armee der Gesamtkraft der NATO bedeutend unterlegen ist. Er ist überzeugt davon, dass er diesen psychologischen Krieg gewinnen kann, dass der Westen zusammenzuckt und nachgibt, weil er derjenige ist, der mehr Entschiedenheit und Dreistigkeit besitzt.
– Putin wähnt sich bestimmt als süffisanten Schachspieler, wenn er in seinem entzündeten Gehirn die schlauen Züge ausklüngelt, aber er benimmt sich ja wie ein Falschspieler. Ist ihm denn der eigene Ruf so gleichgültig, er war doch erst vor einem Jahr auf dem Gipfel des internationalen politischen Ratings?
– Putin empfindet gegenüber niemandem Schamgefühle, besonders keinem seiner westlichen Partnern gegenüber – er verachtet sie. Wie kann er sie denn nicht verachten, wenn ehemalige europäische Bundeskanzler und Ministerpräsidenten an seinen Tankstellen arbeiten? Nehmen Sie doch zum Beispiel Gerhard Schröder, Ex-Bundeskanzler Deutschlands, der ihm für zwei Millionen Euro als Vorsitzender des Gesellschafterausschusses des Pipelinekonsortiums „Nord Stream“ dient. Für Putin ist das eine lächerliche Summe, und für Schröder – eine sehr große. Putin spielt kein Atomwaffenschach, sondern Atomwaffenpoker. Es ist kein Falschspiel – das ist ein psychologisches Duell, das gefährlich für die ganze Welt ist und bei dem er permanent die Einsätze erhöht.
– Putin hat erreicht, dass die Ukraine eine Waffenruhe unterzeichnet hat. Jedermann versteht genau, dass er das nicht wegen des Lebens von Zivilisten im Donbas oder von ukrainischen oder russischen Soldaten getan hat. Für einen Menschen, der so viele Tote auf dem Gewissen hat, ist der Preis eines fremden Lebens keinen Cent Wert. Wahrscheinlich hätte er gerne, dass der Westen die Sanktionen abschafft, zumindest vorübergehend. Aber wenn dem so ist, warum hält Russland die Waffenruhe nicht ein?
– Natürlich, von seiner Seite war es ein Versuch, die Sanktionen abzuschaffen, denn zur Zeit der Unterzeichnung der Waffenruhe lag die militärische Initiative in seinen Händen, und die Ukraine erlitt eine ernsthafte Niederlage. Am Tag zuvor hatten seine nächtlichen Telefongespräche mit Poroschenko begonnen, auf dem Weg in die Mongolei hat er auf einem Notizblock den Stabilisierungsplan für den Südosten der Ukraine entworfen. Das war genau ein Tag vor dem NATO-Gipfel und zwei Tage vor dem EU-Gipfel, bei dem die Fragen besprochen wurden, die mit der Ukraine im Zusammenhang stehen. Als Russland seine reguläre Armee schon endgültig in den Donbas eingeführt hatte, ist Putin praktisch unmittelbar vor der Erstürmung Mariupols stehengeblieben. Jetzt ist die Verteidigung Mariupols befestigt, aber damals hätte die russische Armee die Stadt frei einnehmen und an die Landenge von Perekop weiter vorstoßen können. Putin ist stehengeblieben, ich wiederhole, nur weil er hoffte, dass die westlichen Sanktionen abgeschafft werden, die ungeachtet der Prahlerei der russischen Mächtigen ernsthaft wirken – auf dem Währungs- und Fondsmarkt Russlands sind Dollar und Euro heute auf eine Rekordmarke gestiegen. Und warum die Waffenruhe nicht eingehalten wird… Erstens, wirft sich Putin zwischen zwei widersprüchlichen Aufgaben hin und her: Auf einer Seite darf er nicht zeigen, dass er „Neurussland“ aufgegeben hat und zurückgewichen ist – das wäre eine politische Erniedrigung für ihn. Auf der anderen Seite will er aber die rote Linie in seinen Beziehungen zum Westen nicht überqueren. Daher all die Schwankungen, die uns nicht erlauben, seine weitere Vorgehensweise durchzurechnen. Inzwischen hat sich die „Luhandonien“ in eine Republik Somalia verwandelt, wo mit Moskaus Unterstützung irgendwelche „Bes“ („Dämon“ auf russisch), „Sachartschenkos“ usw. herumwirtschaften.
