
von Alexander Sytin
Vor zwei Jahren erklang auf einem geschlossenen Expertentreffen aus dem Munde der derzeitigen „Ukraine-Expertin“ T.Gusenkowa, die nach der Publikation des Artikels „Anatomie einer Niederlage“ vom Autor dieser Zeilen eine skandalöse Berühmtheit erlangt hatte, folgende These: „Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir (Russland) alles tun können, um unsere Positionen in der Ukraine zu halten“. Tatsächlich konnte sich keiner der bei diesem Gespräch in einem ruhigen Raum für Verhandlungen am Russischen Institut für strategische Forschungen Anwesenden vorstellen, wozu sie allem bereit sind.
Später gab es „analytische“ Notizen, Berichte bei der Föderalen Versammlung und im Generalstab über die Notwendigkeit der Entfaltung von diversiv-terroristischer Tätigkeit in der Ukraine mit dem Ziel der Destabilisierung der Lage und der Spaltung der ukrainischen Gesellschaft. Aber die Ukraine erwies eine für den Kreml und seine Taschen-Experten völlig unerwartete Stärke und den Willen zum Widerstand. Das Projekt „Neurussland“ versagte, das Potenzial der gangsterhaften „DVR“/“LVR“ reichte für eine Erweiterung dieser „staatlichen“ Neuformationen nicht aus, und die Krise der zunächst internationalen, und dann aber auch der wirtschaftlichen und inneren russischen Politik ging aus einer latenten Phase in eine offene, und nun gar – in die akute Phase über.
Hinter den kremlischen Wänden begann man dringend nach einem Ausweg aus der entstandenen Lage zu suchen. Dabei sollte man die außergewöhnliche Neigung zu historischen, politischen und ideologischen Denkmustern erwähnen, welche regierungstreue Experten und „effektive Manager“ mit Arbeitserfahrung in den Staatssicherheitsbehörden auszeichnet. Die Beförderung von (zurückgetretenen) Offizieren des KGB/FSB/GRU/SWR in immer weiter ansteigender Anzahl auf Machtpositionen vergeht für das intellektuelle Niveau der Staatspolitik nicht spurlos und straflos. Desorientieren-Erkaufen-Einschüchtern-am Ende Bezwingen – das ist der traditionelle Algorithmus der Tätigkeit solcher Administratoren. Sie sind imstande, jederzeit entsprechende menschliche Ressourcen in den Tiefen des marginalen gesellschaftlichen Abgrunds zu finden und sie zu mobilisieren.
In der Ukraine ist etwas schief gelaufen. Die Abstoßung der fernen wie auch der jüngsten „gemeinsamen“ Vergangenheit erwies sich als allzu stark, als zu groß – die Erfahrung des gemeinsamen Lebens mit den Russen, zu groß waren die erlebten Leiden, genauso wie sie bei den Polen, Finnen, Letten, Litauern und Esten zu groß waren. Die großmacht-chauvinistische imperialistische Offensive gegen den Westen, an die geopolitische Grenze an der Elbe, ist gescheitert. Es ist klar geworden, dass Osteuropa sich keine Schwäche bezüglich Russland erlauben wird.
Aber einen jahrhundertealten Traum hat der Kreml dennoch: einen Keil zwischen Europa und USA zu treiben, zwischen dem „alten“ westlichen Teil der EU und seinem „neuen“ Teil, der sich ihm 2004 angeschlossen hat, und der als die europäische Stütze und Vorposten der USA gilt. Zu verstehen, dass in der nach der Aggression gegen die Ukraine entstandenen Lage der westliche und der östliche Teil Europas unterschiedliche Ziele, Ängste und Erwartungen haben und dass für die einen die Bedrohung seitens Moskau aktuell ist, für die anderen jedoch seitens des Nahen Osten und Nordafrika – dazu hatten die prokremlischen Experten und Strategen doch noch genug Verstand.
Und nun, nach einer Reihe von erfolglosen Versuchen, eine Krise und die Spaltung der EU aus dem Balkan zu provozieren, haben sich Griechenland, Bulgarien, Montenegro und sogar Serbien schließlich doch von Moskau abgewendet, dessen Hoffnungen zusätzlich noch durch die Resultate der Referenden in Schottland und Katalonien zerschlagen wurden, und das nach einer neuen strategischen Angriffsrichtung suchen musste und diese nun gefunden hat: der Nahe Osten und das östliche Mittelmeer.
Moskau kennt die Schwachstellen Europas. Das Recht eines Menschen auf Leben und Sicherheit besitzt in Europa den größten Wert, im Unterschied zu Russland. Die europäische Gesellschaft ist entspannt und im Großen und Ganzen nicht bereit, die terroristische Bedrohung abzuwehren. Der Kreml bietet Hilfe gegen den IS an, der allen Furcht einflößt. Alles wie nach Noten: Russland kann bei Gesprächen über Legitimität und Souveränität seine Marionette Baschar al-Assad im Nahen Osten beschützen, der als internationaler Verbrecher anerkannt wurde und seit mehreren Jahren einen bewaffneten Kampf gegen sein Volk führt, wobei er angeblich im Interesse des europäischen Kleinbürgers agiert. Nebenbei kann man noch die Autorität des russischen Anführers in Europa stärken.
