
von Irina Schlegel
Am 14. Oktober feierte die Ukraine Tag des Verteidigers. Seinen Ursprung nimmt dieses Fest im orthodoxen Fest „Maria Schutz und Fürbitte“, als der Legende nach die Mutter Gottes im X. Jahrhundert in der belagerten Stadt Konstantinopel erschien und ihr Gewand über seine Verteidiger ausbreitete. Später feierten dieses Fest auch die ukrainischen Saporischschja-Kosaken, die die Mutter Gottes verehrten und sie als ihre Fürbitterin wahrnahmen. Die Kriegszüge der ukrainischen Kosaken begannen gewöhnlich mit einem Gebet zu Ehren der Mutter Gottes. Deshalb wird dieses Fest auch „Tag des ukrainischen Kosakentums“ genannt. Die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) führte diese historische Tradition im XX. Jahrhundert weiter und nahm sich den 14. Oktober als das symbolische Datum ihrer Entstehung, da sie sich als Nachfolger des ukrainischen Kosakentums sah. Da die Ukraine sich 2014 erneut gegen eine russische Aggression wehren musste und ihre Souveränität zu verteidigen gezwungen war, wurde dieses alte Kosaken-Fest für viele Ukrainer zum Sinnbild der ukrainischen Verteidiger.
2014 wurde die Ukraine heimtückisch von Russland überfallen und war überhaupt nicht darauf vorbereitet. „Dank“ der jahrelangen Politik ihrer Anführer war die Armee in einem miserablen Zustand, sowohl materiell als auch mental. Der Großteil des Militärgeräts war von korrupten Generälen verkauft worden, die Uniformen waren alt und verstaubt, es gab nicht genug Waffen, und was das Mentale angeht, so konnte man kaum von Kampfgeist, Verteidigungskraft, Gefechtsbereitschaft und Disziplin sprechen. Russland rechnete damit, in drei bis vier Monaten die Ost- und Südukraine zu spalten, in Odessa, Charkiw und Mykolajiw weitere Pseudorepubliken aufzubauen und einen Korridor zur Krim durchzuschlagen. Nach der Revolution der Würde Anfang 2014 und des niederträchtigen Überfalls und der Abtrennung der Krim war die Ukraine im Chaos versunken, das von Russland immer weiter entfacht und gefüttert wurde, als sich plötzlich der vielzitierte „menschliche Faktor“ meldete.
Etwas, das Russland bei seinen großchauvinistischen Plänen nicht mit einbezogen hatte: Die Bürger der Ukraine. Menschen, die ohne Hoffnung auf den Staat begannen, ihr Land zu verteidigen. Jungs, die in Sporthosen und T-Shirts in den Osten fuhren, sich zu Freiwilligenbataillons zusammentaten und entgegen ihrer ganzen Lebenserfahrung und manchmal auch Lebensansichten Waffen in die Hände nahmen, um das zu tun, was schon ihre Vorfahren, die Kosaken, gemacht hatten: Die Ukraine retten.
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Anna Politkowskaja sagte einmal: „Ich bin für einen solchen Patriotismus, der nach Bitterkeit und Stolz schmeckt“. Unser heutiger Stolz auf unsere Jungs ist mit sehr viel Bitterkeit über die Gefallenen und Getöteten verbunden… Russland brachte der Ukraine wieder mal viel Leid. Die Krim mit ihren Zehntausenden von Flüchtlingen und der hämischen Freude der einstigen „russischen Brüder“ über diesen Diebstahl, grausame Foltermorde an Proukrainern im von Russen unterwanderten Donbas in den ersten Monaten 2014, Ilowajsk, der Donezker Flughafen, Mariupol, Wolnowacha und Kramatorsk mit ihren durchschossenen Wohnhäusern. Debalzewe…
Wir haben es überstanden. Und unsere Armee bringt nun niemanden mehr zum Lachen. Die Ukraine hat nun etwa 335.000 Jungs mit Kampferfahrung im Land, wir haben weitere Hunderttausende Freiwillige und Volontäre, die wissen, wie man in Krisensituationen agieren soll, was als erstes zu tun ist, wie man Lebensmittel und Medikamente organisiert – die Ukrainer sind keine Hobbits mehr, die man plötzlich überfallen könnte. Wir sind auf jedes Szenario innerlich vorbereitet. Und zu danken dafür ist in erster Linie unseren Jungs, die sich trotz ihrer normalen, bürgerlichen Berufe, trotz Unerfahrenheit und Angst, auf den Weg begeben hatten, damit wir alle frei bleiben können.
