
Heute möchten wir Ihnen einen Artikel von Jegor Timurowitsch Gaidar präsentieren, der in der russischen Onlinezeitschrift inosmi.ru am 12. Mai 2006 veröffentlicht wurde… Fast neun Jahre her.
Der heutige Kreml ist der Meinung, dass die Demokratie in Russland zu schnell aufgebaut wurde. Die Regierung sagt zwar nicht direkt, dass sie gegen die Demokratie ist, nur ist die Demokratie ihrer Meinung nach derzeit noch nicht zeitgemäß und muss auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Diese Logik offenbart sich durch die Mehrheit der Regierungsentscheidungen.
Also, das demokratische System der politischen Schranken und Gegengewichte der 90er Jahre wurde nach dem Beginn des neuen Zeitalters langsam demontiert. Bis 2000 existierten einflussreiche und unabhängige Medien und ein Parlament, und auch wenn sie loyal zum Präsidenten standen, waren sie trotzdem unabhängig. Der Föderationsrat stand im Großen und Ganzen auch loyal zum Präsidenten, so wie auch die Gouverneure der verschiedenen Gebiete, aber auch sie blieben unabhängig.
Es existierten auch einflussreiche Organisationen der Geschäftsleute, die in den Prozess der Beschlussfassung miteinbezogen waren. Als Folge des Verschwindens dieser politischen Schranken und Gegengewichte stürzte die Qualität der getroffenen politischen Regierungsentscheidungen in den Keller.
Das traurigerweise bekannte Gesetz über den Steuervergünstigungsabbau, das ja die verschiedenen Begünstigungen durch eine Entschädigungszahlung ersetzte, ist ein typisches Beispiel dafür. Abgesehen von dem fundamentalen Charakter so eines Schrittes, war das Gesetz sehr schlecht vorbereitet und auch schlecht ausgeführt, und die Regierung hat seine Einwirkung auf den staatlichen Haushalt ziemlich unterschätzt. Außerdem hat das Gesetz massenhafte soziale Proteste verursacht, welche die Regierung unbestrittenermaßen nicht vorausgesehen hatte.
In seiner aktuellen Formulierung wäre das Gesetz damals gar nicht durchgekommen, denn das damalige Parlament (der 1990er) hätte es aufmerksam durchgelesen und analysiert, hätte den Ministern einige Fragen gestellt und bei Bedarf hätte das Parlament darauf bestanden, einige Punkte des Gesetzentwurfs umzuschreiben. Sie hätten selbst verstanden, dass die vorgelegten Berechnungen in keinster Weise mit der Realität übereinstimmen. Und sie hätten darüber nachgedacht, was man noch tun könnte.
Wenn man im Land keine unabhängigen Medien mehr hat, die vor solchen Fehlern warnen könnten, oder kein Parlament, das dasselbe tun könnte, dann finden die Fehler ihren Ausdruck auf der Straße.
Die Demokratie wurde nicht von Dummen erfunden.
Die Erfahrung zeigt, dass der Topf, wenn man keinen Dampf aus ihm herauslässt, irgendwann explodieren wird. Und wenn wir Schritt für Schritt alles erdrücken, was noch von unabhängigen Medien übrig geblieben ist, wenn sogar die kleinen Fernsehsender, die eine unzensierte Information durchsickern lassen, uns gefährlich erscheinen, dann ist es offensichtlich, dass wir den Deckel auf dem Topf ziemlich fest zudrücken.
Ich würde sagen, es ist schlimmer, als ein Verbrechen. Es ist ein Fehler.
Als ein Mensch, der einen gewissen Bezug zur Politik hatte, verstehe ich die Strategie der heutigen Regierung: eine Außenbedrohung zu erschaffen, in erster Linie durch einen unsichtbaren Bund mit faschistischen Organisationen, um sich dann an die Bürger zu wenden und zu sagen: “Ihr könnt ja diese Bedrohung nicht selbst unter Kontrolle nehmen, darum überlasst es uns, wir werden das schon irgendwie regeln!”.
Und dann muss man diese Äußerung mit einem Weltbild stützen, das durch die Medien transportiert wird.
Ich verstehe die reale Bedrohung des Faschismus, aber ich verstehe auch, dass die Regierung es sich wünscht, dass wir bestimmte Schlussfolgerungen daraus ziehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir uns nicht erlauben dürfen, bei solchen Spielen mitzumachen, genau so wie wir nicht glauben sollten, dass die faschistischen Organisationen Russlands keinerlei Bezug zur Regierung haben.
Ich denke, wenn die Mächtigen solche Strategien entwickeln, nehmen sie an, dass das Resultat kontrollierbar sein wird. In Wirklichkeit ist dies nicht immer der Fall. Wenn Sie die Büchse der Pandora öffnen, kann keiner voraussagen, was passieren wird. Es ist äußerst riskant, eine gefährliche Situation zum Erreichen politischer Ziele zu erschaffen, denn oft passiert es eben, dass die Situation der Kontrolle entgleitet.
Es stimmt, die Gefahr des Faschismus ist real. Aber wenn die, die diese faschistische Alternative auf keinen Fall akzeptieren, politisch möglichst stark mobilisiert werden, wird diese Gefahr kleiner. Die wichtigste Frage hier ist nicht die Frage der Zukunftssicht der Regierung, also ihr Wunsch, Angst einzuflößen und das System der Gegengewichte mit ihrer eigenen Macht zu ersetzen.
Was wirklich wichtig ist, sind die Taten derer, die keinen Faschismus in Russland sehen wollen, die anstatt dessen etwas anderes wollen, nämlich, dass Russland frei wird. Solche Menschen gibt es genug in Russland – Dutzende Millionen, aber sie sind nicht immer politisch mobilisiert und vereint.
Die gute Nachricht hier ist die, dass es in Russland gar nicht so viele Menschen gibt, die ernsthaft ein faschistisches Regime in Russland begrüßen (was ja die Regierung zu erreichen versucht). Wir dürfen die Arme nicht fallen lassen, wir müssen alle politisch aktiv sein und uns vereinen. Am Ende war doch die Sowjetunion ein totalitärer Staat, der sich auf eine mächtige und allgegenwärtige Geheimpolizei gestützt hatte.
Und wir wissen ja nun alle, wozu es geführt hat.
Quelle: Jegor Gaidar in inosmi.ru; übersetzt von Irina Schlegel
5 Responses to “Jegor Gaidar: Die Verführung Russlands mit dem Faschismus (ein Artikel von 2006)”
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