Russland hat einen „Vorteil“: Es ist absolut frei von jeglichen Moralprinzipien. Die USA und europäische Länder sind diejenigen, die darum besorgt sind, präzise Angriffe genau auf die Stellen auszuführen, wo der bewaffnete Gegner stationiert ist. Russland steht „drüber“. Seine Flugzeuge bombardieren alles, was in sein Feuer gerät, beziehungsweise alles, worauf Assad mit seinen Aufklärern zeigt, deren absolute Mehrheit ihre politische oder militärische Ausbildung in Moskau erhalten hat. Einem jungen Leser sollte man an dieser Stelle erklären, dass ein Ausländer solch eine Ausbildung in Russland nur erhalten kann, wenn er tief und ganz ins KGB/FSB/SWR/GRU-System integriert ist. Anderenfalls wird er nicht mal auf das russische Territorium gelassen. Dementsprechend haben alle Mitstreiter-Wehrexperten Assads Beziehungen zu russischen Geheimdiensten und stehen mit ihnen in Verbindung. Absolut ähnlich war die Lage in Irak und Libyen, deren Militärelite in der UdSSR/Russland erzogen und ausgebildet wurde, was für Jahrzehnte und Generation für Generation zum Alltag gehörte. Infolge des Arabischen Frühlings, des Sturzes von Diktatoren-Regimen und der Hinrichtung von Saddam Hussein und Muammar Gaddafi haben diese Menschen nicht nur ihren materiellen Wohlstand verloren – sie haben ihren privilegierten Platz in der Gesellschaft verloren, die ausschließlich nach Klan-Gesetzen aufgebaut war. Sie haben keinerlei Hoffnung auf die Wiederherstellung ihres einstigen Status. Und wer hat den Arabischen Frühling vom Zaun gebrochen?
Russische Medien antworten eindeutig: dieselben Kräfte, die auch das ukrainische Volk gegen Janukowytsch aufbrachten und mit ihrer ideologischen Einwirkung die gemeinsame historische und kulturelle Vergangenheit des russischen und ukrainischen Volkes durchzustreichen versuchen. Selbstverständlich ist die Rede von USA. Gerade die USA, und mit ihnen zusammen die ganze westliche Welt, sind zu einem persönlichen Feind aller Militärs, Aufklärer, der verschiedenen Mitarbeiter der Geheimdienste geworden, die in ihrem Leben nur eins gelernt haben: zu töten, provozieren, Diversionen und Terroranschläge organisieren. Es bleibt nur noch die Frage der ideologischen Komponente. Unter den Fahnen eines Klassenkampfes und proletarischen Internationalismus aufzutreten wird wohl kaum noch gelingen. Afghanistan hat sehr deutlich gezeigt, was die „Ausführer der internationalen Pflicht“ in einem fremden und nicht wirklich seinen Besatzern gegenüber gastfreundlichen Land erwartet.
Die explosive Mischung aus primitiv-egalitären Ansichten, arabischem Nationalismus und radikalem Islamismus in seine Gewalt zu bekommen, dessen zahlreiche Postulate man als populistische und antiglobale Slogans ausnutzen kann, hat keine Schwierigkeiten bereitet. Die russische Propaganda flimmert bereits relativ lange mit durchsichtigen Andeutungen darauf, dass der radikale Islamismus, insbesondere der IS, ein Kind der CIA sei. Die Geschichte sei in der Zeit des Widerstands gegen die sowjetische Aggression in Afghanistan entstanden, wobei mit Absicht vergessen wird, dass gerade die UdSSR sorgfältig die islamistischen, nationalistischen und sozialistischen Ideen, zum Beispiel in Palästina, durchkreuzte, womit sie die Erhaltung und Verstärkung ihres Einflusses in der arabischen Welt anstrebte, in erster Linie, um eine Bedrohung und Widerstand gegen Israel zu erschaffen, das traditionell auf die USA ausgerichtet war.
Gerade das Vermächtnis, den ehemaligen Einfluss der UdSSR am östlichen Mittelmeer zu erhalten und zu vergrößern, adressierte einer der missmutigsten und ominösesten Vertreter der sowjetischen Vergangenheit – Ewgenij Primakow – gegenüber Putin. Es gibt alle Gründe anzunehmen, dass der radikale Islamismus – zur heutigen Zeit der IS – vom Kreml gespeist und inspiriert wird. Was mit dem IS-Verbot in Russland ist? Naja, kann denn bei jemandem der Gedanke aufkommen, dass Russland sich offiziell mit dem radikalen Islamismus solidarisiert, der offen den Terrorismus als ein Mittel seines Kampfes erklärt? Russland hat sich schließlich auch nicht mit der „DVR/LVR“ solidarisiert, nur seine „humanitären“ Konvois dahin geschickt.
