von Olexij Kaftan, den 21. Oktober 2014
Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, ist ein zweiter Krimkrieg
Die These ist nicht neu, natürlich. Aber ich werde versuchen, die Prämisse ein wenig zu ändern. Ohne Anspruch auf die ultimative Wahrheit denke ich doch, dass Moskaus Hauptgewinn in der Aggression gegen die Ukraine die Halbinsel selbst ist. Die Landverbindung zur Krim ist ein wünschenswertes Ziel, ist aber nicht unbedingt erforderlich, genauso wie die Korridorerweiterung nach Transnistrien. Die Erschaffung des Korridors, das Neurussland-Projekt oder gar die ganze Vielfalt von „Volksrepubliken“ – das alles sind reine Zwischenstationen. Netter Bonus: Sollte es brennen – wunderbar, wenn nicht – ist auch nicht schlimm; in beiden Fällen wird die eigentliche Krim-Frage (ich betone wieder: des Hauptpreises) nicht mehr aufgeworfen. Und wie der ganze Verlauf der Ereignisse seit der Annexion es gezeigt hat, ging diese Rechnung auch auf.
Ich möchte hinzufügen, dass die Annexion der Halbinsel trotz der Krim-Unser-Hysterie nicht zur Autoritätssteigerung von Putin begonnen wurde. Ich bin sicher, dass sich die Politologen im Kreml etwas viel Sichereres und weniger Riskantes dafür einfallen lassen könnten, als die Grenzen in Europa zu verschieben. „Krim-Unser“ ist also in erster Linie eine Technologie, welche die Aufgabe vereinfacht hat. Die Vorbereitungsdauer der Operation spricht auch dafür, dass ihre Ursache nicht auf der Ebene der Manipulation des Massenbewusstseins liegt. Entgegen der Meinung des Ex-Chefs des polnischen Außenministeriums und des heutigen Sejm-Sprechers Radoslaw Sikorski, der Ursache und Folge verwechselt, hat das Assoziierungsabkommen damit nichts zu tun.
Der Grund für die Annexion liegt auch nicht im Bereich der wirtschaftlichen Interessen. Die Kongressabgeordneten haben ihre Besorgnis über Moskaus Pläne, auf der Krim die Träger der taktischen nuklearen Waffen: strategische Bomber TU-22M3 und den operativ-taktischen Raketenkomplex „Iskander-M“ zu stationieren, in ihrem Brief an Obama zum Ausdruck gebracht. Die Krim muss zu einem der wichtigsten Vorposten Russlands werden. Und zumindest die gleiche Rolle wie Kaliningrad spielen oder gar Kaliningrad ersetzen. Wahrscheinlich war dieser Schachzug für den Kreml entscheidend für das Februarabenteuer.
Zunächst ein kurzer Exkurs in die Geschichte. Putins Worte: der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts (von Moskau aus gesehen) sind nicht ohne ein Körnchen Wahrheit: Russland verlor plötzlich fast alle Pufferzonen in Europa, die es im Laufe der Geschichte gesammelt hatte. Nach dem Tatarenansturm kam die Bedrohung nicht nur für seine Interessen, sondern für die ganze Existenz seines Staates immer aus dem Westen: angefangen mit den Kosaken des Atamans Sahaidatschnyi während des Krieges zwischen Moskowien und der Rzeczpospolita 1609-1618 und zuletzt von der 2. Panzerdivision der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges.
Bis 2013 hatte Russland kein Potenzial (sowohl militärisch als auch wirtschaftlich), diese Bereiche wiederherzustellen: Es hat für den Loyalitätserwerb der postsowjetischen und zum Teil der osteuropäischen Regime und/oder Eliten gereicht, für die Erpressung und für einen kleinen lokalen Krieg. Aus der Sicht der Geostrategie kann das nicht als zuverlässige Sicherheitsgarantie bewertet werden. Natürlich blieb noch das nukleare Schild, aber mit dem Verlust der Pufferzonen und als Folge einer Reihe von unterzeichneten Abrüstungsabkommen ist seine Anwendungsmöglichkeit etwas geringer geworden. Kurz gesagt: alles hängt von der Dauer des Anflugs ab. Die NATO hat mehr Zeit für die Reaktion auf einen Angriff aus Russland, als Russland Zeit für eine Reaktion hätte. Eine Stationierung von US-Raketenabwehrsystem stört das Gleichgewicht zusätzlich.
Ich kann nicht beurteilen, wie sich die Ereignisse entwickelt hätten, wenn Russland nach Jelzin einen demokratischen Entwicklungsweg gewählt hätte, aber die entstandene Situation wurde in Moskau als Bedrohung wahrgenommen.
