Am 28. September 2016 wird die holländische Seite einen weiteren MH17-Bericht vorstellen und am Vorabend dieses Ereignisses diskutieren alle über das unerwartete Auftauchen von neuen Angaben, die von der russischen Seite präsentiert worden sind.
Was uns während des russischen Briefings mitgeteilt wurde
Am 26. September 2016 wurden auf dem Briefing des russischen Verteidigungsministeriums Angaben des Flugüberwachungskomplex „Utes-T“ präsentiert, der sich im Rostower Gebiet Russlands befindet, unweit des Dorfes Ust-Donezky.
Der Hersteller dieses Funkmesskomplexes ist das Liasonowski Elektromechanische Werk (LEMS), das zum Konzern „Almas-Antei“ gehört. Nach Angaben des Entwicklers waren diese Radardaten Ende Juli 2014 im Lauf von geplanten Servicearbeiten zum Austausch von Datenträgern der Hauptprozessoren durch Experten abgenommen worden. Die Datenträger beinhalteten Information über die Lage am Himmel am 17. Juli 2014, als die Boeing MH17 abgeschossen wurde (Mitteilung).
Der ganze Briefing wurde von den wichtigsten russischen Propagandaquellen live ausgestrahlt:
Zunächst nahm der stellvertretende Chefkonstrukteur von LEMS Viktor Mescherjakow das Wort. Von ihm haben wir erfahren, dass der Komplex „Utes-T“ die Flugsicherheit von zivilen Flugzeugen gewährleistet. Der Komplex besteht aus 3 Radareinrichtungen: Einem Radar mit bis zu 360 km, einem bis zu 400 km Reichweite und einem System für Freund-Feind-Erkennung. Die Informationen werden alle 10 Sekunden aktualisiert.
Das erste Radar erfasst das Signal, das von einem Flugobjekt reflektiert wird (Primärradar bzw. Primärdaten).
Anm.d.Red.: In der Praxis bedeutet es, dass dieses Radar z.B. eine Antonow An-2, eine Drohne oder auch eine Rakete erfasst, die auf ein Flugzeug abgeschossen wurde. Je größer das Ziel und je besser das Signal reflektiert wird, um so besser ist es zu erfassen. Man muss auch Wetterbedingungen und die Geschwindigkeit des Objekts berücksichtigen.
Das Sekundärradar bearbeitet das Signal nach dem „Frage-Antwort“-Schema und erfasst die Information bzw. „Antwort“, die der Bordtransponder des Luftfahrzeugs generiert (Sekundärsignal bzw. Sekundärdaten).
Anm.d.Red.: Alle zivilen Luftfahrzeuge sind mit Transpondern ausgerüstet, weshalb man diese selbst im Internet mithilfe von Onlinediensten wie Flightradar24 und anderen beobachten kann.
„Utes-T“ verarbeitet sowohl Primär- als auch Sekundärsignale und erstellt die Flugbahn eines Objekts.
Der Flug MH17 war um 13:04:26 Uhr zunächst durch das Sekundärradar auf einer Entfernung von 404 Kilometern entdeckt worden, danach durch das Primärradar bei 362 km Entfernung um 13:07:20 Uhr.
Das letzte Mal erfasst das Radar das Flugzeug in unversehrtem Zustand um 13:20:02 Uhr bei einer Entfernung von 172 Kilometern zu Ust-Donezky.
Zurück zum Briefing: Als nächster kam der Leiter der funktechnischen Truppen der russischen Streitkräfte Generalmajor Andrei Koban zu Wort, der die Ausgangsdaten des Fluges vorlas und nochmal wiederholte, ab welchem Punkt das Flugzeug für das russische Radar zu sehen war.
Zu gleichem Zeitpunkt hatte das Radar „Utes-T“ eine Drohne „Orlan-10“ an der russisch-ukrainischen Grenze geortet. Die Rakete des „Buk“-Systems ist dabei wesentlich größer als diese Drohne und müsste theoretisch auf dem Radar zu sehen gewesen sein – das Radar hatte sie aber „nicht gesehen“.
Und hier beginnt das Interessanteste. Wortwörtliche Rede des Generalmajors Koban:
„Dabei kann man mit Sicherheit behaupten, dass in der Zeit, die dem Absturz der „Boeing“ voranging, keine Annäherung von Luftfahrzeugen von der östlichen Seite ermittelt werden konnte, darunter auch nicht von der Ortschaft Snischne. Ich betone: Wenn die malaysische Boeing durch eine Rakete abgeschossen worden wäre, die aus einer beliebigen Gegend östlich von der Katastrophenstelle gestartet wurde, so wäre sie durch das Primärradar entdeckt worden.
Man sollte anmerken, dass technische Möglichkeiten der russischen Kontrollmittel keine Schlussfolgerung darüber zu ziehen erlauben, ob die Rakete vom Territorium südlicher oder westlicher von der Katastrophenstelle aus gestartet worden war“ (Im Video bei 14:30-15:15).
