
von Lila Palwelewa
Das Lefortowo-Gericht in Moskau hat zum wiederholten Male die Untersuchungshaftdauer für den ukrainischen Regisseur Oleh Senzow verlängert, dem die Bildung einer terroristischen Vereinigung auf der Krim und der Begehung von terroristischen Anschlägen beschuldigt wird. Senzow bestreitet seine Beteiligung an diesen Taten kategorisch. Im Gericht erklärte er, dass dies „keine Ermittlungen sondern eine spiritistische Sitzung in einem Krankenhauszimmer für Geisteskranke sei“.
Als die Richterin Margarita Kotowa mitteilte, dass Oleh Senzow nicht freigelassen wird, erklärte der Angeklagte:
„Das Vorgehen der Ermittler in dieser Frage zu kommentieren hat keinen Sinn. Das ist wie mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen – absolut nutzlos. Darum treffen Sie Ihre Entscheidung, machen Sie Ihre Arbeit. Ich kann Ihnen nur zum Neujahr gratulieren und Ihnen wünschen, dass das nächste Jahr zum letzten Jahr der Regierung Ihres verlogenen Regimes wird. Slawa Ukraini!“
Die Haftdauer von Oleh Senzow wurde bis zum 11. April verlängert. Zu diesem Tag wird er sich genau 11 Monate in Haft befunden haben. Auch wurde die Haftzeit für zwei weitere Angeklagte des „Krimer Terroristen“-Falls – Alexander Koltschenko und Alexej Tschirny – verlängert. Und erst kürzlich wurde bekannt, dass bereits am 17. Dezember im sogenannten „Krimer Fall“ ein erstes Urteil gefällt worden war: Hennadyj Afanasjew wurde zu sieben Jahren Haft strengen Regimes verurteilt.
Für viele kam dies überraschend, denn Afanasjew hatte mit den Ermittlern kooperiert und über seine „Komplizen“ ausgesagt. Es schien, dass gerade diesem Menschen eine sanfte Bestrafung garantiert sei. Was erwartet denn nun den Antifaschisten Alexander Koltschenko und den Regisseur Oleh Senzow, die ihre Schuld gar nicht eingestanden haben? Wobei die Journalistin und Menschenrechtlerin Soya Swetowa findet, dass das Gericht gerade gegenüber Hennadyj Afanasjew Nachsicht walten ließ:
– Die Sache ist, dass Hennadyj Afanasjew sich mit der Justiz geeinigt hat. Sein Fall wurde in einem Sonderverfahren verhandelt. Ihm drohten bis zu 20 Jahre Haft. Und da er seine Schuld anerkannt und Aussagen über die anderen Angeklagten des „Krimer Falls“ gemacht hatte, hat er auch nur sieben Jahre bekommen. Ich denke, dass man ihm auch so viel versprochen hat. Wenn es einen Deal mit den Ermittlern gibt, so wird da, glaube ich, entweder 2/3 oder 3/4 abgezogen, also ein Teil der Höchststrafe. Genau diese hat er auch bekommen, wenn die Obergrenze 20 Jahre war.
– Bedeutet das, wenn man ganz einfache arithmetische Berechnungen macht, dass gegen diejenigen Mitangeklagten, die ihre Schuld nicht anerkannt haben, eine viel substantiellere Strafe verhängt wird?
– Natürlich. Es scheint mir symptomatisch zu sein: wie bei diesem siebenjährigen Urteil so auch die Tatsache, dass die Verhandlung dieses Falles streng geheimgehalten wurde, sowohl von den Medien als auch von den Anwälten der anderen Angeklagten. Dieses Urteil wird nun zur Beweisgrundlage. Das wird zu so einer Präzedenzentscheidung, wenn man den Hauptfall verhandeln wird und auf der Anklagebank Oleh Senzow, Alexander Koltschenko und Hennadyj Afanasjew sitzen werden. Dieses Urteil ist schon vom Moskauer Stadtgericht angenommen worden, und da spricht Hennadyj Afanasjew darüber, dass Senzow der Organisator einer terroristischen Organisation war, und das wird zum Beweis von Senzows Schuld werden. Das ist sehr schlecht – das ist ein Signal für die anderen Angeklagten, dass falls sie ihre Schuld nicht anerkennen, ihre Haftdauer wesentlich länger wird. Ich glaube, nun ist die Zeit gekommen, in der Senzows und Koltschenkos Anwälte offener für die Presse sind, so dass man eine gesellschaftliche Kampagne zur Unterstützung von Oleh und Alexander organisieren kann. Sonst werden sie genauso im Stillen eingesperrt werden und bekommen große Haftstrafen.
