Gestern starb in Kiew infolge einer Autoexplosion der Journalist Pawel Scheremet. Pawel Scheremet war ein Belarusse, der lange Zeit in Russland lebte und sich sehr kritisch über das kremlische Regime äußerte. 2014 ist er in die Ukraine geflüchtet und begründete seine Entscheidung damit, dass er „die russische Annexion der Krim und die Unterstützung von Separatisten im Osten der Ukraine für ein blutiges Abenteuer und einen fatalen Fehler der russischen Politik“ halte. In 2014 haben wir einen seiner Artikel übersetzt, in dem er darüber schrieb, wer genau in Russland den Krieg gegen die Ukraine bräuchte und wozu er entfesselt worden ist: „Pawel Scheremet: Wer genau in Russland braucht einen Krieg gegen die Ukraine“.
Wie erwartet, hat die russische Propaganda gleich in mehreren Sprachen angefangen, Scheremet einen „russischen Journalisten“ zu nennen, den „ukrainische Nationalisten“ wegen seines Artikels getötet hätten. Die Vertreterin des russischen Aussenministeirums Maria Sacharowa maßte sich gar an, Kiew als „Massengrab der Journalisten“ zu bezeichnen. Diese Worte kamen aus einem Land, in dem in den 16 Jahren des Putin-Regimes etwa 137 Journalisten getötet wurden, manche wie Anna Politkowskaja gar direkt an Putins Geburtstag, und kein einziger von diesen Morden je aufgedeckt wie auch kein Mörder dafür verurteilt wurde. Das braucht wohl keinen weiteren Kommentar.
Die Dreistigkeit, Pawel Scheremet als einen russischen Journalisten zu bezeichnen, ist für den russischen imperialistischen Chauvinismus, der so ein Volk wie Belarussen gar nicht erst anerkennt, sehr typisch. Jahrzehnte lang erklärte die sowjetische Propaganda den ukrainischen Befreiungskampf für „ukrainischen Nationalismus“ und selbst nach dem Zerfall der Sowjetunion übernahm Russland diese Rhetorik und nennt nun jemanden, der von Anfang an für den ukrainischen Maidan war, seit Jahren mit einer Ukrainerin liiert ist, aus Russland wegen seiner politischen Überzeugung flüchtete und in zahlreichen Interviews betonte glücklich in Kiew zu leben, – „ein Opfer der ukrainischen Nationalisten“. Da kaum jemand sich die Mühe macht, diesen letzten Artikel von Scheremet durchzulesen, möchten wir Ihnen heute die Übersetzung davon zur Verfügung stellen. Das war sein letzter Eintrag bei „Ukrainska Pravda“.
Pawel Scheremet: Asow, Verantwortungsbewusstsein und die Freiwilligenbataillone
Der missglückte türkische Putsch hat die ukrainische Gemeinschaft der Politanalytiker aufgewühlt und für ein paar Tage die Ängste und Gespräche über einen Putsch in der Ukraine aktualisiert.
Die einen malen das Schreckgespenst eines unvermeidlichen und blutigen Putsches an die Wand, die anderen beschwichtigen: Es gibt doch niemanden, der zum Meutern fähig ist.
Ich beabsichtige nichts vorauszusagen, ich möchte nur auf zwei beispielhafte Geschichten der letzten Tage aufmerksam machen.
Ich schreibe all das am frühen Sonntagmorgen, gerade in diesem Moment wird der Vorsitzende des Beobachtungsrats von „Odessa Hafenbetrieb“ und erster stellvertretender Leiter des Energiekonzern „Naftogas“ Sergei Perelom aus der Untersuchungshaft entlassen. Ihm folgt der zweite große Fisch – der erste stellvertretende Vorsitzende von „Odessa Hafenbetrieb“ Nikolai Schtschurikow. Somit entgehen sie beide der gerichtlichen Verantwortung.
Und dieser Verantwortung entgehen sie nicht aus dem Grund, dass die Ermittler des Antikorruptionsbüros oder die Antikorruptions-Staatsanwälte schlecht gearbeitet hätten. Nur haben irgendwelche Bataillonskommandeur-Abgeordnete und irgendwelche anderen Menschen in Camouflage wie am Freitag so auch am Samstag die Arbeit des Gerichts blockiert und eine Atmosphäre des Irrsinns um diese zwei Verfahren erschaffen.
