
von Irina Schlegel
In den letzten Tagen und Wochen ist in den russischen Medien eine deutliche Kehrtwende zu verzeichnen. Aus dem medialen Keller wurden staubige Begriffe herausgeholt, die vor über zwei Jahren als unnötiger Müll dort gelandet waren: „Brudervolk“, „Gemeinsame Vergangenheit“, „Eine Sprache“.
Es werden Interviews mit den Vertretern der „Volkswehr“ veröffentlicht, die tränenreich davon berichten, wie sie von der russischen Propaganda belogen und betrogen worden waren, wie sie gegen Faschisten kämpfen wollten, aber an der Front gar keine getroffen haben, wie sehr ihnen all das Leid tut, der Krieg sei von „Oligarchen erfunden worden“ und sie seien nur Marionetten im fremden Spiel.
Der Rubel war gestern bei 86 Rubel für 1 Dollar. Erdölpreis bei 27$ für Barrel.
Vor zwei Jahren, als all das begann, waren die Ukrainer überzeugt, dass es nur ein wenig Mühe bedarf, den Russen klar zu machen, wie sehr sie sich irren. Dass man nur richtig zu erklären braucht, dass sie weder Banderowzy noch Faschisten noch eine Junta sind. Dass sie auf dem Maidan die erste linke europäische Revolution seit 1968 verwirklichen, dass sie für Demokratie kämpfen und sich von der sowjetischen Vergangenheit befreien. Dass sie einfach nur ihren Weg gehen wollen. Am Anfang des Maidan standen erwachsene Männer auf Knien vor der Berkut-Einheit und baten darum, nicht auf das eigene Volk einzuschlagen. Sie wussten noch nicht, dass nicht nur auf sie eingeschlagen, sondern bald auf sie geschossen wird. Und dass Russland zur Aufrechterhaltung seines Protegé-Regimes in der Ukraine seine Streitkräfte hinschicken wird. Erst nur reguläre Speznas-Trupps, und später – ganze Truppenverbände. Sie wussten noch nicht, dass die Krim hinterhältig besetzt wird und Russen daraufhin in den Donbas kommen werden, die nur einen Wunsch haben, über den sie in allen sozialen Netzwerken, von den TV-Bildschirmen und von den Seiten der Zeitungen unmißverständlich schreien werden: „Wir wollen die Ukros brennen sehen!“
So etwas kam damals niemandem in den Sinn und wenn damals jemand auf dem Maidan so etwas gesagt hätte, hätten die Ukrainer ihn wohl für wahnsinnig gehalten.
Die Revolution war vollbracht. Im Land herrschte einerseits das Gefühl der langersehnten Befreiung, andererseits aber auch Chaos, hitzige Diskussionen und Trauer über die getötete Himmlische Hundertschaft. Aber die Russen wollten nicht mal Zeit für Trauer lassen: Gerade mal 5 Tage nach der Revolution gingen besorgniserregende Nachrichten aus der Krim ein. „Grüne Männchen“, „höfliche Armee“. Russland nutzte die allgemeine Ratlosigkeit und Ungläubigkeit der Ukrainer aus, um unter vorgehaltenen Waffen das sogenannte „Referendum“ abzuhalten, während die Ukrainer ihre Verwandten und Freunde in Russland anriefen, im Internet per Skype und Facebook ihre russischen Freunde, Verwandten, Bekannten, Kommilitonen, Mitschüler anschrieben, alle mit der gleichen Frage: „Was macht Ihr denn? Das kann doch nicht sein. Das ist ein Irrtum. Wir sind doch keine Faschisten. Wir waren es doch vor zwei Monaten nicht, wie kannst Du glauben, dass ich es JETZT bin? Was ist nur los mit Dir?“. Das war wohl die Hauptfrage jener Zeit – wenn es sowas wie andere Zivilisationen geben sollte, müssten sie es sogar aus dem All gehört haben: „WAS IST LOS MIT EUCH?“