Ihre Kampferfahrung und Fertigkeiten demonstrieren die Ukrainer nun nicht mehr nur im von Russen besetzten Donbas, sondern auch bei internationalen Manövern, wie zum Beispiel bei den Manövern Saber Junction 2018, die im September in Deutschland stattfanden.
Fotos: Facebookseite des ukrainischen Verteidigungsministeriums
Die Ukraine war durch Fallschirmjäger aus dem 13. Luftsturmbataillon der 95. Luftlandebrigade aus Schytomyr vertreten, die an der aktiven Phase der Manöver im Bestand einer internationalen Kampfgruppe in Bataillonsstärke „Blackfoot“ (OpFor-Kräfte) teilnahmen. Das Hauptziel der Manöver war das Training der amerikanischen 173. Luftsturmbrigade. Bei den Manövern imitierten die Ukrainer den Gegner der Amerikaner. Die Amerikaner trainierten eine Massenlandung von Fallschirmjägern, Märsche, Vorstoß- und Offensivhandlungen. Ihre Brigade wurde von Transportflugzeugen und taktischer Luftwaffe, Panzern und Artillerie unterstützt. Die ukrainische Kompanie nahm dabei nur an drei Übungen teil: Streifzug, Durchbruch der Gegnerabwehr und Verteidigung einer Stadt.
Bereits am ersten Tag der aktiven Manöverphase überraschten die ukrainischen Fallschirmjäger ihre bedingten Gegner, nachdem sie den Feldstab der 173. Luftsturmbrigade der USA eingenommen hatten, in dem sich die Pläne des Gegners und Karten mit seinen Stellungen befanden. Die Einnahme des Stabs war dermaßen unerwartet für den Gegner, dass die Leitung der Manöver beschloss, die Manöver anzuhalten, um ihren weiteren Ablaufplan zu ändern. Darüber berichteten wir neulich im folgenden Artikel: „Wie ukrainische Fallschirmjäger den Lauf der Manöver „Saber Junction 2018“ verändern“. Nicht weniger erfolgreich für unsere Fallschirmjäger waren auch die nächsten Tage der Manöver: der Durchbruch der Abwehr des Gegners und die Verteidigung eines speziell für die Manöver erschaffenen Städtchens namens Ubensdorf.
Die Amerikaner, die bei den Manövern die Rolle des Gegners der Ukrainer übernahmen, lobten Professionalität, Eigeninitiative und hoher Motivation der ukrainischen Kämpfer, die sie beeindruckt hat. Die US-Armee fand dieses Format der Manöver allgemein sehr realistisch und effektiv. Die ukrainischen Teilnehmer der Manöver lobten im Gegenzug ihre Verbündeten für die Bereitschaft, großzügig ihre Kampferfahrung mit ihnen zu teilen sowie für alles, was die Arbeit des Stabs und die Durchführung der Operationen angeht.
Roman Turowez, ein ukrainischer Oberst und Teilnehmer der Manöver, sagte, dass die Leitung der OpFor am Anfang etwas skeptisch den Ukrainern gegenüber war, die schon bei der Planung verwegene Ideen einbrachten. Später wurde es aber auch für sie interessant, was denn die Ukrainer sich als nächstes ausdenken würden. Zum Beispiel, als sie in der abschließenden Phase der Manöver das Städtchen Ubersdorf verteidigen mussten, hatten die ukrainischen Fallschirmjäger kein Militärgerät außer ein paar Humwees. Der Kompaniekommandeur hat daraufhin alle Stadteinfahrten mit Autos blockiert und teilte die Verteidigung in zwei Gruppen auf: Eine Gruppe verschanzte sich in den Häusern und die andere manövrierte zwischen den Häusern. Die Stadt hielt über vier Stunden durch. Infolge der kühnen Entscheidungen des ukrainischen Kompaniekommandeurs sind die Karten des Gegners zweimal in die Hände der Ukrainer geraten, was im realen Leben ein großes Problem für die ganze Brigade geworden wäre (weshalb die Manöverleitung auch eine Pause einlegen musste – diese Pausen sind aber im Grunde auch nichts Außergewöhnliches). Das Engagement und Vorbereitungsniveau der ukrainischen Kompanie brachten ein Element der Überraschung und ein wenig Ränke in die Manöver. Die Tatsache, dass diese Kompanie erst vor kurzem aus einem realen Krieg zurückkam, ließ viele entstandenen Fragen aber wieder verschwinden.
