
Von Tatjana Orel
Der russische Schriftsteller, Publizist und Gründer von SOTNIK-TV, Alexander Sotnik, erzählt im exklusiven Interview mit dem Verlagswerk „Gordon“, wem Moskaus Bewohner die Schuld für den Tod von Boris Nemzow geben, wie die Welt durch den FSB verbreiteten Faschismus befreit werden soll und was Russland erwartet.
Alexander Sotnik muss niemandem vorgestellt werden, der den Internet-Kanal SOTNIK-TV kennt, auf dessen Seite beinahe täglich Videos mit Umfragen von den Bewohnern von Moskau zu den unterschiedlichsten, aber immer schmerzhaften Themen erscheinen. Sotnik fängt die Stimmung der Russen mit dem Mikrofon ein, und macht das bei weitem ehrlicher als die kremlfreundlichen Meinungsinstitutionen: die Antworten in die Kamera sind offensichtliche Belege für ihre Authentizität.
Es kam dazu, dass während wir über das Interview mit Alexander Sotnik verhandelten, der Journailst des Verlagswerkes „Gordon“ ihn in dem Augenblick anrief, als er seine Reportage am Todesort von Boris Nemzow aufnahm und einfachen Bürgern, die zum Gedenken an den Oppositionellen kamen, eine einzige und gewöhnliche Frage stellte: „Wer ist der Mörder?“.
Obwohl sich die Frage Alexander Sotnik selbst sofort beantwortet hat, als er die tragische Nachricht erfuhr:
Die Mörder sind nicht gefasst. In der Stadt, in der durchgehend Polizisten, der Sicherheitsschutz, Wächter und das Gejammer der Sicherheit herrschen. In der Landeshauptstadt, in der der Geheimdienst Zar und Gott ist...Wo ein KGB-Abkömmling regiert…Und sie suchen auch nicht. Weil der Auftraggeber – Putin ist. Ich wiederhole: keine einzige kleine proputinsche Nisse hätte es gewagt, Boris auch nur mit einem Finger anzurühren. Kein einziger! Einfach, weil Boris eine wirklich wichtige Figur ist. Und was auch immer Peskow durch seinen Bart meckert – das ist die billige „Entschuldigung eines an Zäunen stehenden Posers“, was sein kleiner Pate im Grunde genommen auch ist. Ohne Abruf bewegt sich kein Knüppel in diesem Land, kein Stückchen Papier wird mal eben schnell unterzeichnet und mit Sicherheit wird keine „Makarow“ gar einen einzigen Schuss abfeuern…
Am Morgen des 1. März, als die Moskauer noch zögerten, ob sie nun zum Gedenkmarsch von Boris Nemzow gehen oder doch eher nichts riskieren sollten – man weiß ja nie, welche Konsequenzen eine regierungskritische Massenkundgebung mit sich bringen könnte, – wandte sich Alexander Sotnik im Facebook an sie: „Befreit euch von eurer Angst. Sie macht keinen Sinn. Die Angst vor den Ljubljanka-Bastarden wird euch und das Land vernichten. Deshalb – kommt unbedingt. Lasst uns sehr, sehr viele sein… Im Idealfall würde ich Putin erwürgen. Ich verstehe jedoch, dass es mir heute höchstwahrscheinlich nicht gelingen wird… Obgleich es schade ist..“
2010 hat er seine Unterschrift unter den Brief „Putin muss gehen“ gesetzt. 2011 schrieb er einen Brief an Medwedew, zu der Zeit- Präsident der Russischen Föderation, mit der Meldung darüber, dass er die Staatsbürgerschaft des Putinschen Russlands ablehne, und verbrannte sogar eine Kopie seines Passes.
Er ist sich im Klaren, dass es für einen Menschen mit bürgerlicher Position immer gefährlicher wird, in Russland zu leben und zu arbeiten. Im Heute kann man ohne Weiteres wegen zum Beispiel eines gelb-blauen, ukrainischen Bandes einfach hinter Gittern landen. Und für die einfachen und doch sehr unangenehme Fragen, die Sotnik Moskaus Bewohnern stellt, – erst recht. Doch er ist der Meinung, dass er den Russen dabei helfen muss, das Wesentliche dessen zu verstehen, was im Land geschieht.