Nichts war los. Ein Land, das seine sowjetische Vergangenheit nie abgelegt hatte, ein Volk, das sich in seinen Machtbestrebungen betrogen fühlte, ein Land, dem in den 1990ern die Freiheit geschenkt wurde, es daraus aber nur Geld machen konnte, ein Volk, das nie Geld hatte und plötzlich an welches heran kam, war nur damit beschäftigt, seinem Leibe Gutes zu tun. 23 Jahre lang kümmerte sich niemand darum, sich seiner Verantwortung und Schuld für Verbrechen bewusst zu werden, die zu Sowjetzeiten begangen wurden, niemand wollte bei den Polen, Litauern, Tschechen usw. um Verzeihung bitten („Wer? Wir? Wir haben sie vom Faschismus befreit!“) – und nichts weiter, keine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema. Kein Versuch, die zu Stalins Zeiten Repressierten und Ermordeten auszugraben und menschlich zu beerdigen. Wozu? In ihrem Boden gab es Erdöl und Gas – und die Welt zahlte dafür sehr viel. Man konnte eine Wohnung kaufen, französischen Käse, deutsches Bier und italienische Klamotten. Und weiter die Nase rümpfen: „Europa zerfällt! Schaut es nur an! Langweilige stumpfe Bourgeoisie!“ Und nach Jahren dieses Lebens in relativer finanzieller Sicherheit kam der Wunsch nach mehr. „Was ist eigentlich mit dem russischen Imperium? Wir waren doch so groß. Wieso haben wir diesen Untermenschen unsere Territorien abgegeben? Ihr habt die Sowjetunion und ihre Macht verpufft! Wir hätten den Kalten Krieg gewinnen sollen! Der Russische Bär! Russen geben nie auf!“ Und sie wählten sich einen Führer aus, der Leib vom Leib der UdSSR war, einen KGB-Sprössling. Und ließen ihn immer weiter regieren, immer weiter morden und immer weiter lügen. Weil er ihre tiefsten Wünsche nach Macht erfüllte. Er war die Verkörperung der absoluten, skrupellosen Macht und Gier, die sich nicht mal tarnte. Und dann kam 2014. Sie haben die Olympischen Spiele gewonnen. Höchstwahrscheinlich den ersten Platz gekauft, aber wen interessiert das schon. Und warum nicht, wenn es keiner herausfindet?
Der Jubel über die Einnahme der Krim war beispiellos. Das Land versank in Hysterie. Es wurden T-Shirts mit Putins Abbild gedruckt, Frauen gaben Liebeserklärungen an den Präsidenten ab, die Russen lachten über europäische Sanktionen und verhöhnten die Ukrainer. Und niemandem von ihnen kam es in den Sinn, dass die „Rückkehr der Krim“ in Wirklichkeit eine menschenverachtende, heimtückische, scheussliche Tat war, Diebstahl und Raubzug. Niemanden von ihnen interessierte, dass Tausende ukrainischer Patrioten ihr Haus verlieren und flüchten mussten, dass die Krimtataren unterdrückt werden – niemanden von ihnen interessierte das Leid ihres „Brudervolkes“. Von den 13 Millionen Einwohnern Moskaus kamen am 15. März 2014 gerade mal 50 000 zu einer Demonstration gegen die Annexion der Krim.
Die Ukrainer hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, was auf der Krim geschah. Im Osten des Landes begannen separatistische Kundgebungen, unterstützt und finanziert von Russland. Ukrainische Patrioten, die versucht haben, dagegen vorzugehen, wurden abgeführt und später mit aufgeschlitzten Bäuchen in den Wäldern gefunden. Menschen verschwanden. Viele schlossen sich zuhause ein und wollten nichts mehr dagegen tun. Arbeitslose und Stadtalkoholiker hatten auf einmal Waffen. Grüne Männchen, gefolgt von lokalen Arbeitslosen, nahmen Stadtrat-Gebäuden ein, ukrainische Flaggen wurden abgerissen, in den Donbas kamen russische „Freiwillige“. In Wirklichkeit: Vom Kreml rekrutierte ehemalige Soldaten. Menschen, die sich ein Leben ohne Krieg gar nicht vorstellen können. Girkin. Süchtige. Mörder aus Berufung.
