Der Soziologe Anton Oleynik über die Entstehung des Faschismus aus dem Widerspruch zwischen den formellen Institutionen und der alltäglichen Praxis.
Der russische politische Diskurs durchlebt derzeit eine Mode mit dem Begriff „Faschismus“ und seinen Ableitungen. Ohne die Erwähnung von Faschismus verläuft keine einzige Diskussion der radikalen Rechten. An ihn wird oft in Gesprächen über die Ukraine erinnert. Als ein unsichtbarer Verweis ist er in jedem St.-Georgs-Band, in jedem Autoaufkleber „Nach Berlin!“ vorhanden. Dabei wird oft die Quelle des Faschismus vergessen, die ihm erlauben könnte, gerade im heutigen Russland aufzublühen: Das ist die Unfähigkeit der formellen Institutionen den Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen.
Verstoßene Institutionen
Institutionen, schrieb Douglass North, bestimmen den gemeinsamen Rahmen der Interaktion von Menschen, also die Spielregeln („Institutions, Institutional Change and Economic Performance“). Das Spiel kann von uns als das „Eigene“ (dessen Regeln uns verständlich sind) oder aber als das „Fremde“ wahrgenommen werden, an dessen Beteiligung man gezwungen ist. Alles hängt vom Verhältnis zwischen den formellen Institutionen und der alltäglichen Praxis ab: Sind sie verwandt oder stehen sie im Widerspruch zueinander? Falls sie unverstanden bleiben, werden die formellen Institutionen früher oder später verstoßen. Niemand mag ein „fremdes“ Spiel spielen. Anscheinend findet im modernen Russland die Abstoßung von Regeln sowohl der Innenpolitik (Demokratie) als auch der Außenpolitik (internationale Verträge und Rechtsnormen) statt.
Die Prinzipien der Wählbarkeit und der Machtaufteilung, der Oberhoheit des Gesetzes sind von der alltäglichen Praxis und Lebenserfahrung der Russen losgelöst geblieben (siehe das Buch „Can Democracy Take Root in Post-Soviet Russia?“). Aber wo sollten die Russen eigentlich Demokratie erlernen? In den mit autoritären Elementen durchtränkten Familien, Schulen, Universitäten, auf der Arbeit oder bei den politischen Parteien? Die nichtkommerziellen Organisationen und freiwilligen Vereinigungen sind schwach. Daher die früheren Versuche, die Demokratie an die russischen Realitäten anzupassen („souveräne Demokratie“), und später gar der Verzicht auf sie zugunsten der gewohnten Machtzentralisierung auf allen Ebenen, von der Familie bis zum Kreml.
In der Außenpolitik ist die Abstoßung der formellen Institutionen mit der Nichtbereitschaft der Bevölkerung und Eliten verbunden, sich mit dem post-imperialistischen Status des Landes abzufinden. Unter diesen Bedingungen haben die Normen des internationalen Rechts, die für nicht-imperialistische Formationen geschrieben wurden, nicht geholfen, sondern begannen die Umsetzung der Außenpolitik zu verhindern. Und derartige Hindernisse werden entweder umgangen, oder aber es wird versucht, sie zu zerstören. Als Folge wurden die formellen Institutionen der Innen- und Außenpolitik verstoßen, angesichts ihrer Diskrepanz zu der üblichen Erfahrung und den Vorstellungen der Politiker und gewöhnlicher Bürger darüber, wie etwas „nach Recht und Billigkeit“ sein soll.
Die Ablehnung der Spielregeln führt entweder zum Abgang vom Feld (Verzicht auf das Spiel) oder aber zum Versuch, den anderen Spielern die eigenen Spielregeln aufzuzwingen. Mit dieser Alternative sind auch die Hauptrisiken der Situationsentwicklung in Russland verbunden. Allen, die sich anfangs mit den festgelegten Regeln einverstanden erklärt hatten (die Opposition innerhalb des Landes und seine direkten Nachbarn), wird nun faktisch angeboten, ein anderes Spiel zu beginnen. Daher auch die Wahrscheinlichkeit des Geschehens nach dem Weimarer Szenario, also die Auferzwingung von alternativen Spielregeln mithilfe von Gewalt.