– Alexander, was denken Sie, warum wurde Boris Nemzow getötet? Er ist doch nicht der einzige Oppositionelle in Russland? Gott bewahre selbstverständlich, dass dieses Schicksal jemand anderen widerfährt…
–Nemzow war wohl der charismatischste russische Politiker. Der Mord an Nemzow ist ein schwerer psychologischer Schlag. Worauf, wie ich verstehe, auch spekuliert wurde. Die Handlungen der Opposition werden nun fließend ins Nichts übergehen. Zunächst einmal. Doch es wird alles in einem geschlossenen Kessel brodeln. Und das ist sehr ungünstig für die russische Führung, denn es wird ein von ihr nicht zu kontrollierender Prozess ablaufen. Und wann dieser Kessel explodiert, weiß niemand.
– Sie haben am Tatort eine Reportage gedreht. Was denken die Moskauer, wer das getan hat?
– Dass der Auftraggeber sich 100 Meter vom Tatort befindet – im Kreml.
– Sie haben doch die Leute gefragt, die das Ganze ohnehin verstanden haben, – anderenfalls wären sie einfach nicht mit Blumen zum Sterbeort von Boris Nemzow gekommen. Doch in der Regel sind ihre interviewten Moskauer nicht immer geschlossen in ihren Antworten.
– Um eine Umfrage aufzunehmen, muss man auf nicht weniger als fünfzig Personen zugehen. Und nur ein Zehntel davon erklärt sich bereit, in eine Kamera zu sprechen. Alle anderen verstecken ihre Augen und laufen weg. Dieses Land ist in Angst versunken, sie schwebt in der Luft. Putin hat sie gesät.
– Auf ihrem Kanal gab es eine Umfrage zum Thema „Wer wird siegen – Russland oder die Ukraine?“ Das interessante daran: die kremlische Regierung behauptet, es gäbe keine russischen Streitkräfte im Donbass, und die Russen fallen ihr durch ihre Antworten in den Rücken, indem sie ihre Bereitschaft in die Ukraine kämpfen zu gehen in die Kamera bekunden. Also, verstehen sie selbst, dass er lügt?
– Sie haben nicht darüber nachgedacht. Quasi, auch wenn es keine russischen Streitkräfte in der Ukraine gibt, werden wir trotzdem siegen. Und verwandeln Amerika in radioaktiven Staub. Russland – vorwärts! Alles andere ist unwichtig.
– „Die zivilisierte Welt muss eingreifen, um den Planeten vom FSB verbreiteten Faschismus zu befreien“, – haben sie auf ihrer Facebook-Seite nach dem Tod von Boris Nemzow geschrieben. Doch auf welche Weise?
– Im Westen gibt es doch nicht nur hollywooder „007-Agenten“, sondern auch echte. Wenn eine Person zum globalen Problem wird, muss der Westen etwas gegen diese Person unternehmen. Und das Problem gemeinsam lösen.
– Ehrlich gesagt, träumten viele Ukrainer davon, dass aus Minsk, wo vor Kurzem die Verhandlungen im Normandie-Format stattfanden, Putin direkt nach Den Haag fahren würde, um vor dem internationalen Gericht zu erscheinen. Leider… Und zur selben Zeit in Russland ist ein neuer Feiertag eingeführt worden – Tag der Spezialkräfte.
– Mit diesem Feiertag versucht Putin seinen Satrapen, Halunken und Barbaren das siegbringende Halo beizumessen. Am Tage rief man den Feiertag ins Leben und am Abend wurde er begangen – mit vier Schüssen auf Nemzow.
– Das russische «Lewada-Institut» publiziert laufend Umfrageergebnisse zum Thema „Putins Unterstützung durch die Russen“. Die jüngste Umfrage zeigte, dass 86 Prozent Ihrer Landsleute ihn unterstützen. Darüber, wen und wie die kremlischen Soziologen befragen, kann man nur spekulieren. Ihre Umfragen dagegen – im Licht der Öffentlichkeit. Man mache einfach nur ihre Seite auf und siehe sich das Videoarchiv durch. Hat das Lewada-Institut nun ihre eigene Statistik und Sie Ihre. Was sagt sie aus?
– Ich denke, dass tatsächlich 30-35 Prozent der Russen Putin unterstützen und an ihn glauben. 45 Prozent leben im tiefen Schock und in Angst. Sie versuchen einfach nicht aufzufallen – das sind nämlich die, die vor der Kamera auf die andere Straßenseite flüchten. Und die Übrigen entdecken in sich den Mut Stellung zu beziehen.