Wobei es nach der Veröffentlichung unseres Artikels über die Erfolge der Ukrainer bei den Manövern nicht ohne Kritik blieb, speziell seitens von Bundeswehr-Reservisten, die behaupteten, dass es falsch sei, den Plan der Manöver umzustürzen. Nach einigen Gesprächen mit den Teilnehmern der Manöver bin ich aber zu dem Schluss gekommen, dass hier einige Dinge unterschwellig eine Rolle spielen: Der Westen ist wohl gewohnt, die Ukrainer als „Soldaten zweiter Klasse“ wahrzunehmen, angefangen bei ihren schlechten Englisch-Kenntnissen, bis hin zu der Meinung, dass die ukrainische Herangehensweise an die Kriegskunst veraltet sei. Vor diesen Manövern hatten die NATO-Soldaten die ukrainischen Luftsturmtruppen aber kein einziges Mal getroffen, insbesondere nicht die Kompanie „Phantom“. Wie sich herausgestellt hat, waren gerade ihre Vorstellungen von den Ukrainern etwas veraltet. Die Einnahme des Stabs war kein Zufall – das war Teil des Plans, man könnte es sogar eine präzise ausgearbeitete Operation nach NATO-Standard nennen. Der Stab der ukrainischen Kompanie ging bei der Übung entsprechend allen Anforderungen ihrer Verbündeten vor. Der Manöverplan war zwar lange ausgearbeitet worden, aber was hätten die Ukrainer denn tun sollen, wenn sie gerade aus dem Krieg zurück und es gewohnt sind, gefechtsmäßig zu arbeiten, in ihren Verantwortungsbereich mit Dynamik einzudringen und eine Aufgabe zu lösen. Sie hätten selber nicht gedacht, dass sie den Stab einkreisen könnten und zum Kommandeur der Amerikaner reingehen und sagen: „Hallo, da sind wir, macht nur keine Dummheiten – das ist nur ein Spiel.“ Es war ja unmöglich für sie, die Karten und Dokumente des Gegners nicht einzusehen, die er zu vernichten nicht geschafft hatte. Das ukrainische Vorgehen geschah im Rahmen des Szenario: Sie hatten einen bestimmten Verantwortungsbereich – auf welchem Wege sie dahin gelangen, hatte keinerlei Bedeutung. Alles lief entsprechend dem Plan, den der Kommandeur der OpFor-Kräfte bestätigt hatte. Das Wichtigste ist, dass die Einnahme des Stabs bei Manövern stattfand und nicht in einem realen Krieg. Damit muss man sich abfinden und entsprechende Schlussfolgerungen ziehen. Womöglich spielt hier auch der Unterschied in der Mentalität eine Rolle. Die deutsche Mentalität ist im Grunde sehr konservativ und fixiert, der Spruch „Ordnung muss sein“ beschreibt sie ziemlich treffend. Die Ukrainer sind wohl zu einer wilden Kraft, einer eigensinnigen und kühnen Kraft, geworden, an die die anderen nicht gewohnt sind… Womöglich haben wir es hier auch mit einem Zusammenprall von verschiedenen Vorstellungen über die Methoden der Kriegsführung zu tun. Der Westen scheint noch immer nicht ganz zu verstehen, was ein „hybrider Krieg“ sein soll, in dem nicht immer alles nach Plan läuft. Gut möglich, dass die Ukrainer dreist vorgingen – Leute, die im Krieg gewesen sind, sind aber gewohnt, sich zu 100% auszugeben. Wie ein ukrainischer Kommandeur mir gegenüber sagte: „Schweiß spart Blut“.
Ich glaube daran, dass in einer womöglich noch entfernten Zukunft die ukrainische Armee nicht als Opfer sondern als Sieger wahrgenommen wird. Wir danken unseren Jungs für die Verteidigung Europas vor den Barbaren, und wir sind stolz darauf, wie sehr sich die ukrainische Armee in diesen vier Jahren verändert hat.
Slawa Ukraini!
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalmDeutsch verfasst; korrigiert von Klaus H.Walter.
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