
von Wladimir Pastuchow, einem russischen Doktor der Politikwissenschaften
Boris Nemzow wurde ermordet. Der erste politische Mord solchen Ausmasses im postkommunistischen Russland. Ist er auch der Letzte?
Schmerz, Ohnmacht, Ratlosigkeit, Mitleid für die Nahestehenden – sie haben niemanden, mit dem sie ihr Leid teilen könnten, auch wenn sie von Millionen bemitleidet werden. Die Menschen, die Boris Nemzow besser als ich kannten, werden mehr über ihn schreiben. Ich habe ihn nur einmal getroffen, während der 90er, die uns nun ungetrübt erscheinen. Ein schöner, offener, leichter Mensch. Ein wenig naiv und wegen dieser Naivität – bezaubernd. Er hatte alles Nötige, um sich anzupassen und ein wolkenloses Leben zu führen… Er hat einen anderen Weg gewählt, hat sich verbohrt, ist standhaft geblieben. Nun ist er zum Symbol geworden.
Versionen aufstellen, Prognosen machen, Bewertungen abgeben – für all das ist noch zu früh. Die Situation wird sich nun jede Stunde ändern – und gleichzeitig wird nichts besonderes passieren. Das Leben wird wieder seinen gewohnten Lauf nehmen. Auch das wird vergehen. Aber die Spur wird bleiben und eine sehr tiefe, sie wird sich nicht verwischen lassen. Noch eine Kerbe am Stamm der Obrigkeit. Wieviele solche Kerben wird es noch geben, bis der Stamm zerbricht: Tausende, Millionen – wie im letzten Jahrhundert? Oder reichen doch nur ein-zwei, denn der Stamm ist längst von innen verfault? Noch ein Schritt dem Chaos entgegen.
Paradox ist hier, dass es für die Geschichte gar nicht so wichtig ist, wer es getan hat. Also, es ist wichtig vom moralischen und juristischen Standpunkt aus, aber nicht vom politischen. Denn, wen immer die Obrigkeit heute ein Mörder nennt (im weiten Sinne des Wortes: diejenigen, die es direkt ausgeführt haben, und diejenigen, die den Befehl abgegeben haben, und diejenigen, die alle Glieder in eine Kette verschmolzen haben) – niemand wird ihnen glauben.
Selbst wenn sie plötzlich die Wahrheit sagen würden. Das Regime hat schon so viel gelogen, sich in den letzten 10 Jahren so dermassen kompromittiert, dass sein Wort nichts mehr Wert ist. In einer Gesellschaft, wo die Information vollständig durch Propaganda ersetzt worden ist, gibt es keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge. Die Obrigkeit, die zu oft „Wölfe!“ schrie, kann mit Vertrauen nicht rechnen.
Man kann mir widersprechen: Wer ist denn „die Gesellschaft“? Die berüchtigten 84% werden nicht mal merken, was passiert ist, und wenn sie es merken, werden sie ohne gross zu überlegen einer für sich behaglichsten offiziellen Mordversion Vertrauen schenken. Das Problem ist, dass diese aus der historischen Asche auferstandene „aggressiv-gehorsame“ Mehrheit keine Gesellschaft darstellt – sie sind historische Komparsen. Wenn andere Zeiten kommen – und sie werden sowieso kommen, denn die Naturgesetze hat noch keiner abschaffen können – dann wird diese Mehrheit mit dem gleichen Enthusiasmus eine andere, diametral entgegengesetzte Version unterstützen – jene, die genau diese 16% anbieten werden.
Also wird Boris Nemzow noch zurückkommen, aber in einer anderen Windung der russischen Geschichte. Und dass er zurückkommen wird – daran braucht man gar nicht zu zweifeln, egal was für eine phantastische (oder sogar wahrhaftige) Version des Mordes die Obrigkeit in der nächsten Zeit präsentieren wird.
Möglicherweise ist es ein Signal zu Repressionen. Aber auf jeden Fall ist es Agonie, das Ende der Vertikale der Macht. Letztendlich ist so ein Mord nur ein äusserer Ausdruck des tiefsten Chaos, das innerhalb der Machtstrukturen herrscht, und des Chaos, das sich in den Köpfen der regierenden Elite eingenistet hat. Das war offensichtlich für diejenigen, die verstanden haben, wie der Mechanismus der Macht im modernen Russland funktioniert.
Nun wird es offensichtlich für eine weitaus grössere Menge der Menschen. Die Krankheit brach am Körper des Regimes mit schrecklichem, blutigem Ausschlag aus. Russland ist tatsächlich unlenkbar, die linke Hand weiss nicht, was die rechte tut, niemand kann sich in Sicherheit wähnen, überall herrscht Gewalt und Willkür.
Nemzow wurde demonstrativ an einem sakralen Tag und an einem sakralen Ort ermordet. Zwanzig Jahre nach dem Mord an Listjew, zwei Tage vor dem Oppositionsmarsch, wenige hundert Meter von Putins Residenz entfernt. Das ist sogar für Russland too much. In einer normalen Situation müsste die Führung der Geheimdienste zurücktreten. Aber Russland wird von einer Kaste der Unberührbaren regiert, sie haben keine Zeit, sich um solche Kleinigkeiten Gedanken zu machen, sie sind mit globalen Ideen erfüllt – wie man die Verfassung ändert, um sich von Verweisen auf das internationale Recht zu befreien.
Was immer in Russland geschieht, was immer für monströser Nachhall kommen sollte – niemand wird es jemals verantworten, ausser den einfachen direkten Ausführern.
Quelle: Wladimir Pastuchow in novayagazeta.ru; übersetzt von Irina Schlegel
P.S. Wir erinnern Euch daran, dass heute genau ein Jahr seit der Annexion der Krim vergangen ist…. Jemand hat es sehr nötig, die Weltgemeinschaft von dieser Tatsache abzulenken…..
8 Responses to “W.Pastuchow: Zu spät zu schreien. Boris Nemzow wurde ermordet.”
01/03/2015
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13/03/2015
W.Pastuchow: Politische Rekonstruktion der Ermordung von Nemzow. - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Fakten, die eine Analyse möglich machen würden, lässt uns bis jetzt nur politische Versionen des Mordes an Boris Nemzow behandeln, das heißt, prüfen, welchen politischen Kräften dieses Verbrechen zu diesem Zeitpunkt […]
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07/11/2015
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