Weiter werden die ukrainische und amerikanische Seite beschuldigt, keine Satellitenbilder an die Ermittler übergeben zu haben. Mehr noch, ohne jegliche Beweise oder Bilder wird uns mitgeteilt, an jenem Tag hätten die russischen funktechnischen Aufklärungsmittel im Raum der Absturzstelle ukrainische Radare entdeckt, die dort aktiv gewesen sein sollen. Wenn der erste Teil des Briefings wenigstens noch von formellen Beweisen begleitet wurde, so wurde später nur noch mit Infos ohne jegliche Bestätigung operiert.
Vorhang zu.
Und nun zu den Fragen
Es läuft darauf hinaus, dass das russische Radar „Utes-T“ die MH17 erstmals auf einer Entfernung von 400 Kilometern von Ust-Donezky geortet hat. Ist das viel oder wenig? Hier die lineare Entfernung von Ust-Donezky zu den anderen Ortschaften (Die Datenauswertung kann man hier machen):
Ust-Donezky – Snischne: 162 km;
Ust-Donezky — Tores: 173 km;
Ust-Donezky —Horliwka: 224 km;
Ust-Donezky — Donezk: 237 km;
Ust-Donezky — Torezk (ehem. Dserschynsk): 240 km;
Ust-Donezky — Kramatorsk: 272 km;
Ust-Donezky —Slowjansk: 276 km (alles Donezker Gebiet)
und als Beispiel:
Ust-Donezky — Pawlograd (Dnipro-Gebiet): 382 km;
Ust-Donezky — Saporischschja: 429 km;
Ust-Donezky — Dnipro (ehem. Dnipropetrowsk): 446 km.
Somit kann das russische Radar das komplette Territorium des Donezker Gebiets erfassen, und sogar einen Teil des Dnipro-Gebiets. Wenn man sich die Route der MH17 anschaut, so tauchte die Boeing noch im Dnipro-Gebiet auf dem russischen Radar „Utes-T“ auf, etwas oberhalb von Pawlograd (nutzen wir die interaktive Karte unserer Kollegen von Correctiv).
Ab diesem Punkt verfolgt das russische Radar den Flug über 200 Kilometer bis zur Stadt Tores – das sind 173 Kilometer von Ust-Donezky. Wenn man sich die Karte der ukrainischen Stellungen per 17. Juli 2014 anschaut, so sehen wir, dass der Wirkungsbereich des Radars das gesamte Territorium umfasst, das unter „DVR“-Kontrolle war (Donezk, Horliwka – 220-240 km), die Demarkationslinie (Torezk, Artemiwsk – 240 km) und das tiefe Hinterland der ukrainischen Armee (Slowjansk, Kramatorsk – 270-280 km).
Das Geschehen in diesem Gebiet ist dynamisch hier dargestellt:
Wir sollten uns an der Stelle nochmal an die Aussage des Generalmajors Koban erinnern: „… eine Annäherung von irgendwelchen Luftobjekten an das Flugzeug von der östlichen Seite, darunter auch von Snischne, konnte nicht ermittelt werden… Technische Möglichkeiten… erlauben keine Schlussfolgerung darüber zu ziehen, ob die Rakete vom Territorium aus gestartet wurde, das südlicher oder westlicher von der Katastrophenstelle liegt“.
Also verfolgt das Radar das Flugzeug vom Dnipro-Gebiet (400 Km) bis einschließlich Snischne (162 km) und kontrolliert alles. Dabei erlauben seine Daten das Faktum des „Buk“-Raketenstarts östlicher von Snischne (lies: Gebiet der „DVR“) abzustreiten, diesen Raketenstart aber westlicher oder südlicher (lies: Gebiet ukrainischer Streitkräfte) zu registrieren ist das Radar aber nicht im Stande?
Rufen wir uns auch ins Gedächtnis, wie zerrissen damals die Frontlinie war: +/- 10 Kilometer – und schon sind wir im Hinterland der „DVR“ oder der ukrainischen Streitkräfte. Das russische Radar „sieht“ aber komischerweise nur das Territorium, das der „DVR“ untersteht.
Aber einen Raketenstart vom ukrainisch-kontrolliertem Territorium aus kann es nicht detektieren? Wie kann das sein?
Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Aktualisierungsintervall der Daten des Radars „Utes-T“. Das sind die vom Entwickler angegebenen 10 Sekunden. Berücksichtigen wir auch, dass „Buk“/“Buk-M1“ Ziele auf eine Entfernung von 30 bis 35 km treffen kann, wobei die Geschwindigkeit der Basisrakete 9M38 2880 km/h (0,8 km/s) beträgt. Ausgehend davon kann es tatsächlich passieren, dass es dem „Utes-T“ nicht gelingt, den Raketenanflug zu registrieren: Die ersten 10 Sekunden werden zur Entdeckung eines neuen Objekts benötigt, weitere 10 Sekunden – zum Erstellen der Flugbahn. Innerhalb von 20 Sekunden wird das Flugzeug aber schon getroffen worden sein. Schlussendlich könnte die „Buk“-Rakete schlimmstenfalls durch den Erfassungsbereich des Radars nur einmal als ein Punkt ohne Flugbahn huschen.
