
von Irina Schlegel
Heute, am 24. August 2016, ist der 25. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine. Wir gratulieren der Ukraine herzlich zu diesem wunderbaren Fest. In der Geschichte der Ukraine gab es viele Freiheitskämpfer und immer wieder musste die Ukraine ihre Souveränität gegen ihren östlichen Nachbar beweisen. Vor 25 Jahren verlief die Trennung blutlos und friedlich – man dachte damals, die blutige Geschichte der jahrhundertealten Auseinandersetzung habe endlich ihr Ende genommen und diese Seite der Geschichte sei umgeblättert.
2014 machte sich Russland aber wieder an die Eroberung der Ukraine heran. Heimtückisch überfiel es die ukrainische Halbinsel Krim, richtete Gewehre auf Zivilisten und führte unter seinen Gewehrläufen eine Parodie auf „Referendum“ durch, wonach es die Krim rechtswidrig angeschlossen hat. Das war aber nicht genug: Im Rausch seines Chauvinismus und des wiedererlangten imperialistischen Stolzes lechzte Russland nach mehr und entfesselte einen Krieg im Donbas. Was Russland in seinem blinden Imperialismus nicht wahrnahm, war dabei die Existenz von Ukrainern. Russland dachte, das Land sei zerrüttet und zerstritten – wegen des Maidan, langjähriger Korruption, des Misstrauens der Bevölkerung… Die Russen dachten, die Ukraine sei kein Staat und Ukrainer als solche gebe es gar nicht. Die Russen schrien von Panzern, die in drei Tagen in Kyjiw sein werden, von der Rückgewinnung der „eigenen Territorien“, von eigener Stärke und der Kyjiwer Rus, die ihnen gehöre und die sie nun „befreien“ würden. Ein ewiger Irrtum der „Herrenmenschen“.
Wie die Ukrainer nun sagen: „Vielleicht ist es der Preis, den wir vor 25 Jahren nicht zahlen mussten, wie so viele in der ehemaligen Sowjetunion… Wir zahlen ihn jetzt“. Den Preis für die eigene Freiheit. In nur wenigen Wochen konnte sich die Ukraine organisieren, unabhängig von Parlament, Staat, dem Präsidenten, der Weltgemeinschaft, der internationalen Meinung und fremden Ansichten. Es gab nichts und doch gab es das Wichtigste: Die Menschen. Männer, die an die Front gingen, in neuaufgestellte Freiwilligenbataillone, ohne die erforderliche Ausrüstung und Waffen, Frauen, die ihr Letztes verkauft haben, um für ihre Männer Kleidung und Essen zu organisieren, Freiwillige, die an die Front fuhren, um Hilfe zu bringen, Omas, die für die Soldaten Socken strickten, Menschen aus der ganzen Welt, die begannen, an der Informationsfront gegen die milliardenschwere Kremlpropaganda zu kämpfen.
- Zur Geschichte: „Herzlichen Glückwunsch zum Unabhängigkeitstag, Ukraine!“
Selbstorganisation. Bürgerliches Verantwortungsbewusstsein. Freie Menschen. Das war etwas, was Russland ganz und gar nicht erwartet hatte, in seiner Mentalität eines Sklaven, der nur an den Willen und die Möglichkeiten der Starken dieser Welt glaubt…
Was ist Freiheit? In ihrem Zynismus versteht die FSB-Junta solche Begriffe wie Würde, Ehre, Freiheit, Liebe und Ehrlichkeit nicht. Der Kreml glaubt nicht daran. All diese Begriffe sind für ihn von Künstlern ausgedacht worden und werden von Machthabenden zu Eigenzwecken am Leben erhalten. Für den Kreml ist alles und jeder käuflich. Und in seinem Land glaubt man nicht an die Existenz von freien Menschen. Und dieser fehlende Glaube wurde Russland zum Verhängnis.
