
von Sergei Kowalew, einem russischen Bürgerrechtler, Teilnehmer der bürgerrechtlichen Bewegung in der UdSSR.
Ich erlaube mir ein paar Anmerkungen über den heutigen politischen Kurs des Westens zu machen, bei dem sich seine Stärke und seine Schwäche in Eins verschmolzen sind – wenn man so möchte – sein Stolz und seine Vorurteile.
Die Geschichte meines Landes, der UdSSR, strotzt vor grausamen, rechtswidrigen Massenrepressionen; der Beteiligung an der Entwicklung des internationalen politischen Terrorismus, an der Erschaffung neuer totalitärer Regime; vor Fakten der Aggression; vor anderen groben Verletzungen fundamentaler Prinzipien des Rechts. Das heutige Russland ist zu diesen Traditionen zurückgekehrt.
Der Westen hat eine feste Position des Widerstands russischer Expansion gegenüber eingenommen. Das gibt Hoffnung – und dies auch bezüglich der heftigsten globalen Probleme.
Es gibt allerdings auch Befürchtungen. Über diese möchte ich auch sprechen.
Gründe für diese Befürchtungen sind die breit im Westen verbreiteten mythologischen Stempel. Sie werden sehr effektiv von den Schwindlern aus Spezialabteilungen des FSB am Leben gehalten.
Einer der wichtigsten Mythen ist: die UdSSR hat die Welt vom Faschismus befreit. Das ist nicht wahr. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts haben Russland, UdSSR, Russische Föderation niemanden befreit. Sie haben nur versklavt, inklusive der eigenen Bevölkerung.
Der Zar-Befreier (man nennt ihn so in Russland) – Alexander der Zweite, der 1861 die Leibeigenschaft abgeschafft hat, wurde von Terroristen getötet, die sich dreist „Der Volkswille“ nannten.
Ja, die hitlerische Armee wurde im sowjetischen Blut ertrunken und mit sowjetischen Leichen zugeschüttet. Ja, Europa und die USA haben weniger getan, als sie hätten tun können und eigentlich auch mussten. Aber das ist eine andere Frage. Die entscheidende Beteiligung an einem militärischen Sieg ist mit einer Befreiungsmission ganz und gar nicht identisch. Die Einwohner des Osteuropas und Deutschlands, die zwei Tyrannen überstanden haben, sollten es sehr gut verstehen.
Es existiert auch eine andere sehr gefährliche Sichtweise: dass das russische Barbarentum eine ausschliesslich russische innere Angelegenheit ist. So ist das nicht. In der heutigen engen, gegenseitig abhängigen Welt wurden alle ernsthaften Probleme zu globalen – sie betreffen alle. Die russischen (und nicht nur russischen) totalitären Tendenzen sind für die ganze Welt katastrophal und folgenschwer. Was man mit dieser Herausforderung nun macht, weiss meiner Meinung nach niemand. Aber sehr viele verstehen ausgezeichnet, dass diese nicht wahrzunehmen beschämend und gefährlich ist.
Gut, wir wissen nicht, was zu tun ist, damit universelle Werte zu einem Instrument werden und nicht nur ein Slogan bleiben. Aber wir sind verpflichtet zumindest zu wissen, was man nicht tun darf. Man darf mit einem Aggressor nicht nachsichtig sein, man darf für die eigene Sicherheit, erst recht nicht für Gas, mit fremden Leben und Schicksalen bezahlen. Die amoralische Gleichgültigkeit des politischen Pragmatismus ist das schändliche Erbe des Münchener Pakts und der Jalta-Konferenz. Man sollte dieses Erbe längst überwunden haben.