– In den Medien tauchte eine Information auf, dass der sogenannte Premierminister der „DVR“ Sachartschenko seinen Rücktritt erklärt habe. Und auch wenn diese Information später in der „DVR“ widerlegt wurde, gibt es wahrscheinlich keinen Rauch ohne Feuer. Könnte als Rücktrittsgrund vielleicht Sachartschenkos Erklärung gegenüber dem STB-Journalisten dienen, in der er sagte: „Ich kann mit ruhigem Gewissen jede ukrainische Stadt unter Beschuss nehmen, und ich habe kein Mitleid mit den Zivilisten“? Diese Erklärung hat Putin, der die Terroristen unterstützt, indirekt geschadet…
– Oh ja, mit dieser Erklärung hat Sachartschenko der Putinpropaganda keine große Hilfe erwiesen. Rücktritte gab es im „Neurussland“ schon viele: Strelkow, Borodaj, Puschilin, Bolotow, über den nun gar nicht bekannt ist, ob er noch am Leben ist oder nicht. Für Moskau sind all diese Aktivisten nur abgenutztes Material, und sobald sie außer Kontrolle geraten, werden sie beseitigt. Das ist ein natürlicher Prozess. Dabei ist Putin wichtig, dass im Osten der Ukraine dieses Feuer immer weiter glimmt, denn in den anderen Regionen ist die Idee von „Neurussland“ durchgefallen.
– Sie sagen, westliche Sanktionen sind für Russland sehr spürbar. Aber neulich hat der Duma-Abgeordnete Fedorow erklärt, dass sie für Russland nur vorteilhaft sind, denn sie erlauben, sich von der ausländischen Währung zu befreien, die Russland schon längst nur hindert…
– Fedorow ist ein schwer kranker Mensch, er hat eine Menge sehr origineller Erklärungen abgegeben. Er findet zum Beispiel, dass Russland seit 1990 unter einer Außenkontrolle der USA und des internationalen Zionismus steht. Nun erklärt er, dass Russland, wenn es auf ausländische Währungen verzichtet, viel eigenes Geld drucken kann, für welches es viele Betriebe und Fabriken bauen wird, um seine Wirtschaft anzukurbeln. Ihn sollte man gar nicht ernst nehmen. Viel wichtiger ist es, auf die Meinung von solchen Menschen wie zum Beispiel Gref oder Kudrin zu hören.
– Der Chef vom „Sberbank Rossija“ Herman Gref, hat sich auf dem jüngsten Investmentforum darüber beklagt, dass mehr Ausreiseanträge gestellt werden als Anträge auf eine Unternehmensgründung. Seine Idee hat der Ex-Wirtschaftsminister Alexej Kudrin fast Wort für Wort wiederholt: „Geschäftsleute denken nicht über ein neues Geschäft nach, sondern darüber, in welchem Land sie am besten eine Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt bekommen, weil sie glauben, dass sich die russische Wirtschaft aufgrund der „katastrophalen Qualität der Staatsführung“ nicht entwickeln kann.
– Ja, das sind schon keine wirtschaftlichen sondern politische Einschätzungen.
– Nach ungefähren Angaben haben sich am Krieg im Osten der Ukraine zusammen mit den lokalen Terroristen bereits 15.000 russische Militärangehörige beteiligt. Diesen für die Ukrainer absolut offensichtlichen und mehrmals bestätigten Fakt erkennt Russland nicht an. Aber jeder Militärangehörige hat doch Verwandte und Freunde, die sein Geheimnis kennen, und darum wächst ja die Zahl der Eingeweihten in geometrischer Progression. Was für einen Sinn hat dieses Pulcinella-Geheimnis, wenn die Lüge die Soldatenmütter nur beleidigt und die Russen gegen die Staatsmacht aufbringt?
– Putin ist doch in irgendeine Kirche gegangen und hat da eine Kerze zu Ehren der gefallenen „Neurussland-Verteidiger“ aufgestellt. Als es unmöglich wurde, den Tod der Menschen zu verheimlichen, hat die russische Staatsmacht angefangen davon zu sprechen, dass in der Ostukraine nur Freiwillige kämpfen, die einer nach dem anderen Urlaub nehmen und dahin fahren, wo sowieso längst russische Panzer, „Grad“, Boden-Luft-Waffensysteme Angriffe ausführen. In Wirklichkeit sind die regulären russischen Militäreinheiten, die nach allen Regeln der Kunst aufgestellt sind, Anfang August offen einmarschiert. Die von Putin gefütterte OSZE hat es möglicherweise nicht bestätigt, aber es gibt genug unbestreitbare Fotobeweise, die in den europäischen Ländern präsentiert wurden.
– Wie bewerten Sie die Vorgehensweise der ukrainischen Regierung in diesem Krieg?
