In Kertsch auf der Krim wird eine Brücke gebaut, die Russland und die Halbinsel verbinden soll. Wir möchten dieses Thema heute detaillierter betrachten.
Er war am Brückenbau auf der Krim beteiligt und ging zu Fuß nach Hause in den Ural
Auf der wichtigsten Baustelle Russlands werden Arbeiter massenhaft belogen und Studenten als Bauarbeiter eingesetzt.
Fast 3.000 Km musste ein einfacher Arbeiter aus dem Ural, ein Bewohner der Stadt Slatoust namens Wjatscheslaw Abdullin, zu Fuß laufen. Auf dem Weg nach Hause verfluchte er mehrmals den Tag, an dem er auf eine Anzeige einer Firma aus Jekaterinburg geantwortet hatte, die Schichtarbeit in den Gebieten Tscheljabinsk und Swerdlowsk versprach: „30 Tage mit Unterkunft und Verpflegung, danach – 15 Tage Urlaub zu Hause.“
Bereits kurz nach der Unterzeichnung des Vertrages hatte sich herausgestellt, dass es keine Arbeit im Ural geben wird. Darum wurde Wjatscheslaw und anderen Arbeitern angeboten, auf die Krim zu fahren. Sie wurden in Busse gepackt und an die Küste des Schwarzen Meeres gebracht, zum Bau der Brücke von Kertsch. Als ihre monatliche Schicht zu Ende war, hat sich herausgestellt, dass niemand vorhatte, sie nach Hause zu bringen. Der Teamleiter erzählte etwas von fehlenden Transportmitteln, darum beschloss Wjatscheslaw mit seinem Kollegen eigenständig nach Hause zu fahren. Da ihnen das Geld für ihre Arbeit nicht ausgezahlt wurde, wollten die Bauarbeiter per Anhalter bis zum Ural kommen, aber die Fernfahrer zögerten sie mitzunehmen, also mussten sie zu Fuß laufen.
Die Ehefrau von Wjatscheslaw, Oksana, postete einen Aufruf in der Gruppe „Fernfahrer“ im sozialen Netzwerk VK und bat um Hilfe für ihren Mann. Ihren Worten nach, war ihr Mann zu dem Zeitpunkt bereits vier Tage zu Fuß unterwegs und ernährte sich von Beeren und Wildfrüchten.
„An Batajsk sind wir vorbei. Sein Kollege wurde angerufen und ist schon weg. Er läuft über die Verkehrsstraße M4 nach Moskau. Wer kann, bitte nehmt ihn mit! Ich bitte Euch!“ schrieb Oksana im Namen ihres Mannes am 27. Juli und gab seine Telefonnummer an. Aber niemand antwortete ihr. Darum musste die Frau ein kleines Darlehen aufnehmen und ihrem Mann das Geld schicken, für welches er dann eine Zugfahrkarte gekauft hatte. „Bei uns sieht es gerade ziemlich schlecht mit Geld aus,“ erklärte sie: „Unser Haus ist abgebrannt, wir mieten nun eine Wohnung. Mein Mann ist ein Bauarbeiter, er wollte ein wenig Geld machen…“.
Russische Schweißer erzählen über ihre Arbeitserfahrung auf dem „Bau des Jahrhunderts“
Das ist bei Weitem nicht der einzige Fall bei diesem Brückenbau, bei dem die Arbeiter um ihr Geld betrogen wurden. Neulich rief ein Video eine große gesellschaftliche Resonanz hervor, in dem Schweißer und Montagearbeiter ihre bittere Geschichte erzählen: Sie wohnten in einem ehemaligen Kinderlager in Kertsch (Ordschonikidze-Strasse 80) und bekamen zwei Monate lang keinen Lohn. Außerdem war der Lohn, der ihnen bei der Aufnahme versprochen wurde, anderthalb mal so groß wie am Ende in ihren Papieren.
„Wir arbeiten zwei Monate lang an diesem Bau, auf der Krim-Seite, die Firma heißt „Business Ressource GmbH“. Das Geld wird uns nicht ausgezahlt. Im Vertrag steht eine Summe von 23,5 Rubel die Stunde und im ursprünglichen Vertrag wurden uns aber 1500 Rubel pro Tag versprochen, für einen 12-stündigen Arbeitstag mit einer Stunde Pause, ohne Ruhetage. Wir sind alle nicht von hier, und dem Vertrag nach müsste uns Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung gestellt werden. Die Anzeige war auf „Avito“ (populäre Arbeitssuche-Ressource in Russland) veröffentlicht,“ erzählt ein junger Bauarbeiter aus Woronesch.