Man sollte auch wissen, ab welcher Höhe das zivile Radar „Utes-T“ überhaupt eine fliegende Rakete erkennen kann, wie deren Flugbahn dabei war (Steigflug und dann Sturzflug auf die Boeing zu oder aber auf direktem Abfangkurs mit allmählichem Steigflug) und wo die genaue Startposition relativ zum Flugobjekt lag.
Im Briefing weist der Entwickler selbst auf die Einschränkungen seines Systems hin: „Das Primärradar kann bei Präsenz einer Wolkenschicht im Flugraum des Objekts letzteres verpassen, falls die Flugbahn des Objekts derart ist, dass sich der Abstand zwischen ihm und dem Radar nur sehr langsam ändert…“ (Video 2:38-2:59).
Also wird ein Objekt, das gerade an Höhe gewinnt und sich vom Radar nicht all zu weit entfernt, für das Radar unsichtbar sein. Entsprechend den mutmaßlichen Fotos des Raketenstarts gab es gerade an dem Tag Wolken, beim Start gewann die Rakete zuerst rapide an Höhe und war für „Utes-T“ die ersten Sekunden nicht zu sehen. Danach konnte die Rakete im Zeitraum der Datenaktualisierung ihre Flugbahn einnehmen und die MH17 treffen. „Utes-T“ hätte die Rakete nicht mal als einen Punkt wiedergeben können…
Auch möchten wir anmerken, dass wir keine vollständigen Arbeitsergebnisse des „Utes-T“ sehen, sondern nur seine summarische, gefilterte Resultate. Lassen wir nochmal den Entwickler zu Wort kommen: „Vielleicht haben Sie grüne Punkte gesehen, zu denen es keine Flugbahn gibt. Diese Punkte sind Wetterartefakte. Sie werden dem Nutzer nicht angezeigt – dem Nutzer werden nur solche Punkte angezeigt, mit Hilfe derer eine Flugbahn erstellt worden ist.“ (Im Video 6:08-6:38)
Fürs Erstellen der Flugbahn werden 2 Datenaktualisierungen benötigt, was bei der Geschwindigkeit von Buk-Raketen und der Entfernung vom Ziel nicht immer möglich ist. Somit ist uns im Briefing nicht die komplette Information bereitgestellt worden, sondern nur die für den Endnutzer (z.B. Fluglotse) gefilterten Daten: Das Radar analysiert alle Daten, dann werden sie gefiltert und alles Überflüssige wird aussortiert. Für die Ermittlung wäre es aber interessant, sich die Ausgangsdaten anzuschauen, noch vor der Filterung, und zu versuchen, den Raketenstart abzufangen, ausgehend von der mutmaßlichen Startposition, der Raketenflugbahn und anderen Eingangsdaten.
Warum wurde zwei Jahre lang geschwiegen?
Und nun zur nächsten unangenehmen Frage für die russische Seite. Im Bericht der holländischen Staatsanwaltschaft vom Oktober 2015 im Kapitel «2.9.5. Air traffic services surveillance data» ist eine Tabelle mit Angaben angeführt, die die russische und die ukrainische Seite bereitgestellt hatten:
Die Ukraine hatte einen Teil ihres Territoriums nicht kontrollieren können, da ein Teil der Flugüberwachungstechnik von „UkrAeroRuh“ sich auf besetztem Gebiet befand. Darum arbeiteten die ukrainischen Fluglotsen mit Daten des Sekundärradars, die es ihnen erlaubten, Passierflugzeuge durch die ATO-Zone durchzuführen. All diese Daten (Sekundärdaten: Rohdaten und die Bildschirmaufzeichnungen) waren von der ukrainischen Seite an die holländische Staatsanwaltschaft wie gewünscht übergeben worden.
Russland aber, im Unterschied zur Ukraine, hatte der Untersuchungskommission nur die Aufzeichnungen von Radarbildschirmen zur Verfügung gestellt, aber keine Rohdaten von Primär- und/oder Sekundärradar. An der Stelle sollten wir uns daran erinnern, dass die Bildschirmaufzeichnungen ein Resultat der Anwendung von Filtern sind. Interessanter wäre es, gerade die Rohdaten zu untersuchen – diese haben die Russen aber … nicht gespeichert.
Nach Forderung der ICAO sind die Länder verpflichtet, solche Daten für 30 Tage, bei jeglichen Zwischenfällen auch für längere Zeit abzuspeichern. Die Föderale Agentur der Luftfahrt Russlands hatte aber die benötigte Information nicht bereitgestellt: Die Katastrophe habe außerhalb der Staatsgrenzen Russlands stattgefunden, darum sei die russische Seite nicht verpflichtet diese Information aufzubewahren.
Am Ende ergibt sich, dass Russland vor einem Jahr offiziell erklärte, dass diese Daten nicht gespeichert worden seien – es gäbe sie schlicht und einfach nicht. Und zwei Jahre nach der Katastrophe sind die Aufzeichnungen doch noch gefunden worden. Und wie kann man denn nun ihre Echtheit prüfen? Hatten sie damals gelogen oder lügen sie jetzt?
Dieses Material wurde von Anton Pawluschko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf die Autoren und unser Projekt erforderlich.
(CC BY)
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