Die Reaktion darauf (ganz im Sinne der sowjetischen Tradition) war das Moratorium vom 13. Juli 2007, d.h. die Aussetzung des Abkommens über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). Bemerkenswert ist, dass die russischen Streitkräfte einen Monat zuvor den modernen hochpräzisen operativ-taktischen Raketenkomplex „Iskander“ bekommen haben. Die Drohgebärde um seine Stationierung in Kaliningrad, die nicht so konkret auch früher zu hören waren, wurden nun zur Antwort auf jeden (aus Moskauer Perspektive) unfreundlichen Schritt seitens der Nachbarn, vor allem Polen und des Westens generell. Zugegeben, die Bedrohung ist nicht gering: fast sieben Mal schneller als der Schall, ausgestattet mit einem Schutzsystem gegen Raketenabwehrsystem; eine Rakete, die vom Ziel nur um 10 m abweicht und mit einer Reichweite von 500 km ein wunderbarer Gegenstand der Erpressung ist. Es ist kein Wunder, dass Polen kurz darauf ein massives Programm der Neubewaffnung gestartet hat, mit dem Schwerpunkt auf die Raketen- und Luftabwehrsysteme. Auch hier hat der Faktor der Anflugdauer eine Schlüsselrolle gespielt. Der Krieg in der Ukraine zwang die NATO, sich mehr um die Stärkung der baltischen Grenzen zu kümmern.
Der Haken hierbei ist, dass Russland das Kaliningrad-Gebiet unweigerlich verlieren wird. Vor rund zehn Jahren habe ich über die Bewegung für die Rückkehr des historischen Namens von Kaliningrad geschrieben. Damals gab es bis zu fünfzig Freaks, Vertreter der Boheme und Studenten, die an einer Weiterbildung an europäischen Universitäten interessiert waren. Die Sanktionen wegen der Aggression gegen die Ukraine haben geradezu Unzufriedenheit und eine deutliche Beschleunigung der Enklavendrift in Richtung Europa hervorgerufen. Hier könnte man sich an das Potsdamer Abkommen erinnern, nach dem der Mietvertrag der Region Kaliningrad 1996 zu Ende gehen sollte. Da die Bevölkerung nicht allzu loyal zu Russland und vollständig von NATO-Mitgliedern umgeben ist, ist es unwahrscheinlich, dass die Region eine langfristige Verteidigung halten könnte. Somit ist es eine Frage der Zeit, dass Kaliningrad aufgegeben wird. Vielleicht klingt es verrückt, aber manche im russischen Generalstab haben nie aufgehört, genau in diesen Kategorien zu denken.
Die Annexion der Krim erscheint als eine angemessene Antwort auf diese Herausforderung. Zusätzlich (und im Fall der Fälle als ein Ersatz) zum in Kürze illoyalen Kaliningrad, bekommt Russland eine treue Krim. Russland verfügt über ausreichend Mittel für die Versorgung der Halbinsel. Das Territorium, das als eine reine Militärbasis dienen soll, bedarf weder der Tourismusindustrie noch einer großen Anzahl von Zivilisten, umso weniger wenn diese illoyal sind: Das erklärt die jüngste Verfolgung der Krimtataren. Außerdem ist es sinnlos, eine zivile Infrastruktur zu entwickeln, die potentiell zur primären Zielscheibe für die NATO werden könnte. Dieses Prinzip funktionierte auf der Krim während der Sowjetzeit und in Kaliningrad (es hat sich nichts geändert), so wird es sich auch auf der annektierten Krim fortsetzen .
Nun zu den Kreml-Plänen für die Waffenstationierung. Es ist klar, dass es sich in erster Linie um Instrumente der Erpressung handelt, und keineswegs um die Verteidigung.
Das „Iskander-M“-System kann nun die gesamte südliche Ukraine bedrohen, einschließlich Mariupol, Krementschuk und fast aller Kaskaden der Stauseen dem Dnjepr entlang. Im Bereich seiner Reichweite befindet sich auch Kischinau. Außerdem das bulgarische Varna – nicht nur ein Urlaubsort und ein Hafen, sondern auch das Stabsquartier der Marine. In Rumänien ist in erster Linie Constanta betroffen, wo amerikanische Schiffe mit Raketenabwehrsystemen stationiert sind und Lenkwaffenkreuzer mit lenkbaren Raketen immer wieder zu Gast sind (erinnern Sie sich an Moskaus Drohgebärden wegen der Teilnahme an gemeinsamen Übungen mit der Ukraine der „Monterrey“ und „Mobile Bay“, die in Odessa zu Besuch waren?). Für einen Angriff würde man weniger als 10 Minuten brauchen.
Sollte der Komplex tatsächlich mit R-500-Raketen bestückt werden (was die US-Kongressabgeordneten nicht ohne Grund befürchten), würde das nicht nur gegen das Abkommen über Verbot von Mittel- und Kurzstreckenraketen (INF) verstoßen – ihre Entwicklung selbst ist ein Verstoß gegen das Abkommen. Es wird ein neuer Faktor für das gesamte System der internationalen Beziehungen sein.
Was bedeutet R-500 auf der Krim? Das ist eine Abschussstelle für Zielscheiben im Radius von 2600 km.