– Am allerwenigsten möchte ich die Vorgehensweise der ukrainischen Regierung bewerten – das müssen die Ukrainer selbst tun, aber die Situation sieht ein wenig absurd aus. Russland führt gegen die Ukraine einen offenen Krieg: mit Teilnahme der russischen regulären Armee, informativ-psychologischer Kriegsführung und Devisenerpressung. Und dabei werden die diplomatischen Beziehungen mit Russland von der Ukraine offiziell aufrechterhalten. Delegationen treffen sich, es werden irgendwelche wirtschaftlichen Fragen ausdiskutiert – über Gaslieferungen, gegenseitige Schuldansprüche, darüber, wie die Ukraine die okkupierten Territorien auf der Krim versorgen muss. Kann man sich denn vorstellen, wie sich Stalin mit Hitler, oder Molotow mit Ribbentrop, im September 1941 auf irgendwelchen internationalen Feten treffen und Weizenlieferungen nach Deutschland besprechen? Das ist eine irrsinnige Situation, aber ich bemühe mich nicht, die ukrainische Regierung zu verurteilen, denn der Westen übt einen immensen Druck auf sie aus, was die Bezeichnung eines Krieges als das, was er ist – als Krieg, angeht. Der Westen wiederholt noch immer das Mantra: „Krieg ist keine Problemlösung“. Wenn auch die Waffenruhe für die Ukraine nützlich war: Sie muss sich nun mit einer Verteidigungslinie bescheiden, an der sie sich viel leichter schützen kann. Und wenn die lokale Bevölkerung im Donbas die Terroristen teilweise unterstützt, so sind die Territoriumsgrenzen, an denen sich die ukrainische Armee befestigt hat, für Moskau schwer überwindbar, denn da leben Menschen, die hundertprozentig für die Ukraine eingestellt sind. Ich glaube, früher oder später wird die ukrainische Regierung die Dinge beim Namen nennen müssen: Ja, es ist Krieg, ja, es gibt okkupierte Territorien – und aufhören müssen, mit einem „besonderen Status“ zu spielen. Es ist klar, dass die Ukraine ihre Territorien nicht aufgibt, aber die Situation jetzt zu ändern – dafür hat sie gerade keine Möglichkeit.
– Aber ganz am Anfang hat die Regierung doch in dieser Geschichte mit der Krim-Annexion und dem Donbas, anstatt die Separatisten dem Gesetz entsprechend zu verurteilen, zugelassen, eine ganze Region unter Kontrolle zu nehmen – die temporäre Regierung der Ukraine hatte offensichtlich nicht genug Entschlossenheit gehabt…
– Wieso, war die Ukraine denn zu dem Zeitpunkt ein funktionierender Staat? Welche Hebel hatte Turtschinow? Weder eine Armee, noch eine Miliz, dafür aber Kremlagenten in der Staatsführung. Er hat der Marineinfanterie auf der Krim nur formal befehlen können, die „grünen Männchen“ zu vertreiben, aber unklar war, wie die ukrainischen Streitkräfte auf so einen Befehl reagiert hätten.
– Was denken Sie, wird Putin die Ukraine irgendwann in Ruhe lassen?
– Nein, niemals wird er das tun, denn davon hängt seine Zukunft ab. Seine politische Motivation ist, für immer an der Macht zu bleiben, darum wird er in der Ukrainefrage nicht zurückweichen können. Wenn das passiert, werden ihn nicht nur die Kriegsgegner hassen, sondern auch all der Schrott, der von der Idee der Russischen Welt und des Krieges gegen die Ukraine begeistert ist. Putin ist in einer schwierigen politischen Situation. Die Ukraine muss es verstehen, akzeptieren und sich auf eine neue Eskalation des Konflikts vorbereiten. Es geht im Prinzip um die Existenz der Ukraine als souveränen Staat oder ihre Nicht-Existenz, was ihre Verwandlung in ein moskauhöriges Protektorat bedeuten würde. Es gibt keinerlei Kompromiss in diesem Konflikt. Für Putin lautet der Einsatz Leben oder Tod.
– Also sind Sie überzeugt davon, dass Putin seine Amtszeit bis 2018 verlängern wird, um dann wieder die Plätze mit Medwedew zu tauschen und weiterhin Russland zu regieren?