– Eines ihrer Themen berührte die europäische Wahl der Ukraine. Wie sich herausstellte, missfällt sie Moskaus Bewohnern. Und die kaputten Straßen im eigenen Land, niedrige Löhne, Zensur und die übrigen «Segen» der russischen Zivilisation – das alles ist ihnen recht?
– Die Wunschbilder der imperialistischen Denkweise sind sehr lebendig: die Ukraine, so die Meinung vieler, – das ist das Randgebiet Russlands. Deshalb ist die Krim unser, und Kiew, und Charkiw, und Odessa. Das alles kommt doch aus der Zombie-Kiste, wie auch die Propaganda zum Bruderkireg. Die Menschen sind nicht gewohnt selbstständig zu denken, zu analysieren, Informationen zu vergleichen. Sie schlucken das, was ihnen vorgekaut wird, ohne dabei auf die Qualität dieses Produkts zu achten. Meiner Meinung nach, sind alle, die im Ostankino arbeiten, waschechte Verbrecher.
– Sie könnten sich doch auch irren, zu Opfern der eigenen Propaganda werden, so gesagt.
– Ich nehme an, dass nur ein kleiner Teil sich irren kann. Die anderen wissen doch ganz genau, was sie anrichten, indem sie ihr Zaster dort verdienen. Für Russland ist das allerdings eine große Tragödie – dass sich der Journalismus in keinster Weise von der Prostitution unterscheidet. Das «Musterbeispiel» des russischen Journalismus – der TV-Sender LIFENEWS…
– … Journalisten, die auf wundersame Weise am Ort der Beschüsse und Explosionen im Donbass erscheinen, bevor die Tragödien geschehen. Was denken sie, was erwartet Russland?
– Das Schlimmste, was dem Land hätte passieren können, ist bereits geschehen. Nun habe ich Angst um die Menschen, die nicht begreifen, wohin sie hineingeraten sind, die nicht verstehen, dass sie Zeiten von höhlenhafter Dunkelheit erwarten. Doch wie sagt man in der Ukraine: «Die Augen haben gesehen, was sie erwarben». Sie haben sich das selbst ausgesucht.
– Meinen Sie, dass in Russland etwas von den Menschen abhängt?
– Und das ist eine sehr bequeme Haltung: «von mir hängt nichts ab». Wenn ich zum Beispiel so denken würde, gäbe es den Übertragungskanal SOTNIK-TV nicht. Alle schreien bei uns über die Orthodoxie. Solch religiöse Werte, dass sie schon knirschen. Und über die Entscheidungsfreiheit spricht kein Mensch. Wir wurden dieser Freiheit beraubt. «Von mir hängt nichts ab» – ist ein absolut diabolisches Postulat. Diese Haltung der Russen nutzen die verdammten russischen Geheimdienste aus. Ich bin der Meinung, dass von jedem einzelnen Menschen sehr viel abhängt.
– 2011 haben sie einen Brief mit der Ablehnung der russischen Staatsbürgerschaft an Medwedew, zu der Zeit dem Präsidenten der Russischen Föderation, verfasst. Hat die Regierung auf irgendeine Weise darauf reagiert?
– Gar nicht. Auf dem Platz des Triumphes verbrannte ich die Kopie von meinem Pass. Putinsche „Journalisten“ verspotteten mich: «Warum verbrennen sie nicht ihren echten Pass?». Doch ich habe die Fake-Staatsbürgerschaft von Putins Russland abgelehnt, und deshalb verbrannte ich eine Kopie. Ich erkenne die Regierung nicht an, ich erkenne ihren Präsidenten nicht als legitim an, ich erkenne die Staatsduma und all diese Gesetze, die sie erliess, nicht an.
– Wie lebt es sich mit diesen Prinzipien? Gehen Sie ohne sich umzusehen durch die Straßen?
– Schwer lebt es sich. Aber was soll man machen? Einer muss doch diesen Job erledigen, um die Gesellschaft darüber zu informieren, was in Wirklichkeit in diesem Land geschieht. Ich fühle mich keineswegs als Held, doch verstehe ich gut, dass es für mich nicht ungefährlich ist, in Russland zu leben. Doch ich bin mir im Klaren, was ich tue.
Sascha Sotnik im gordonua.com; Interviewer: Tatjana Orel; übersetzt von Kateryna Matey.
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