Ich möchte Sie heute zum Unabhängigkeitstag der Ukraine mit einer Rede bekanntmachen. Mit der Rede eines freien Menschen, den selbst zwei Jahre im russischen Gefängnis nicht brechen konnten. Mit der Rede eines gebürtigen Krimers, der von den russischen Geheimdiensten aus seiner eigenen Stadt in der Ukraine, aus Simferopol auf der Krim, entführt worden war, dann in der Untersuchungshaft gefoltert und erniedrigt wurde, und letztes Jahr zu 20 Jahren Haft verurteilt worden ist – für nichts. Wohl dafür, dass er ein Ukrainer ist. Denn irgendein anderes „Verbrechen“ oder gar Schuld konnte ihm bislang keiner nachweisen.
Oleh Senzow, ukrainischer Regisseur, ein Beispiel für den fatalsten Fehler Russlands – den fehlenden Glauben an die Freiheit, die in erster Linie mit dem menschlichen Inneren zu tun hat und somit niemandem genommen werden kann.
Das letzte Wort von Oleh Senzow im Gerichtssaal am 19. August 2015:
„Ich hoffe, Euer Ehren, dass es nicht mein letztes Wort sein wird. Ich werde Sie genauso wie Sascha (Olexander Koltschenko) um nichts bitten und selbst auch keine Nachsicht empfinden – hier ist jedem alles klar. Das Gericht der Besatzer kann per Definition nicht gerecht sein. Nichts persönliches, Euer Ehren.
Ich möchte etwas anderes sagen. Es gab mal so eine Gestalt, Pontius Pilatus. Er saß viele Jahre lang auf dem Mond und dachte über seine Tat nach. Als er dann eines Tages mit Ga Nizri (Jesus) über den Mondweg lief, sagte er ihm: „Weißt Du, Du hattest Recht. Die schlimmste Sünde auf der Erde ist die Feigheit“. Das hat der große russische Schriftsteller Bulgakow in seinem Buch „Meister und Margarita“ geschrieben. Und ich bin mit ihm einverstanden. Die Feigheit ist die wichtigste, die grauenhafteste Sünde auf der Erde. Und der Verrat ist eine spezielle Form der Feigheit.
Die Mehrheit der Fälle von Verrat beginnt mit einer kleinen Feigheit, wie es am Beispiel von Tschirny (Olexander Tschirny) zu sehen ist. Dir wird eine Tüte über den Kopf gezogen. Auf dich wird ein wenig eingeschlagen, so ein halbes Stündchen lang, und nach diesem halben Stündchen bist du schon bereit, dich von deinen Überzeugungen loszusagen, dich selbst wegen allem zu beschuldigen, andere Menschen zu beschuldigen – nur damit auf dich nicht mehr eingeschlagen wird. Ich weiss nicht, was deine Überzeugungen Wert sind, wenn du nicht bereit bist, dafür zu leiden oder zu sterben. Ich bin froh, dass Gennady Afanasjew sich selbst überwinden konnte. Er stolperte, aber schlussendlich verstand er, dass er eine Chance hat, und handelte sehr mutig, sehr richtig. Ich war sehr überrascht darüber. Und bin froh für ihn. Es geht nicht darum, dass es einen großen Skandal oder Probleme geben würde und wir freigesprochen werden könnten – das wird es alles nicht geben. Ich bin froh für ihn, dass er weiter leben und sich als ein Mensch wahrnehmen wird, der sich nicht fürchtete. Er wird weiterhin bedroht – sie kommen und treten mit Füßen auf ihn ein, aber er hat schon einen Schritt in die richtige Richtung gemacht und ein Zurück wird es nicht mehr geben. Ich bin sehr froh für ihn.
Ich bin seit einem Jahr in eurem wunderbaren Land und schaue euer Fernsehen. Die Sendungen „Westi“, „Wremja“ – ja, das sind sehr gute Sendungen… Eure Propaganda arbeitet ausgezeichnet. Ich glaube, dass der Großteil der Bevölkerung daran glaubt, was ihnen gesagt wird. Dass Putin ein guter Kerl ist und in der Ukraine Faschisten sind, dass Russland alles richtig macht und drumherum nur Feinde sind. Sehr gute Propaganda. Aber ich verstehe auch, dass es klügere Menschen gibt, wie Sie zum Beispiel, die hier die Macht haben. Sie verstehen ausgezeichnet, dass es keine Faschisten in der Ukraine gibt, und dass die Krim illegal abgenommen worden ist, und dass Ihre Truppen im Donbas kämpfen.