Warum Bataillonskommandeure, woher die Menschen in Camouflage? Perelom und Schtschurikow sind wegen Unterschlagung verhaftet worden, nicht wegen irgendwelcher Delikte in der ATO-Zone. Aber die Bataillonskommandeur-Abgeordneten und die Menschen in Camouflage sind nun wenn nicht wichtiger als das Gesetz, so sind sie dazu fähig, auf einen Auftrag hin die Wirkung eines jeden Gesetzes zu paralysieren.
Wobei hier hauptsächlich ein und dieselben Personen agieren, die immer größeren Hass der Bevölkerung gegen die Menschen in Camouflage erwecken und den Groll gegen alle Freiwillige beim Präsidenten Poroschenko und den Leitern von Rechtsschutzbehörden stimulieren.
Die zweite Geschichte. Am Freitag führten SBU-Spezialkräfte eine Operation zur Festnahme einer Bande durch, die die Banken in Saporischschja überfiel. Sie wurden mit einem Geldtransporter in den Wald gelockt und dort wurde versucht, sie zu entwaffnen. Zwei der Täter wurden dabei getötet: Einer war ein Staatsbürger Lettlands (er wurde durch einen Scharfschützen getötet beim Versuch auf die Inkasso-Mitarbeiter zu schießen) und der andere war ein Staatsbürger Russlands (schwerverletzt ist er am Samstag im Krankenhaus gestorben), 2 Verletzte wurden verhaftet, 2 sind geflüchtet. Einer von ihnen ist ein Kämpfer des „Asow“-Regiments.
All diese Menschen nahmen faktisch seit den ersten Monaten des Krieges an den Kämpfen im Donbass teil. Sie waren gut vorbereitet, machten Ausflüge in das Hinterland des Gegners, an mehreren Tagen in Folge. Während der Waffenruhe oder des Schützengrabenkrieges fanden sie aber keinen Platz für sich, waren bei verschiedenen Truppenverbänden und sind schließlich im Kriminalmilieu gelandet.
Das Schlüsselwort in dieser Geschichte ist „Asow“. Der getötete lettische Bürger wie auch der Russe waren einst bei „Asow“ und galten als gute Kämpfer. Ein weiterer Angreifer diente im Regiment bis zum letzten Tag.
Die Hitzköpfe aus den oberen Führungsetagen riefen dazu auf, nach Ursuf Spezialkräfte zu entsenden und die „Asow“-Basen auf der Suche nach Beweismitteln zu stürmen. In Kiew auf dem Flugplatz standen schon zwei Flugzeuge startklar.
Der Ex-Bataillonskommandeur von „Asow“ Andrei Bilezkij flog in der Nacht dringlich zum Stationierungsort der Einheit, um keine Provokationen vor Ort zuzulassen und seine eigenen Hitzköpfe zu beruhigen.
Wissende Menschen verstanden ausgezeichnet, dass die Erstürmung der „Asow“-Basis eine Torheit ist. Nüchterne Menschen wussten, dass das Regiment jeden juristischen Grund hat, keine Ermittler, nicht mal aus der Militärstaatsanwaltschaft, zu sich hineinzulassen. Wir erinnern uns doch, wie lange die Militärstaatsanwälte den kleinen Trupp „Tornado“ nicht unter Kontrolle bekamen. Im Vergleich dazu ist „Asow“ eine Kampfdivision.
Der Innenminister Arsen Avakov war zu dem Zeitpunkt nicht mehr in Kiew – er war im Urlaub.
Eines muss man aber dem SBU-Leiter Wasily Grizak und dem Abgeordneten und Ex-Kommandeur von „Asow“ Andrei Bilezkij lassen: Der eine hatte genug Verstand und Selbstbeherrschung, um die Situation nicht bis zur blutigen Absurdität zu treiben, der zweite hatte genug Vernunft, einen Kampfgefährten von einem Verbrecher zu trennen.
Der SBU setzt „Asow“ an der Front öfters als Sturmgruppen ein, womöglich haben sie auch deshalb in dieser skandalösen Situation zum Konsens kommen können.