Der Weimarer Schatten
Die Weimarer Republik existierte relativ kurz, von 1919 bis 1933. Sie wurde zu einer Alternative zum Projekt der sozialistischen Revolution westlich der russischen Grenzen. Nach erfolglosen Versuchen, Arbeiter-und-Bauern-Staaten in Europa zu erschaffen, wurde die Sozialdemokratie von Weimar als ein „vernünftiger Kompromiss“ zwischen Revolution und dem Erhalt des Status Quo betrachtet. Die Weimarer Republik war der erste Existenzversuch des vereinten Deutschlands. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns entstand auf der Karte Europas ein neues Imperium. Seine Existenz wurde durch den Machtantritt Hitlers beendet. Erhaben und schön begonnen, mit einer Blütezeit der Künste (Weimar wurde zur Heimat des Dadaismus) und der Medien (die erste Erfahrung mit Unterhaltungsradio) in Erinnerung geblieben, fand Weimar ein sehr schlechtes Ende – im Faschismus.
In Russland ist das Interesse an der Weimarer Periode wegen bestimmter Analogien zwischen der Weimarer Republik in Deutschland und dem postsowjetischen Russland sehr groß. Letzteres ist übrigens auch ein Produkt des Verzichts auf die revolutionäre Entwicklungsvariante (Ende 1980-Anfang 1990er war die Situation im Land revolutionär). Aber eine echte Revolution fand 1991 nicht statt. An Stelle des verschwundenen entstand allmählich ein anderes Imperium – das neurussische. Seine Ausmaße sind mit den sowjetischen unvergleichbar, aber das Prinzip ist gleich.
Als einer der ersten sprach Alexander Janow über die Gefahr eines Weimarer Szenarios in Russland (siehe „Nach Jelzin: „Das Weimarer Russland“, 1995): Die innere Schwäche des Imperiums, multipliziert mit der Schwäche der demokratischen Institutionen, erschien als eine Schlüsselkomponente der explosionsgefährlichen Mischung. In der Zeit der „fetten Nuller Jahren“ sind allerdings all die Gespräche über das Weimarer Szenario in Vergessenheit geraten. Das Imperium richtete sich auf. Die souveräne Demokratie fasste festen Fuß. Die Künste und der Sport blühten auf.
Gewaltsamer Spielwechsel
War Janow mit seiner Warnung zu voreilig? Ist sie nicht gerade jetzt, 20 Jahre später, mehr am Platz? Das postsowjetische Russland existiert bereits länger als die Weimarer Republik. Die für den faschistischen Umsturz günstige politische Situation kann innerhalb von ein paar Jahren zu Stande kommen – für die Herausbildung der wesentlich fundamentaleren Bedingungen der Entstehung des Faschismus braucht man dagegen Jahrzehnte.
Die Weimarer Republik entstand nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg aus Preußen. Die Bedingungen des Versailler Vertrages waren ungünstig für das Land, und dabei ging es ja eine Kapitulation in der Hoffnung auf „Gesichtswahrung“ ein.
Die Niederlage der UdSSR im Kalten Krieg spielt eine analoge Rolle in der Geschichte des modernen Russlands. Formell gab es gar keine Kapitulation, aber der Status einer Supermacht ist verloren gegangen. Die Einstellung der anderen Länder hat sich auch geändert: Kein Imperium mehr, sondern ein ganz normales Land.
Zur Enttäuschung über die Bedingungen der „Nachkriegswelt“ sollte man auch die Enttäuschung über die Demokratie hinzufügen. Wie im Weimarer Deutschland hat sie bei uns „nicht funktioniert“. In Deutschland assoziierte man mit der Demokratie die Inflation, das Karussell in der Regierung und die unerwarteten politischen Bündnisse (Sozialdemokraten und Konservative), in Russland all die Köstlichkeiten der „Wilden 1990er“.
