von Irina Schlegel
In der letzten Woche fanden in der Ukraine zwei aufsehenerregende Ereignisse statt, die beide mit ehemaligen ukrainischen Piloten und anerkannten „Helden der Ukraine“ zu tun hatten.
Wir alle erinnern uns an das Jahr 2016, als die ukrainische Pilotin Nadeschda Sawtschenko endlich freigelassen wurde, die 2014 von Russland illegal entführt, in Gewahrsam gehalten und später zu 20 Jahren Haft verurteilt worden war – sie wurde gegen zwei russische Aufklärer ausgetauscht, die im Mai 2015 im Donbas gefangengenommen worden waren und in der Ukraine auf ihre Gerichtsverhandlung warteten. An der Freilassung von Nadeschda Sawtschenko beteiligte sich die halbe Welt. Nicht nur einfache Menschen standen Mahnwachen vor russischen Botschaften auf der ganzen Welt – selbst Regierungsvertreter verschiedener Länder schrieben Aufrufe an den Kreml, die unschuldige ukrainische Pilotin freizulassen. In der Zeit ihrer Gefangenschaft wurde sie eine Symbolfigur der Ukraine und des ukrainischen Kampfes für ihre Freiheit, sie wurde mit Auszeichnungen regelrecht überschüttet und wurde vom Volk gewählte Abgeordnete für die Partei von Julia Timoschenko in der Werchowna Rada und Mitglied der ukrainischen Delegation bei der PACE. Millionen Menschen auf der Welt fieberten um diese Frau und wünschten ihr die baldmögliche Freilassung. Auch unser Team InformNapalm blieb nicht teilnahmslos und veröffentlichte eine umfangreiche Untersuchung mit Angaben zu ihren Richtern, die lächerliche und bestandslose Anschuldigungen vorlasen und einen unschuldigen Menschen rechtswidrig zu zwanzig Jahren Haft verurteilten.
Nach ihrer Freilassung und der Rückkehr in die Ukraine waren zwar viele über ihren scharfen Ton und das etwas grobe Benehmen überrascht, schrieben aber dieses teilweise recht ausfällige Verhalten ihrem zweijährigen Aufenthalt in russischem Gefängnis zu. Ihre skurrilen Aussagen in der ukrainischen Werchowna Rada interpretierte man als „frischen Wind“, die Stimme des einfachen Volkes im Parlament. Diese geduldige Wahrnehmung schlug aber bei vielen in Unverständnis um, als sie begann, nach Moskau hin- und herzureisen, sich mit Vertretern der terroristischen Bandenformationen im Donbas zu treffen und Parolen von sich zu geben, die denen aus Moskau eins zu eins glichen: über das russische „Brudervolk“ und die Notwendigkeit, Donbas nach Moskaus Bedingungen wieder einzugliedern. Obwohl viele dies noch immer mit ihrem psychischen Zustand und einem Stockholm-Syndrom erklärten, wurde es für einige an dem Punkt zu ernst: Man begann sich zu fragen, wie es eigentlich sein kann, dass jemand wie Oleh Senzow seit 2014 im russischen Gefängnis sitzt und ihm nicht mal der Besuch des ukrainischen Botschafters gewährt wird, eine Frau aber, die zwei Jahre in russischem Gewahrsam war und dort angeblich gefoltert wurde, frei nach Moskau ein- und ausreist. Über ihren Abgeordnetenposten war kaum noch jemand froh – man wünschte sich, sie ziehe sich aus der Politik zurück. Berichte von ihren Dienstkollegen über ihr Leben vor dem Krieg, ihre wahre Rolle zu Maidan-Zeiten oder ihre Dienstzeit in Irak 2005 fanden immer mehr Gehör…
Das Puzzle fügte sich nun letzte Woche zusammen, als die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ein Video veröffentlichte, in dem die mit dem wichtigsten amtlichen Orden der Ukraine „Held der Ukraine“ ausgezeichnete Sawtschenko bei der Planung eines Terroranschlags in der Werchowna Rada gefilmt wurde.
Einer ihrer Gesprächspartner im Video ist Volodymyr Ruban – ein sehr umstrittener, gesellschaftlich aktiver Mensch, der sich früher gegen den Maidan und die europäische Integration der Ukraine eingesetzt hat und sich seit Beginn des Krieges aber mit Gefangenenaustausch beschäftigte (wobei er stets prorussische Propagandaparolen von sich gab). Viele Medien schreiben ihm eine Zusammenarbeit mit Wiktor Medwedtschuk zu, einem engen Freund von Putin (Näheres zu dessen Rolle in der modernen Geschichte der Ukraine hier: „15 Jahre Geheimkrieg Putins gegen die Ukraine“). Wiktor Medwedtschuk ist hier der Mittelsmann, über den der Gefangenenaustausch mit Russland läuft (und der sich stets bei Putin dafür bedankt). Ruban und Medwedtschuk streiten ihre Verbindung gerade ab.