Lassen Sie uns die Linie des Kreises oben anfangen und dann in Richtung Westen ziehen. Innerhalb des Angriffsgebietes befindet sich der gesamte Bottnische Meerbusen samt Küste, und dementsprechend auch fast das gesamte (mit Ausnahme der Polarregionen) Finnland, einschließlich Helsinki, und Schweden mit Göteborg und Stockholm. Die drei baltischen Staaten und Polen liegen komplett im Fadenkreuz.
In der Nordsee kann Norwegen mit Oslo und Trondheim fast komplett unter Beschuss geraten. Deutschland mit den Benelux-Ländern liegen komplett auf der Schusslinie. Die R-500 kann einen sehr kleinen Teil von Großbritannien erreichen, aber die Britten dürfte es nicht glücklich machen, denn es geht zumindest um die Vororte von London.
Die Krim-„Iskander“ gefährden zwar die Atlantikküste von Frankreich nicht, dafür aber das gesamte Gebiet im Norden von Paris bis nach Toulouse im Süden, einschließlich des Mittelmeerhafens und Marinestützpunktes in Marseille. Spanien bleibt außerhalb der Bedrohung – mit Ausnahme von Barcelona und Mallorca. Der Rest des europäischen Mittelmeerraumes ist für R-500 leicht erreichbar, einschließlich Korsika, Sardinien, Sizilien, Malta, Kreta und Zypern.
Was sehen wir in Afrika? Nordöstlicher Teil von Algerien, die Hälfte Tunesiens einschließlich der Hauptstadt, die gesamte Küste von Libyen, einschließlich Tripolis und Bengasi, ganz Ägypten. Im Nahen Osten – die Hälfte des Roten Meeres, in Saudi-Arabien – Vororte von Dschidda, die Hälfte des Persischen Golfes (nur wenige Kilometer von der omanischen Küste), den Großteil von Iran; Usbekistan und Turkmenistan fast komplett, die westliche Hälfte von Kasachstan.
Die Chancen, dass Ziele am Rand dieses Kreises getroffen werden, stehen 50/50. Mal sehen, was dies in der Praxis bedeutet. Die Tatsache, dass alle strategisch wichtigen Objekte Nordeuropas – vor allem Hauptstädte und Verkehrsknotenpunkte (besonders Häfen); das gesamte Zentraleuropa, der ganze kontinentale Westen und große Teile Südeuropas – für die R-500 erreichbar sind, ist offensichtlich. Angreifbar sind alle NATO-Stützpunkte vom Mittelmeer bis zur Ostsee, besonders die Inseln, die traditionell als Flugplätze dienen. Unter die Zahl der potenziellen Ziele fallen auch die kaspische Region bis zum iranischen Teheran und Isfahan, die islamische heilige Stätte von Medina, der Suezkanal, der Bosporus und die Dardanellen sowie alle Energietransportwege nach Europa: sowohl aus Afrika als auch aus dem Nahen Osten. Hinzu kommt für Moskau auch die Möglichkeit, den „Islamischen Staat“ in Syrien und im Irak anzugreifen, auch wenn es keine dringende Angelegenheit ist.
Nun ein paar Worte über die Tu-22M3. Der Kampfradius mit Ladung von 12000 Kg mit Unterschallgeschwindigkeit bei gemischtem Flugprofil beträgt 2410 Km. Beim Übergang in den Überschallbereich für den Durchbruch der Flugabwehrsysteme liegt die Reichweite von Raketen grob gesagt bei 2600 Km. Diese Bomber waren einst nahe Sewastopol stationiert, nun werden sie wahrscheinlich wieder zurückkommen, man müsste nur die Infrastruktur erneuern (auf russischen Foren wird es bereits seit März diskutiert). Deren Standardbewaffnung sind Anti-Schiff-Raketen X-22, die für die Jagd auf Flugzeugträger konzipiert sind. Die Marineflieger können aus dem Mittelmeer und dem Ägäischem Meer Ziele auf dem ans Schwarze Meer angrenzenden Streifen Russlands angreifen. Die zweite Rakete X-15 wurde entwickelt, um Bodenziele anzugreifen. Beide Raketentypen können genau wie die R-500 mit nuklearem Sprengkopf ausgestattet werden. Die Chancen für einen Durchbruch des NATO-Luftabwehrsystems stehen jetzt schon ziemlich gut, aber nach der Aufrüstung auf Standard Tu-22-M3M sollten sie noch höher werden. Die nötigen Ressourcen wird Russland sicherlich trotz aller Sanktionen finden können. Putins Regime ähnelt zunehmend dem in Nordkorea, und Pjöngjang findet immer Geld für Waffen trotz chronischer Hungersnot.
Ob eine solche Bedrohung Europa dazu zwingen wird, entschlossen zu handeln, oder wie vor dem zweiten Weltkrieg die „Friedensstifter“ das Sagen haben werden?
Quelle: Olexij Kaftan für espreso.tv; übersetzt von Andrij Topchan, korrigiert von Irina Schlegel
4 Responses to “Wie die Krim Putin dabei helfen wird, ganz Europa, Nordafrika und den Nahen Osten in Angst zu halten (MAP)”
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