
Als wir die Informationen rund um russische Manöver „Sapad-2017“ in Belarus analysierten, haben wir das Erscheinen von einigen seltsamen Artikeln vermerkt, in denen versucht wird, die eventuelle Gefahr und das Ausmaß russischer Manöver an der Grenze zur EU zu minimieren.
„InformNapalms Zug“
Am 14. August erschien in der Zeitung Business Insider der Artikel «Here’s what we know about the reported 100,000 Russian troops going to NATO’s borders».
Im Artikel wird die Gesamtanzahl russischer Truppen bei den „Sapad-2017“-Manövern auseinandergenommen. Einige Experten werden befragt, die zu dem Schluss kommen, dass die Anzahl der Soldaten übertrieben sei und keine Panik wegen weiteren russischen Manövern veranstaltet werden sollte. Es wird der Analytiker Dmitry Gorenburg und sein Artikel in The National Interest zitiert, in dem im Gegenteil auf die eventuelle Verringerung der Anzahl von Militärangehörigen im Vergleich zu den letzten Jahren hingewiesen wird. Dabei wird behauptet, dass alles von den Berechnungsmethoden abhänge – ob nun bloß die direkten Teilnehmer oder auch das Bedienungspersonal mitgerechnet werden.
Dem stimmt auch Olga Oliker bei – eine Spezialistin aus einem weiteren Analytikzentrum, CSIS (The Center for Strategic and International Studies), welches sich mit Problemen von Russland und Eurasien beschäftigt.
Einer der führenden Russland-Experten, Mark Galeotti, aus dem Institute of International Relations Prague findet ebenfalls, dass die Zahl „100.000“ Militärangehörige aus der Luft gegriffen sei, und die ganze Panik dadurch ausgelöst wurde, dass in der Presse die Zahl „4.000 Eisenbahnwagen“ aufgetaucht war, die Russland für den Transport von Militärangehörigen nach Belarus benutzte.
Der Analytiker von Stratfor, Sim Tack, hat in diesen Gerüchten sogar eine ukrainische Spur gefunden: «Sim Tack, a Stratfor analyst, told Business Insider that estimates of 100,000 or more Russian troops were taken from a Ukrainian blog, informnapalm.org, which is run by amateur journalists. Gorenburg also told Business Insider that these concerns from western officials came largely from the Ukrainian blog.»
Laut Tack hätten viele einfach nur die Informationen von InformNapalm kopiert. Als einer der ersten habe der Verteidigungsminister Estlands, Margus Tsahkna, diese „panische“ Mitteilung zu verbreiten angefangen.
Tack erklärte auch, wie wir auf die Zahl „100.000 Soldaten“ gekommen seien: „I don’t know [the Ukrainian blog’s] exact calculations, they just threw out the 100,000 number,“, Tack said, adding that they basically figured Moscow would pack each rail cars to the brim with 72 soldiers, and that they multiplied the final number by 1.5 times on the assumption that the Kremlin was keeping the real number of rail cars secret.“
Also, wie sind wir denn auf die Zahl „100.000 Soldaten“ gekommen? Wir haben die Anzahl der Eisenbahnwagen genommen – 4000, haben in jedem jeweils 72 Soldaten platziert und das ganze mit 1,5 multipliziert. Naja, dann kommen wir aber auf 432.000 Soldaten… und haben aber aus irgendeinem Grund 100.000 geschrieben. Alles klar nun? Uns nicht so ganz…
Woher stammt die Zahl „100.000 Soldaten bei den Manövern“?
InformNapalm schreibt des Öfteren über Belarus und beleuchtet die Aktivitäten rund um „Sapad-2017“, jedoch haben wir weder etwas über 100.000 Soldaten geschrieben, noch die Nachricht über 4.000 Eisenbahnwagen verbreitet.
Erstmals erschien diese Mitteilung in der ukrainischen Ausgabe Apostroph, im Artikel von Andrei Santarowitsch „Die zweite ukrainische Front: Wozu verlegt Putin seine Truppen nach Belarus“ (24. November 2016, 14:05 Uhr). Darin ging es erstmals um die Ausschreibung vom 15. November 2016, in der das russische Verteidigungsministerium 4162 Eisenbahnwagen „für den Transport von militärischer Fracht mit internationaler Eisenbahn für die Bedürfnisse des Verteidigungsministeriums Russlands im Jahr 2017 (Aus Russland nach Belarus und zurück)“ bestellt hatte.
Die Nachricht wurde von belarussischen Medien aufgegriffen, die sich auf diesen Artikel im Apostroph beriefen. Der erste Beitrag erschien auf der belarussischen Webseite „Nascha Niwa“ am selben Tag um 17:44 Uhr, dann, um 18:24 Uhr, erschien dieselbe Mitteilung auf „Chartija97“, bereits mit einem Hinweis auf „Nascha Niwa“.
Nach dem 24. November wurde die Nachricht bereits auf anderen Webseiten besprochen, die Erstquelle geriet dabei in Vergessenheit. Die Erwähnung von 4.000 Eisenbahnwagen begann permanent in verschiedenen analytischen Artikeln aufzutauchen.