Die Ermittler wurden in Ruhe in die Basis hineingelassen, damit sie ihrer Arbeit nachgehen können. Die SBU-Leitung hat sich überraschend fachkundig verhalten, sogar besser als das Kommando der Nationalgarde. Ohne Hysterie, unnötige Situationsverschärfung und Spekulationen zum Thema der Freiwilligenbataillone.
Hätte Bilezkij nur einen Schlachtruf ausgegeben, hätte sich in Kiew gleich eine Menge von jungen Menschen versammelt, die die Feinde der Ukraine, FSB-Agenten und Oligarchen, auseinander gerissen hätte. Alle hätten von Srada (ukr. „Verrat“) gesprochen, vom dritten Maidan, von Innentruppen, die der Kriminalität im Donbass gegen Entlohnung einen Schutz bieten und die echten Patrioten bedrängen. Aber er handelte wie ein verantwortungsvoller Mensch und Kommandeur.
„Unsere Kampfgefährten lassen wir nicht zurück, selbst Tote auf dem Schlachtfeld. Aber wenn ein Kämpfer die rote Linie überquert hat, die den Krieg und die Heimatverteidigung von einer kriminellen Straftat trennt, wird er das nach aller Strenge des Gesetzes verantworten müssen. Schwarze Schafe gibt es überall. Natürlich, wenn der Mensch nur einmal ausrutscht und sonst ein Held ist, der sein Blut für die Ukraine vergoss, werden wir um Nachsicht für ihn bitten. Wir sind aber keine Barbaren und verteidigen uns nicht um jeden Preis – wir verteidigen unsere Heimat,“- erklärte Bilezkij.
„Wir sind keine Barbaren,“- das sind die Schlüsselworte. Ich kann mir vorstellen, wie schwer Bilezkij diese Entscheidung gefallen ist, denn sie geht entgegen dem existierenden Trend, bei dem der Mensch in Camouflage, um so mehr aus der ATO-Zone, immer Recht hat und ihm selbst das Meer nur bis zum Knie reicht.
Und dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, dass, wenn zwei vernünftige Menschen aus verschiedenen Sicherheitsstrukturen wie dem SBU und „Asow“ zu einem Konsens kommen, keinerlei schrecklichen Dummheiten begangen werden.
Andrei Bilezkij muss natürlich sehr aufmerksam beobachtet werden. Er macht in den letzten zwei Jahren große Fortschritte und entwickelt sich, wenn auch seine radikale und nationalistische Jugend hier und da von sich reden macht. Wir sind aber dennoch im Stande einen irrenden aber verantwortungsvollen Patrioten von einem Gauner und Konjunktur-Anhänger zu unterscheiden.
Man muss sich an solchen Freiwilligen wie „Asow“ von Bilezkij und „Friedensstifter“ von Teteruk orientieren, und nicht an den komischen Menschen in Camouflage, die in diesen Minuten die Arbeit der Antikorruptions-Staatsanwälte am Solomenski Bezirksgericht in Kiew blockieren. (Autor: Pawel Scheremet in seinem Blog bei Ukrainska Pravda)
Meiner Meinung nach ist dieser Artikel von Scheremet ein Versuch, die Fronten zu glätten und einen Konsens zu finden, zwischen der Regierung, die seit zwei Jahren die ukrainische Gesellschaft durch unzureichende Reformen enttäuscht, und den ukrainischen Patrioten, die monatelang an der Front waren und deshalb besonders scharf auf Menschen des alten Systems reagieren, die noch immer auf ihren Posten sitzen oder der gerichtlichen Verantwortung immer wieder entkommen. Mir ist auch bekannt, dass die Soldaten des „Asow“-Regiments sich sehr wohlwollend über diesen Artikel äußerten und Pawel Scheremet dankten.
Man wünscht sich, dass die Menschen endlich lernen, gerade in unserer Zeit des Informationskrieges, den Russland seit über zwei Jahren gegen seine Nachbarn und die westliche Welt führt, die Informationen sorgfältig zu lesen und nichts aus dem Kontext zu reißen.
Dieses Material wurde von Irina Schlegel für InformNapalm vorbereitet. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
One Response to “Letzter Eintrag von Pawel Scheremet vs. russische Propaganda”
02/12/2016
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