Volodymyr Ruban wurde seit mehreren Monaten vom SBU beschattet – man verdächtigte ihn des Waffenschmuggels aus dem besetzten Teil des Donbas in die Ukraine und der Organisation eines Terroranschlags gegen die Regierung der Ukraine.
„Wir haben ein Video, in dem das Auto, das Ruban fährt, unseren Grenzposten durchfährt, in das Territorium der „DVR“ fährt, sich dann Sachartschenkos („Anführer der DVR“ – Anm.d.Red.) Leute ans Steuer setzen und in drei verschiedenen Militäreinheiten in Horliwka Waffen einladen. Dann fahren sie wieder zurück und Ruban setzt sich wieder ans Steuer. Weiter haben alle seine Festnahme ja schon gesehen. Dabei haben wir Beweise dafür (im Audioformat), dass er mit Sachartschenko Kontakt aufnahm und einen Terroranschlag plante,“ sagte der ukrainische Generalstaatsanwalt Juri Luzenko gegenüber dem Sender Zik.
Am 8. März nahm der SBU Ruban bei seiner Einreise in die Ukraine an einem Checkpoint fest. In seinem Auto wurden Waffen, darunter Maschinengewehre, Granatwerfer, Handgranaten und Munition für Mörser gefunden. Nadeschda Sawtschenko erklärte sich trotz der Beweislast gegen ihn überraschend bereit, als Parlamentsabgeordnete die Bürgschaft für ihn zu übernehmen.
Und am 22. März veröffentlichte die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ebenjenes Video, in dem V.Ruban, N.Sawtschenko und zwei ukrainische Militärangehörige, die sie für ihr Vorhaben begeistern wollten und die sich mit diesen Informationen später an ukrainische Geheimdienste wandten, den Plan zur Sprengung von Werchowna Rada besprechen. Das Ziel der Abhörung war dabei gar nicht Sawtschenko sondern Ruban, für dessen Abhörung der SBU eine Genehmigung besaß. Die Authentizität des Videos streiten dabei wohlgemerkt weder Sawtschenko noch Ruban ab.
Das Gespräch ist haarsträubend. Nicht nur, dass sie beide ruhig darüber sprechen, dass russische Soldaten im Donbas sind, Russland sich wünscht, dass Petro Poroschenkos Regierung in der Ukraine abgelöst wird – seelenruhig besprechen sie, wieviele Waffen sie bräuchten, um nach der Explosion im Parlament die Überlebenden zu töten, sowie das komplette Regierungsviertel, das im Zentrum von Kyjiw liegt, mit Mörsern zu vernichten (Sie planten das Zentrum der Stadt von der Truchanow-Insel aus, die in der Mitte des Dnipro faktisch direkt gegenüber dem Regierungsviertel liegt, unter Mörserbeschuss zu nehmen und hielten dort sogar Übungen ab). Ruhig und besonnen nehmen sie dabei den Tod von Zivilisten in Kauf. Ihre Vorstellung von der Zeit danach ist dabei gar nicht neu – sie ist jedem ehemaligen Bürger der Sowjetunion aus der Geschichte des Anfangs des XX.Jahrhunderts gut bekannt: Vernichtung der Elite, massenhafte Erschießungen der Zivilbevölkerung, Terror. An einer Stelle im Video sagt Sawtschenko: „Ja, ein militärischer Umsturz. Wir müssen sie physisch vernichten – alle und auf der Stelle“. Junta eben. Genau die Junta, von der Russland seit Jahren träumt, wenn es um die Ukraine geht.
Dass dieses Video für das ganze Land äußerst schockierend war, ist klar – die Tatsache, dass eine Frau, für deren Freilassung Millionen Ukrainer ihr Bestes taten, bereit ist, die Ukraine kaltblütig in den Abgrund eines terroristischen Chaos zu versenken, ließ aber alle regelrecht erstarren. Ob sie nun im Gefängnis oder noch früher von russischen Geheimdiensten rekrutiert worden war, ob sie einer psychischen Einwirkung seitens der russischen Geheimdienste ausgesetzt und zombifiziert wurde – das sind Fragen, die wir uns noch lange stellen werden.
„War es denn überhaupt richtig, sich für sie einzusetzen?“ fragen sich gerade viele.