Woher kommt denn diese Zahl „100.000“? Höchstwahrscheinlich wurde die Nachricht über die Eisenbahnwagen mit dem Artikel von Atlantic Council vom 25. Oktober unter dem Titel „The NATO-Russia Exercise Gap… Then, Now, & 2017“ zusammengelegt, in dem die Ausmaße der russischen und der NATO-Manöver in den letzten Jahren verglichen werden (und neulich wurde das Thema sogar von der deutschen FAZ aufgegriffen). Die angegebenen Teilnehmerzahlen wurden analysiert und es kam ein sehr informatives Material zu Stande, mit einer Infografik, auf der zu sehen ist, dass Russland nicht nur einmal Manöver unter Teilnahme von 100.000 Beteiligten abhielt. Einen Monat später, im November 2016, kam die Nachricht über die Eisenbahnwagen hinzu und bald schon sind 100.000 russische Soldaten in 4.000 Eisenbahnwagen zu den „Sapad-2017“-Manövern gefahren.
(Anmerkung: Die Erstquelle zu finden und nachzuverfolgen, woher die Nachricht ursprünglich stammte, ist überhaupt kein Problem, wenn man Ukrainisch, Russisch und Belarussisch versteht. Leider sprechen westliche Experten oft nicht mal Russisch, halten sich aber für Russland-Experten. Viele Experten beschränken ihre Kenntnisse über den postsowjetischen Raum auf Informationen auf russischen Webseiten und kennen die Namen von ukrainischen Experten und Analytikern oft gar nicht).
Wachsame Experten
Die Mitteilungen über die Teilnehmerzahlen erscheinen sowohl in den Erklärungen des russischen Militärkommandos, als auch auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums.
Darum haben Militärexperten angenommen, dass Russland bis zu 90-100.000 Teilnehmern zu Manövern solchen Ausmaßes schicken könnte – wie es in den letzten Jahren schon vorkam. Und hier geht es weder um „eine ukrainische Webseite“ noch um „Amateur-Journalisten“, sondern um das Ausmaß der Manöver, die Russland in den letzten Jahren abhielt.
Gesondert möchten wir anmerken, dass die Analytiker, die mit Russland arbeiten, wenig Möglichkeiten haben, irgendeinen Insight zu bekommen, den man gründlich nachprüfen könnte, wenn die Analytiker selbst nicht fließend Russisch sprechen (Ukrainisch und Belarussisch-Kenntnisse sind hier auch von Vorteil) oder aber keinen Zugang zu geheimen Unterlagen haben. So oder so, lesen die Amateur-Journalisten und die professionellen Analytiker ungefähr die gleichen Artikel, und weiter geht es nur noch um die Interpretation des Gelesenen und um die Frage der Vertrauenswürdigkeit der Quelle.
Sagen wir mal, wenn die Russen morgen über Manöver mit 200.000 Teilnehmern sprechen werden, so wird ein Teil der Experten sagen, dass es unmöglich wäre, denn das sei zu teuer, das gab es früher nicht und so viele Soldaten haben sie gar nicht. Es werden sich aber auch Analytiker finden, für die das ein Anzeichen für Kriegsbeginn, Säbelrasseln vor der NATO, den Versuch seine Militärstärke zu zeigen usw. sein wird.
Wenn man aber Truppenverlegungen beobachtet und die Anzahl der Soldaten berechnet, während man in den warmen Büros der europäischen und amerikanischen Thinktanks sitzt, ist diese Arbeit tatsächlich nicht sonderlich schwer. Im schlimmsten Fall kann man noch einen Artikel mit einer Erklärung herausgeben, warum die Prognose sich nicht erfüllt habe.
Neulich haben wir in einem Artikel gezeigt, wie die russische Armee die Verlegung von Artilleriedivisionen mit „Grad“-Raketenwerfern maskierte, indem sie diese in gewöhnlichen militärischen LKWs versteckte. Die „Analytiker“ werden so eine Verlegung ohne eine Insiderinfo wahrscheinlich nicht bemerken, denn selbst für Satelliten sieht das Ganze wie eine gewöhnliche Verlegung von militärischen LKWs aus. Und hier haben wir mit einer offenen Grenze, großen Manövern und dem unberechenbaren Russland zu tun.
Zu welchem Abschluss die „Sapad-2017“-Manöver kommen werden, erfahren wir schon bald. Und bis dahin wäre es schön, dass westliche Analytiker die „Amateur-Journalisten“ mit größerem Respekt behandeln, mehr Texte im Original lesen, Publikationen ihrer Kollegen beachten und Russland etwas kritischer betrachten würden.
Dieses Material wurde von Anton Pawluschko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel; editiert von Jens Piske.
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Wir rufen unsere Leser dazu auf, unsere Publikationen aktiver in den sozialen Netzwerken zu verbreiten. Das Verbreiten der Untersuchungen in der Öffentlichkeit kann den Verlauf von Informationskampagnen und Kampfhandlungen tatsächlich brechen.
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One Response to “„Sapad-2017“: Wie InformNapalm 100.000 russische Soldaten nach Belarus schickte…”
19/11/2017
Russland forbereder en offensiv aktivitet ifølge Polens forsvarsminister[…] Wie InformNapalm 100.000 russische Soldaten nach Weißrussland schickte […]