– Nein, ich glaube, Putin kann durchaus die Präsidentschaft verlieren, wenn in den nächsten Monaten alle wirtschaftlichen und politischen Hebel benutzt werden, die dem Westen zur Verfügung stehen. Denn sogar die relativ weichen Sanktionen, die bis jetzt eingeführt worden sind, haben nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine bedeutende politische Wirkung gehabt. An der Spitze der russischen Regierung stehen sehr reiche Menschen, Milliardäre, die gerade ihre Aktiva verlieren. Sie können ja anfangen zu fragen: „Warum sollen wir denn so gewaltige Verluste wegen den Ambitionen und Selbstkomplexen eines Menschen ertragen?“ Ich habe schon relativ heftige Einschätzungen solcher Menschen wie Kudrin und Gref erwähnt. Und das sind ja nicht einfach nur Wirtschaftsexperten – es sind seine sogenannten Freunde aus den Banditenkreisen von Petersburg.
– Von alleine wird er ja nicht gehen…
– Von alleine nicht, aber Mubarak und Gaddafi sind auch nicht von allein gegangen, und Stalin wurde auch von seiner unmittelbaren Umgebung liquidiert, als er vollkommen verrückt wurde und sich tatsächlich auf den Dritten Weltkrieg vorbereitete. Und Putin bereitet sich auf den Vierten Weltkrieg vor, wenn man als Dritten den Kalten Krieg bezeichnet, der nach Putins Meinung von Russland und der Sowjetunion verloren wurde.
– Man sagt, Putin verachte Janukowytsch für die Schwäche, die er angeblich während der Ereignisse auf dem Maidan gezeigt hat, dafür, dass er die Aufständischen nicht niedergeschossen hat, wie er es selbst getan hätte. Und trotzdem hat Putin ihm die russische Staatsangehörigkeit gegeben. Hat er Mitleid mit ihm gehabt? Janukowytsch kann doch jetzt in kein zivilisiertes Land mehr einreisen…
– Obwohl Putins Pressesprecher diese Information dementierte, bin ich zu 100% sicher, dass Janukowytsch die russische Staatsangehörigkeit bekommen hat. Wie kann es denn anders sein, wenn er nach Russland einen LKW, ein Flugzeug und vielleicht sogar ein Schiff mit Bargeld gebracht hat? Übrigens, dieses Faktum war komischerweise nie Gegenstand von Handel- und Wirtschaftsverhandlungen, die trotz des Krieges zwischen der Ukraine und Russland geführt werden…
– Wie lebt es sich eigentlich in Russland für einen Menschen, der die Erklärung „Putin muss gehen“ initiiert hat?
– Wie es sich lebt? Na, hier im Gespräch mit Ihnen verheimliche ich ja meinen Standpunkt nicht und hoffe, dass ich morgen nicht in ein Konzentrationslager komme. In der Frage der politischen Repressionen haben wir das Niveau des Dritten Reichs Hitlers ja noch nicht erreicht. Ich lüfte kein großes Geheimnis, wenn ich sage, dass in Moskau und Sankt Petersburg schon Listen von Unzuverlässigen erstellt worden sind – da sind um die 3.000 Namen auf der Liste. Den Regionen hat man erlaubt, eigene Listen zu erstellen, so nach dem Motto: Ihr wisst es ja besser, was da bei Euch los ist. Die Menschen auf diesen Listen müssen isoliert werden, um Massenunruhen zu verhindern. Und als Anlass für Massenunruhen kann ja alles Mögliche dienen: Zum Beispiel, die Aktivierung von Kampfhandlungen in der Ukraine. Übrigens, Experten glauben, dass es eine potenzielle Gefahr für die Ukraine kurz vor dem 26. Oktober gibt. Es kann ein Versuch sein, bei Euch die Parlamentswahlen zu vereiteln, denn Putin versteht: Die neue Rada wird weitaus radikaler sein, eher für den Maidan.
Quelle: Andrej Piontkowski im Interview mit gordonua.com; übersetzt von Irina Schlegel
- Unter folgendem Link finden Sie einen weiteren Artikel von Andrej Piontkowski, in dem er detaillierter über Putins Pläne spricht: „Andrej Piontkowski: Der Vierte Weltkrieg“
2 Responses to “Andrej Piontkowski: Putin spielt Atomwaffenpoker”
13/11/2014
Andrej Piontkowski- Das Triptychon des Willens - BurkoNews.info (Deutsch)BurkoNews.info (Deutsch)[…] Texte des Autors: A.Piontkowski “Putin spielt Atomwaffenpoker” und “Der Vierte […]
02/02/2017
Awdijiwka und die deutsche Berichterstattung: Über den Umgang mit der Ukraine in den deutschen Medien - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Das sagte Piontkowski 2014 in einem Interview über Putin, das wir bereits 2014 übersetzt hatten: […]