Trotz unserer Wut und Enttäuschung ist diese Frage eindeutig mit „Ja“ zu beantworten – es war absolut richtig, eine unschuldige ukrainische Pilotin, koste es was es wolle, aus den russischen Fängen zu befreien. Selbst wenn man nun versteht, dass der Medienhype um sie ganz und gar nicht die Folge davon war, dass diese Frau von Russland rechtswidrig entführt worden war, sondern dass dieser Rummel ganz andere Gründe und Initiatoren hatte…
Vielleicht ist es aber auch die Wut darüber, dass man sich seiner Unvollkommenheit bewusst geworden ist: Es ist immer schmerzhaft, sich einzugestehen, dass der von dir gekrönte Held nicht nur kein Held sondern ein echter Feind ist. Es ist die Enttäuschung über die eigene Naivität und Anfälligkeit für große Worte. Ein Gefühl, manipuliert und in seinen besten Gefühlen ausgenutzt worden zu sein. In der menschlichen Geschichte gab es viele solche „Helden“, die sich später als regelrechte Monster entpuppten – die Menschen neigen dazu, Heldeneigenschaften eher jemandem zuzuschreiben, der laut davon spricht, als einem, der im Stillen sein Bestes tut.
So wie Wladislaw Woloschin, dessen Selbstmord letzte Woche die ganze Ukraine erschütterte und der ebenfalls Thema dieses „Was ist ein Held?“- Artikels ist. Im Gegensatz zu Nadeschda Sawtschenko wurde er nie mit dem amtlichen Orden „Held der Ukraine“ ausgezeichnet, sondern „nur“ mit dem Orden „Volksheld der Ukraine“, der 2014 von den ukrainischen Freiwilligen gestiftet wurde und dessen stolzer Träger auch unser Team InformNapalm ist…
Am 19. März erschoss sich der Pilot Wladislaw Woloschin in seiner eigenen Wohnung im ukrainischen Mykolajiw. Wladislaw Woloschin wurde 1988 im ukrainischen Luhansk geboren, das zurzeit von Russland besetzt ist. 2014 war er gerade mal 26 Jahre alt, als Russland seinen Krieg gegen die Ukraine begann. In den ersten paar Monaten des Krieges führte er im Bestand der ukrainischen 299. Brigade der taktischen Luftwaffe 33 Kampfflüge mit seiner Su-25 aus. Am Anfang des Krieges gab es nur wenige einsatzbereite Piloten in der Ukraine. Im August 2014, als russische Truppen viele FlaRak-Systeme durch die ungeschützte Grenze in die Ukraine gebracht hatten, waren bei weitem nicht alle Piloten bereit, in die Wirkungszone der russischen Luftabwehr zu fliegen. Damals flogen nur sechs Piloten zu Kampfflügen. Einer davon war Wladislaw Woloschin, womit wohl die Frage nach seiner Charakterstärke beantwortet ist.
Für seinen ersten erfolgreichen Kampfflug im Mai 2014 wurde Wladislaw Woloschin vorzeitig zum Kapitän befördert. Und am 16. Juli desselben Jahres wurde er mit dem Orden „Für Tapferkeit“ des dritten Grades ausgezeichnet – für die Operation zur Rettung seines Partners. Sie wurden von Gegnern mit einem mobilen FlaRak-Komplex beschossen und landeten ohne Fahrwerk auf einer Erdstraße auf dem Fallschirmflugplatz Majskoje.
Später wählte die Kremlpropaganda gerade ihn zu ihrem Opfer aus, als sie versuchte, eine Version über den Abschuss der MH17-Boeing am 17. Juli 2014 durch zwei ukrainische Su-25 in die Welt zu setzen. Sie erklärte Woloschin zu einem der „schuldigen Su-25-Piloten“. Diese Fakemeldung ohne jegliche Begründungen und Beweise wurde in der ganzen Welt aber nur belächelt, da sie keinerlei Kritik standhielt: Ein Flugzeug, das maximal in 4 km Höhe fliegt, ist eben ein Flugzeug, das maximal in 4 km Höhe fliegt – auf 10 km Höhe kommt es nunmal nicht hoch.
Anderthalb Monate später, bei einem Kampfflug in den Raum des Ilowajsker Kessels, wurde Wladislaws Su-25 nach der erfolgreichen Ausführung seines Kampfauftrags (der darin bestand, die russischen Militärangehörigen und Söldner anzugreifen, die den Ausbruchskorridor für die ukrainischen Truppen aus Ilowajsk blockierten) angeschossen.