– Wofür musste man die Geheimhaltung wahren, wenn Gennadij Afanasjew bereit war, mit den Ermittlern in vollem Umfang zu kooperieren? Was für eine Falle hätte denn hier sein können?
– Ich denke, der Grund ist, dass es ein Terrorismusfall ist. Vielleicht wird er deswegen im geschlossenen Verfahren verhandelt. Warum wusste keiner davon? Weil Hennadyj Afanasjew einen staatlichen Pflichtverteidiger hat, beziehungsweise einen Verteidiger, der mit den Ermittlern zusammenarbeitet. Afanasjew selbst kooperiert mit den Ermittlern. Überhaupt gibt es in diesem „Krimer Fall“ sehr wenig Informationen, weil alle Anwälte eine Schweigepflichterklärung unterschrieben haben. Darum weiß die Öffentlichkeit gar nicht, was das für ein Fall ist und welche Anklage erhoben wird. Wir kennen nur die äußerst ungefähren Formulierungen der Anklage, dass Senzow der Organisation von Terrorakten beschuldigt wird. Aber wir wissen auch, dass es auf der Krim gar keine Terrorakte gab. Ehrlich gesagt verstehe ich die Haltung der Anwälte von Senzow und Koltschenko gerade nicht ganz, da es dieses Präzedenzurteil in Afanasjews Fall schon gibt. Das Schema ist folgendes: Der Fall eines Angeklagten wird abgesondert und im Gericht verhandelt, und dann wird dieses Urteil zum Beweis der Schuld für die restlichen Angeklagten des Hauptfalls, die ihre Schuld nicht anerkennen. Natürlich wird Afanasjew zu einem Zeugen in ihrem Prozessverfahren. Das ist das Gleiche, wie im „Bolotnaja Fall“ mit Konstantin Lebedew gewesen war. Absolut das gleiche Schema. Also müssen die Anwälte nun auftreten und öffentlich darüber sprechen, was passiert.
– Aber wenn sie doch eine Schweigepflichterklärung unterschrieben haben, wie können sie denn jetzt etwas öffentlich bekanntmachen?
– Ich weiß es nicht, ich bin keine Anwältin. Aber ich weiß, dass es in den letzten Jahren viele solche politisch bestellte Strafverfahren gab, über welche die Öffentlichkeit weitaus mehr erfuhr, als über diesen „Krimer Fall“ von Oleh Senzow. Ja, die endgültige Anklage gegen Senzow oder Koltschenko wurde noch nicht erhoben, aber es gibt schon dieses Verfahren von Afanasjew. Wahrscheinlich darf also die Öffentlichkeit nun etwas mehr darüber erfahren. Ich spreche davon, dass es eine große Kampagne zur Verteidigung von Senzow und Koltschenko geben muss. Derweil hört man über diesen Fall weder in Russland noch in der Ukraine etwas. Die ukrainische Obrigkeit muss ihre Bürger auch schützen, denn im Unterschied zu Afanasjew, der seine ukrainische Staatsbürgerschaft abgelegt hat, empfinden sich Senzow, Koltschenko und Tschirny als Staatsbürger der Ukraine, sagt Soya Swetowa.
- Lesen Sie auch: Rede von Oleh Senzow im Gericht am 29. September 2014
Autor: Lila Palwelewa für svoboda.org; übersetzt von Irina Schlegel
2 Responses to “Der geheime „Krimer Fall“”
15/03/2016
#FreeSavchenko: Vertreter des russischen Kangaroo Court - InformNapalm.org (Deutsch)[…] die aus politischen Gründen in russischen Gefängnissen sitzen. Man muss im Grunde auch “Senzow-Liste”, “Koltschenko-Liste” etc. erstellen. Hier ist es aber eher die […]
24/08/2016
Zum Unabhängigkeitstag der Ukraine: Oleg Senzow und die innere Freiheit - InformNapalm.org (Deutsch)[…] hoffe, Eure Ehren, dass es nicht mein letztes Wort sein wird. Ich werde Sie genauso wie Sascha (Alexander Koltschenko) um nichts bitten und selbst auch keine Nachsicht empfinden – hier ist jedem alles klar. Das […]