Russland ist sehr daran interessiert, als Teil Europas zu gelten, auf „gleichberechtigter Grundlage“ – wie Putin mehrmals erklärte – in das zivilisierte System der internationalen Beziehungen eingeschrieben zu sein. Und darum kann es zusammen mit dieser ganzen zivilisieren Welt nichts anderes als ein Opfer von Terroranschlägen sein. Und über Ägypten explodiert ein Flugzeug mit russischen Touristen… Lassen wir die Kommentare „Hätten-sie-doch-ihren-Urlaub-auf-der-Krim-verbracht-wären-sie-noch-am-Leben!“ beiseite. Erstaunlich ist hier wirklich, mit welcher Hastigkeit der IS die Verantwortung für den Absturz auf sich genommen hat. Man zweifelte den Fakt eines Terroranschlags noch an, und sie haben schon… Der Kreml hat kein Mitleid mit den Menschen: um seiner eigenen Interessen willen, die man in Russland üblicherweise als staatlich bezeichnet, geht er auf alles. Putin hat gesagt, er wird sich rächen? Daran besteht kein Zweifel – er wird sich zweifellos rächen! So wie er sich für die Wohnhäuser-Sprengungen in Moskau 1999 an Tschetschenien gerächt hatte. In Syrien rächt man sich gerade auch an jenen, die gegen die Diktatur von Baschar al-Assad kämpfen, und in dieser Rache haben sie keine Gnade mit Zivilisten, Frauen oder Kindern, wie sie auch keine in Afghanistan oder Tschetschenien hatten.
Und nun die Schlussakkorde dieser ganzen Sonderoperation. In Paris wurden monströse Terroranschläge ausgeführt, deren hohes Niveau an Vorbereitung und Abgestimmtheit alle Geheimdienst-Veteranen einmütig vermerken. Woher kommt denn solch eine Vorbereitung und Organisation bei den angeblichen Barbaren aus dem IS? Und wie gelegen! Akkurat vor Putins Auftauchen auf dem G-20-Gipfel! Und nun wird keiner von den demokratischen Anführern riskieren, Russlands Präsidenten zu ignorieren, der bereit ist, das Leben seiner eigenen Soldaten auf den Altar des Kampfes gegen den Weltterrorismus zu legen.
Und für diesen Dienst setzt er doch einen so kleinen Preis fest: die ausländischen Konten der Elite zu entsperren, Sanktionen abzuschaffen, die malaysische Boeing zu vergessen, die Krim, den Donbas, und Russland wenn schon nicht als ein globales Stärkezentrum anzuerkennen, so doch wenigstens als „Aufseher“ über den postsowjetischen Raum, und ihm zu erlauben, die Ukraine weiterhin zu bedrängen und in ihrer Entwicklung auf dem Weg nach Europa zu hindern.
Ist dies denn ein zu hoher Preis für den Erhalt der Ruhe und Sicherheit, für die Möglichkeit eines europäischen Kleinbürgers, seinen gewohnten Alltag beizubehalten? Und der Anschlag wurde ja nicht irgendwo ausgeführt, sondern in Frankreich, bei dem die dienstbeflissenen Historiker inständig an die hellen Momente der traditionellen Verbündetenbeziehungen erinnern. Gerade der französische Präsident steht unter dem ideologischen Druck, womöglich auch nur einem ideologischen, der vom Kreml gekauften N. Sarkozy und M. Le-Pen. Und was für eine Versuchung! Sich die Ruhe und Sicherheit auf Kosten der Militärausgaben Russlands und der Leben seiner Soldaten zu erkaufen! Denn Russland ist ja für Europa und die obengenannten Ziele nichts zu schade…
Es bleibt nur daran zu erinnern, dass vor über 70 Jahren der analoge Wunsch, die nationalsozialistische Bedrohung auf Kosten der Aufnahme der UdSSR in die antihitlerische Koalition zu liquidieren und die Nichtbereitschaft, direkt nach dem Ende des Krieges einen präventiven Atomschlag auf die UdSSR auszuführen, solange sie noch nichts hatte, womit sie antworten konnte – das alles verwandelte sich in eine fünfzigjährige sowjetische Besatzung, den Kalten Krieg und die faktische Spaltung Europas entlang der Elbe. Schwer zu sagen, ob diese fünfzigjährige Besatzung härter als die von Hitler war, die Tatsache aber, dass sie zehnmal länger war, braucht keine Beweise.
Der Politik des Westens liegt ein System der Werte und Prinzipien zu Grunde. Es sollte durch einen weiteren Punkt ergänzt werden: Unter keinen Umständen darf man mit einem Staat zusammenarbeiten, der auf der Weltarena in der Rolle eines aggressiv-terroristischen Imperiums auftritt. Ich wage eine Hypothese aufzustellen: Wenn die „russische Bedrohung“ nivelliert wird, wird die Aktivität des IS und die Bedrohung des Weltterrorismus als Ganzes plötzlich abschwingen und seine Existenz wird sehr schnell beendet sein, zumindest in den europäischen Ländern und USA.
Quelle: Alexander Sytin für hvylya.net; übersetzt von Irina Schlegel; Bild von Zora Klucnik
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