Leider macht das Defizit des politischen Willens alle gute Bestrebungen des Westens ungültig. Die russische Expansion am Kaukasus offenbarte grelle Beispiele für westliche „Vergesslichkeit“. Jede Etappe dieser Expansion rief aufrichtige Empörung des Westens hervor. Es waren sowohl grausame ethnische Säuberungen Anfang der 1990er in Abchasien, die von russischen „Friedensstiftern“ provoziert wurden, als auch der Blitzkrieg 2008, der mit der Erschaffung russischer Satelliten auf dem Territorium Georgiens beendet wurde. Aber die Empörung zog keine spürbare Aktivität zur Verteidigung des Rechts und der humanitären Werte nach sich, und war sehr schnell erlöscht.
In derselben Reihe steht auch das langjährige resultatlose Getummel des Europa-Rats um die russischen Exzesse und Willkür in Tschetschenien.
Nun ist die Ukraine an der Reihe.
Sieht aus, als ob auch die Krim-Annexion von der Weltöffentlichkeit bereits fast vergessen wurde. Europäische Politiker haben die Ausführung etlicher wichtiger Punkte des Abkommens mit der Ukraine hinausgeschoben, und das Europaparlament hat zu seiner Zeit diese Entscheidung nicht angefochten. Man sagt, sie würde der Ukraine keinen wirtschaftlichen Schaden bringen und Russland – keinerlei wirtschaftliche Vorteile. Aber Russland sucht diese auch gar nicht, es lässt die Ukraine einfach nicht nach Europa. Russland wird diesen Aufschub auf anderthalb Jahre als ein Zugeständnis interpretieren und ausnutzen. Und die Industrie der verwüsteten Ukraine wird in dieser Zeit nicht wieder konkurrenzfähig werden.
Zu seiner Zeit hat sich der Westen eingebildet, dass der Kalte Krieg mit dem Niederreissen der Berliner Mauer beendet wurde. So ist das nicht. Russland hat nur eine Atempause genommen. Versuchen Sie sich mal das Nachkriegsdeutschland vorzustellen, das die Gestapo in Unversehrtheit beibehalten hat. Oder einen Oberstleutnant der „Stasi“ auf dem Posten des Bundeskanzlers Deutschlands. Genau das ist Russland, mit dem Sie Partnerschaft und gegenseitige Verständigung suchen. Man kann es nur zwingen, ein ehrliches Spiel zu spielen, es davon überzeugen kann man dagegen nicht (Ich möchte hier anmerken, dass die „Nötigung zum Frieden“ ein von der UNO akzeptierter Begriff ist).
Viele waren zu Zugeständnissen bereit und behaupteten, dass eine Ratte, die in die Ecke gedrängt wurde, gefährlich sei. Das stimmt. Aber denkt daran: eine Ratte, auch wenn sie in der Ecke ist, die in Ruhe gelassen wurde, bleibt noch immer ein starkes natürliches Reservoir der Pest. Und diese Pest ist bald Hundert Jahre alt. Diese Pest vernichtete jahrelang Menschen und hat Millionen vernichtet. Die Auswahl ist nicht sonderlich gross: der Kampf gegen die Pest oder, mit Puschkins Worten: „Das Fest zu Zeiten der Pest“.
Vor fünf Jahren ehrte das Europäische Parlament mich und meine Kollegen mit dem Titel der Sacharow-Preisträger und ich möchte, dass diese Notiz zu einer Art offenen Briefes an den Westen wird. Ich habe Andrei Sacharow gut gekannt. Ich bin sicher, dass er auch heute noch die zivilisierte Welt dazu aufgerufen hätte, sich der Willkür entschiedener und folgerichtiger zu widersetzen. Ich werde mich nicht anmaßen, hier konkrete Schritte zur Unterstützung von Opfern der russischen Expansion auszudiskutieren. Als historische Beispiele langer und erfolgreicher Bemühungen zum Schutz der Demokratie möchte ich nur auf Lend-Lease Act und Marschall-Plan hinweisen.
Heute erfordert die Konfrontation mit dem „Imperium des Bösen“ die Höchstspannung der Kräfte, denn übermorgen kann sie bereits hoffnungslos werden.
Quelle: Sergei Kowalew; übersetzt von Irina Schlegel.
One Response to “Stolz und Vorurteile: Ein offener Brief an den Westen.”
07/11/2015
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