Aufmerksame Beobachter des heutigen Russlands können der Aussage von Peter Sloterdijk über das Weimarer Deutschland zustimmen: „Überall paart sich ein bitteres Gefühl des Belogen-worden-Seins mit dem Gefühl, dass man alles von Anfang an neu machen muss.“ (siehe „Kritik des zynischen Verstands“).
Genau in dem Widerspruch zwischen den formellen Institutionen und der alltäglichen Praxis und der Vorstellungen sieht Sloterdijk die tiefste Wurzel des Faschismus. Unter solchen Bedingungen kann keine Macht mithilfe der in der Verfassung und internationalen Verträgen festgelegten Mittel etabliert werden. Denn diese formellen Institutionen wurden weder verstanden noch akzeptiert. Weder von der Regierung noch von der Bevölkerung. Der Faschismus, schreibt Sloterdijk, „verzichtet offen auf irgendwelche Bemühungen, sich selbst zu legitimieren, und proklamiert Grausamkeit und den „heiligen Egoismus“ als eine politische Notwendigkeit und ein historisch-biologisches Gesetz“. Der Nationalismus wird unter diesen Bedingungen zu einer Methode der Abstoßung von formellen Institutionen (Demokratie, internationale Verträge), die als fremd und von außen aufgedrängt wahrgenommen werden.
Der Faschismus als eine soziale Erscheinung bedeutet die Unfähigkeit, seine Interessen in der Beziehung zu anderen auf einem anderen Wege, als auf dem Weg der Gewalt durchzusetzen. Er verbreitet sich parallel zur Verleugnung der in der Innen- und Außenpolitik existierenden formellen Institutionen. Der Faschismus ist der Abbruch der Diskussion an der wichtigsten Stelle und die Überlassung des Schlusswortes dem „Kameraden Mauser“. Der Wetteinsatz auf Gewalt, auf die Russland in der Außenpolitik gesetzt hat, kam zunächst in der Zeit des Konflikts in Südossetien und nun in der Ukraine zum Vorschein. Russland erklärte seine Interessen und die Bereitschaft, diese mit Gewalt durchzusetzen, erst ganz zaghaft, indem es seine Erkennungszeichen auf der Soldatenuniform und Panzertechnik versteckte, und dann immer offener.
Der Wetteinsatz auf Gewalt in der Innenpolitik befindet sich noch im Versuchsstadium der verschämten Feigenblatt-Verdeckung der offensichtlichen Bereitschaft zu Repressionen. Im Falle des Anwachsens der gesellschaftlichen Unzufriedenheit – die unter Bedingungen der Wirtschaftskrise überaus wahrscheinlich ist – wird das Feigenblatt abgeworfen. Die Obrigkeit wird den Repressionsapparat (Polizei, Gerichte) offen einsetzen und sich grausam an jenen rächen, wie Sloterdijk schrieb, von denen sie genau weiß, dass sie sie niemals respektieren, aber immer bereit sein werden, „Legitimiere Dich, oder Du wirst gestürzt!“ zu schreien.
Wenn diese Hypothese stimmt, könnten die Ultrarechten den Faschismus auf ihren Schultern nach Russland bringen. Er kann auch durch die Vorgehensweise der gewöhnlichen Bürger wiederbelebt werden, sowie durch jene Machtvertreter, denen solche Stützen wie klare und als „eigene“ akzeptierte formelle Institutionen der Innen- und Außenpolitik verloren gegangen sind. Aus diesem Grund, wie auch im Weimarer Deutschland, hat das faschistische Projekt in Russland alle Chancen auf Unterstützung der Mehrheit. In seiner Bezeichnung wird das Wort „Faschismus“ wohl kaum erwähnt werden. Aber auch Hitler bezeichnete sich nicht als Faschist.
Quelle: Anton Oleynik in vedomosti.ru; übersetzt von Irina Schlegel.
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