Woloschin gelang es sich mit dem Schleudersitz zu retten und auf dem durch Russen besetzten Territorium bei der Ortschaft Starobeschewe (etwa 40 Km Entfernung von Donezk) zu landen. Sein Arm war gebrochen, er hatte Verletzungen an der Wirbelsäule: „Ich war im Schockzustand, ich konnte nicht verstehen, was passiert ist. Später verstand ich, dass ich höchstwahrscheinlich mit dem neuen russischen Panzir-S1-System abgeschossen worden bin, dessen Strahlungen von unseren Systemen nicht erfasst werden können“, erzählte er später gegenüber der Zeitung des ukrainischen Verteidigungsministeriums.
Vier Tage lang kämpfte sich Wladislaw durch das besetzte Territorium. Mehrmals geriet er an Checkpoints der Gegner, lief einmal sogar in einen Checkpoint der Kadyrow-Söldner. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich schon umgezogen – er lief unrasiert in Fußlatschen rum und gab sich als stinknormalen Donbas-Einwohner aus. Nach drei Tagen kam er endlich an einem ukrainischen Checkpoint an.
Im Sommer 2017 beschloss Woloschin, die Armee zu verlassen. Allem Anschein nach, aus finanziellen Gründen – der Lohn eines Piloten reichte für eine vierköpfige Familie nicht aus, zumal sein jüngstes Kind erkrankt war… Er übernahm den Posten des Flughafendirektors von Mykolajiw – einer Stadt, die in den ukrainischen Medien stets wegen irgendwelcher Korruptionsskandale auftaucht.
Die Ermittlung geht hier von mehreren Selbstmordversionen aus, darunter von Anstiftung zum Selbstmord. Sein letztes Lebensjahr verbrachte Wladislaw Woloschin auf dem Posten des Flughafendirektors in Mykolajiw. Die Reparatur dieses alten, seit Anfang 2017 geschlossenen Flughafens sowie die Leitung der Stadt Mykolajiw stehen in der Ukraine schon lange unter massiver Kritik: Korruptionsskandale, verschobene Termine, nicht eingehaltene Fristen, seltsame Ausschreibungen (ähnlich wie beim BER in Deutschland).
Am nächsten Tag nach dem Selbstmord von Woloschin gingen die Einwohner von Mykolajiw auf die Straße, um für den Rücktritt des Leiters der Gebietsverwaltung von Mykolajiw Alexej Sawtschenko (Nur ein Namensvetter, keine Verbindung zu Nadeschda – Anm.d.Red.) zu demonstrieren. Ihrer Meinung nach steht der Selbstmord des ukrainischen Piloten Woloschin in unmittelbarer Verbindung mit der Gebietsverwaltung, die Einwohner sprechen von „Anstiftung zum Selbstmord“ seitens der korrupten Beamten.
Dieser Meinung sind auch die Flughafen-Kollegen von Woloschin. Die stellvertretende Flughafendirektorin Alina Korotitsch erklärte gegenüber Journalisten, dass der Leiter der Gebietsverwaltung Sawtschenko und sein Stellvertreter Valentin Gajdarschi Woloschin in den letzten zwei Wochen dazu aufgefordert hatten, ein Abnahmeprotokoll über die Generalreparaturen am Gebäude des Flughafens zu unterschreiben.
„Wie er mir sagte – und wir hatten eine vertrauensvolle freundschaftliche Beziehung – wurde auf ihn Druck ausgeübt, diese Abnahmeprotokolle zu unterzeichnen. Er wollte es aber nicht tun. Auf ihn wurde Druck ausgeübt und er weigerte sich. Er war ein sehr prinzipienstarker Mensch, ein richtiger Offizier. Für ihn war die Schande schlimmer als der Tod,“ sagte sie.
***
Zwei Geschichten, zwei Schicksale.
Diese Geschichten lassen mich verstummen und mir die Frage stellen, wieso wir so oft einen wahren Helden nicht gebührend ehren und einem anderen heldenhafte Eigenschaften zuschreiben, ohne dass er dies tatsächlich verdient hätte… Wahrscheinlich ist dies genau der Punkt: Ein Held TUT einfach – ohne Rücksicht auf Medienhype, Auszeichnungen und Anerkennung – alles, was für sein Land nötig ist. Und Menschen, die uns lautstark als Helden verkauft werden, sind meist nur Spielzeuge in jemandes Händen… Wir sollten wohl alle mehr der Stille lauschen und uns weniger von der Lautstärke betäuben lassen…
RIP, Wladislaw Woloschin. Ruhe in Frieden, Held.
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalmDeutsch verfasst. Titelbild: Alex Alexidze.
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