Monument der ukrainisch-russischen Freundschaft in Kramatorsk. Februar 2015. Russischer Raketenangriff auf Wohnviertel
Und dann floss Blut. Die Ukrainer begaben sich in den Kampf gegen den heimtückischen „Bruder“, der sie nicht nur überfiel, sondern Lügen über sie in der ganzen Welt verbreitete und gar nicht zugeben wollte, dass Tausende russische „Brüder“ entsendet wurden, um die Ukrainer zu töten… Die Ukrainer hatten aufgehört zu staunen und zu bitten: Freiwillige gingen an die Front, andere Freiwillige organisierten Essen, Uniformen, medizinische Hilfe – einfach alles, was ein Land in einem Kampf gegen Mordor brauchen kann. Das war eine beispielhafte Selbstorganisation eines Volkes. Ein Beispiel für das wahre Bürgerbewusstsein. Jeder hat eine Aufgabe auf sich genommen und sie verantwortungsvoll ausgeführt. Ohne Anspruch auf Anerkennung und Beifall. Schweigend. Und eben damit rechneten die „Brüder“ nicht – dass sie auf so einen Widerstand stoßen werden. Sie wurden immer wütender und hinterhältiger, schickten schließlich im Sommer 2014 reguläre russische Truppenverbände in den Donbas, versuchten auf jedwede Art, die Ukrainer zu bezwingen. Nur ist es ihnen nie gelungen…
Ich möchte hier einen Text von einem Cyborg anführen, Ruslan Karimow. Einem, der sein Land an jenem Ort verteidigte, der zum wahren Fegefeuer wurde, gleichzeitig aber auch zur größten Hoffnung der Ukraine. 242 Tage lang haben die Cyborgs den Flughafen verteidigt, und nur durch Niederträchtigkeit und Gemeinheit hat der Feind das einnehmen können, was zum 19. Januar 2015 vom Donezker Flughafen übriggeblieben war…
„Ich habe aufgehört, russische Offiziere für Menschen zu halten, als sie ihr Offiziers-Ehrenwort gaben, unsere eingekesselten ukrainischen Kolonnen durch den „grünen Korridor“ bei Ilowajsk zu lassen.
Ich habe aufgehört, sie für Offiziere zu halten, als die getöteten „verirrten“ Pskower Fallschirmjäger und Richtschützen aus Tschetschenien wie Hunde ohne Namen und ohne Totenmesse auf den Kartoffelfeldern nahe Rostow begraben wurden.
Aber die größte Niederträchtigkeit, die russische „Offiziere“ begingen, war als sie zu uns mit der Bitte gekommen waren, ihre Toten und Verwundeten aus dem Keller des neuen Terminals im Donezker Flughafen herauszuholen und mitzunehmen. Sie nutzten Edelmut und Menschlichkeit der ukrainischen Kämpfer aus, und verminten hündisch Stützen, Pfeiler und sonst was alles, was man nur verminen konnte in diesem dreifach verfluchten Terminal… Im Kampf war es ihnen nicht gelungen, denn der russische Abschaum, der sich für einen Soldaten hält, kann nur gegen die zivile Bevölkerung von Tschetschenien, Georgien, Syrien kämpfen, sowie er auch die Zivilisten der Ukraine vorschiebt.
Heute ist der erste Jahrestag, ein schwerer Jahrestag, gleichzeitig aber auch der ruhmreiche Jahrestag des ukrainischen Soldaten…
Am 19. Januar 2015 wurden der Keller, das erste Stockwerk und der Boden des zweiten Stockwerks vermint und gesprengt, das letzte stürzte am 22. Januar endgültig hinunter und hat unter seinem Beton die letzten Verteidiger des Donezker Flughafens namens S. Prokofjew begraben!
Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Post richtig schreiben soll, denn mir persönlich fällt es sehr schwer. Wenn ich daran denke, wie gewaltig die Explosion war, die das ganze Terminal zusammenstürzen liess, habe ich einen Kloß im Hals, wegen den Jungs, die gestorben sind, sich aber dem Feind nicht ergeben haben. Aus eigener Erfahrung weiß ich, was eine Gehirnerschütterung [durch eine Explosion] bedeutet, was ein Leben ist, das dich Tropfen für Tropfen verlässt, wenn du denkst, dass du aufstehst, in Wirklichkeit aber nur dein Mundwinkel sich bewegt hat… Es tut mir weh, sich dessen bewusst sein, wie unsere Brüder starben, in ihrem letzten Kampf…
Manche von ihnen waren noch am Leben, konnten aber nicht unter den Trümmern hinausklettern, sie versuchten um Hilfe zu schreien, ihre Wunden zu verbinden, das Handy herauszuholen, um zum letzten Mal die Stimme der geliebten Menschen zu hören… Aber sie starben alle, nach und nach, in diesen Betontrümmern, verstümmelt, gequetscht, erfroren, denn draussen war es nachts -25 Grad. Aber sie blieben unbesiegt, sie blieben Cyborgs.
Und jene, die noch einen Hauch Leben in sich hatten, aber nicht mehr laufen konnten – ihnen wurde der Todesstoß von russischen „Offizieren“ gegeben, den „Cleanern“.
Das ist sehr schmerzhaft.
Aber ihr heldenhafter Tod hat uns, den lebenden Kämpfern der Ukraine, einen riesigen Glauben an sich selbst geschenkt, die Sicherheit, dass wir den Menschen stolz in die Augen sehen können, und dass Debalzewe, Staniza Luhanska, Redkodub, Wuhlehirsk, Schyrokyne, Schtschastja, Marjinka und der Donezker Flughafen dafür ein Beispiel sind.
Ewiges Andenken an die für die Freiheit der Ukraine gestorbenen Kämpfer und sollen sie im Frieden ruhen!
Meine Seele brüllt und reisst sich in den Himmel los,
Sie blutet und kennt den Geschmack des bittern Sieges,
Sie hat keine Gestalt, wie das Vagabunden-Gewand,
Sie ist entflammt, wie ein Papierblatt vom Feuer…“
Ruslan Karimow, den 19. Januar 2016
Wir glauben wohl nicht an die neuesten Erklärungen des „einfachen Volkes Russlands“ über „Bruderliebe“ und das „Belogen-Werden-durch-das-Fernsehen“. Das „einfache Volk Russlands“ lechzte nach Blut und war freudig erregt über jeden Mord an „Ukros“, es feierte den Diebstahl einer ganzen Halbinsel und wollte uns alle brennen sehen. Wir leben zu Zeiten des Internets – alles ist da, all ihr Hass und Niederträchtigkeit, ihre Rage und Rausch, abgespeichert in den Annalen, für alle Ewigkeit. In dem jetzigen Versuch, sich mit uns zu versöhnen, hören wir Enttäuschung darüber, dass es nicht nach ihnen gegangen ist. Weder sehen wir Einsicht noch hören wir aufrichtige Reue.
Bleibt wo Ihr seid, in Moskauer Sümpfen, und lasst uns in Ruhe. Wir sind keine Brüder. Leider seid Ihr unsere Nachbarn, denen gegenüber wir nun immer wachsam sein werden.
Slawa Ukraini! Ruht in Frieden, Helden.
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel für InformNapalmDeutsch verfasst. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf den Autor und unsere Quelle erforderlich.
CC BY 4.0
One Response to “16-20. Januar 2015: Im Gedenken an die Cyborgs”
29/04/2017
Mediale Manipulationen, oder wie ein osteuropäisches Land dafür gepeinigt wird, sich aus seiner sowjetischen Vergangenheit befreien zu wollen - InformNapalm.org (Deutsch)[…] riefen ihre Verwandte in der Ukraine an, um sie zu beschimpfen und für „Faschisten“ zu erklären. Diese „einfachen Menschen“? Oder die ukrainischen Frauen, die furchtlos an die Front […]