Selbst ich, obwohl ich mich im Gefängnis befinde, weiß, dass Eure Truppen im Donbas sind. Unser ganzer Isolator (Flügel für Einzelhäftlinge) ist voll mit „Freiwilligen“ (Donbas-Söldnern), die dorthin auf euren Panzern, mit euren Waffen geschickt wurden. Sie kämpfen dort, denken, dass man hier auf sie wartet, sie fahren zurück, nehmen Munition mit, sie werden an der Grenze festgenommen, sie bekommen Haftstrafen. Sie wundern sich: „Wie, wofür, wir sind doch Helden, wir wurden doch dorthin verabschiedet…“. Sie verstehen nicht, dass dieser Zug nur in eine Richtung fährt. Ich weiß es hier, im Knast.
Ich saß hier im Gefängnis mit einem GRU-Militärangehörigen, einem Eurer Offiziere, ihm wird gerade ein anderes Verbrechen zur Last gelegt. Er beteiligte sich an der Einnahme der Krim. Am 24. März (2014) sind sie mit ihren Schiffen in Sewastopol eingetroffen und haben jenen Teil von Ewpatorija blockiert, den ich versorgte und woher ich die Menschen herausbrachte. Das Schicksal ist ein interessantes Ding. Und seine Brigade beteiligte sich am Ilowajsker Kessel, in dem die ukrainischen Militärangehörigen zerschlagen wurden. Das sind Fakten, die an der Oberfläche liegen. Zum Beispiel Eure Sprachrohre des Regimes. Sie sind auch keine Dummen – sie wissen, wie alles in Wirklichkeit ist, aber sie lügen weiter. Sie machen ihre Arbeit und suchen nach irgendwelchen Rechtfertigungen für sich. Höchstwahrscheinlich finden sie dafür auch irgendwelche Rechtfertigungen: Man muss die Kinder ernähren, man muss irgendwas machen.
Nur: Wozu erzieht Ihr denn eine neue Generation von Sklaven, Leute?
Außer all diesen Menschen gibt es aber noch einen dritten Teil der Bevölkerung Russlands, der ausgezeichnet weiß, was geschieht, der den Legenden von eurem Agitprop nicht glaubt, der versteht, was auf der Erde und in der Welt passiert, welche schrecklichen Verbrechen Eure Obrigkeit begeht. Aber diese Menschen haben Angst. Sie denken, dass nichts verändert werden kann, dass alles so sein wird, wie es ist, dass das System nicht gebrochen werden kann – du bist allein, wir sind zu wenige, wir werden alle im Knast schmoren, wir werden getötet, vernichtet. Und sie sitzen leise im Untergrund, wie Mäuse.
Wir hatten auch eine verbrecherische Regierung, wir sind aber gegen sie auf die Straße gegangen. Man wollte uns nicht hören – wir schlugen auf die Mülltonnen ein. Die Regierung wollte uns nicht sehen – wir verbrannten Reifen. Und am Ende haben wir gesiegt. Das wird früher oder später auch bei Euch passieren. In welcher Form weiß ich noch nicht. Ich möchte nicht, dass jemand Schaden nimmt. Ich möchte nur, dass Ihr nicht mehr von Verbrechern regiert werdet.
Also ist das Einzige, was ich Euch wünschen kann, ist dass der dritte informierte Teil der Bevölkerung Russlands keine Angst zu haben lernt.“
…
Ich hoffe, Oleh Senzow wird wieder das machen was er am besten kann: FILME.
Lernt keine Angst zu haben. Die Freiheit gibt es nicht umsonst.
Herzlichen Glückwunsch zum Unabhängigkeitstag, Ukraine!
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalmDeutsch verfasst.
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