Den Arbeitern wurde Verpflegung versprochen, die aber nicht für alle reichte. „Nach unserem 11-stündigen Arbeitstag in der Nachtschicht denken sie, dass wir sehr müde sind und nur noch schlafen wollen und darum kein Frühstück bräuchten. Sieht man aber auch an unseren Lebensbedingungen: für 50 Menschen gibt es hier nur zwei Toiletten und einen Boiler für 110 Liter,“ fügte der Arbeiter hinzu.
Nach Aussagen der Bauarbeiter sind sie bereits an einem Punkt, an dem sie nur noch Geld für die Rückreise nach Hause bekommen wollen. Dass jemand von ihnen den versprochenen Lohn bekommt, glaubt keiner von ihnen.
Noch ein interessantes Video über den Bau der Kertsch-Brücke wurde von einem Schweißer der 5. Kategorie veröffentlicht:
Zum Brückenbau werden auch Bewohner anderer durch Russland besetzter Territorien hinzugezogen
Das Internet flimmert aber weiterhin von Jobangeboten am Bau der Kertsch-Brücke. Mit gutem Geld versucht man auch Bewohner der sogenannten „DVR“ und „LVR“ für diesen Bau anzuwerben. Das Schema ist das gleiche: Es werden circa 45-55 000 Rubel im Monat versprochen.
„Natürlich ist die Verpflegung und die Unterkunft auf eigene Kosten. Allein aus unserer Stadt waren 15 Menschen zu diesem Bau gefahren und sind alle zurückgekommen. Niemand hatte den Menschen erklärt, dass Unterkunft und Verpflegung auf der Krim sehr teuer und viele Preise dort höher als selbst in Moskau sind,“ teilte seine Erfahrungen ein Einwohner von Debalzewe mit. Die Wahrhaftigkeit seiner Worte wurde auch von Einwohnern von Charzysk, Awdijiwka und Jassynuwata bestätigt, denn viele von ihnen haben schon versucht, auf diese Weise ein wenig Geld zu machen.
Den Mangel an Arbeitskräften beim Brückenbau beschloss man in Russland auf eine erprobte sowjetische Art und Weise zu beseitigen: durch die Hinzuziehung von sogenannten Studenten-Bautrupps. Die ersten Bautrupps wurden aus Studenten von sechs Fachinstituten Russlands gebildet: dem staatlichen technischen Moskauer Verkehrs- und Transport-Institut, der polytechnischen Universität Sankt-Petersburg, dem Architekturinstitut aus Tjumen und anderen.
Die Studenten wurden in einem Bauarbeiter-Dorf in der Gegend von Tamanj untergebracht. Eine weitere Gruppe wurde zum Bau einer Zufuhrstraße aus dem Krasnodar-Gebiet zur Brücke auf die Krim hinzugezogen.
Nach Worten des Bauleiters der Firma „StroiGasMontage“ Leonid Ryschenkin führen die Studenten „nicht die schwierigsten und selbstverständlichen keine gefährlichen Arbeiten beim Brückenbau aus“. Die Studenten werden auf den Objekten bis zum 31. August arbeiten. Allen ist eine 5-Tage-Arbeitswoche versprochen worden, mit einem 8-stündigen Arbeitstag, kostenloser Unterkunft und dreimaliger Verpflegung. Für die einen ist es zwar ein Praktikum, für die anderen aber, wie wir sehen, nur eine PR-Aktion.
Auf den „Bau des Jahrhunderts“ hat man sich in Russland gründlich vorbereitet. Über alle Hauptphasen der Arbeit wird in den russischen Medien breit berichtet, und in den sozialen Netzwerken wurden spezielle Accounts erstellt, die im Namen der „Krimer Brücke“ geführt werden. Darin gratuliert die „Brücke“ den Russen zum Tag der russischen Flotte, dem Welttag der Wale und Delfine oder auch zum Siegestag. Dort wird auch detailliert über den Prozess des Auspfählens und den Bau von Stützen berichtet.
Nackte Zahlen des imperialistischen Stolzes
Die Brücke wird ausschließlich auf Kosten des föderalen Budgets im Rahmen des Programms „Sozial-wirtschaftliche Entwicklung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol bis 2020“ errichtet. Der Kostenvoranschlag fürs Projekt beträgt 211,9 Milliarden Rubel in Preisen des 4. Quartals 2015. Die Besatzungskräfte versprechen, die Brücke im Dezember 2018 für den Fahrzeugverkehr zu öffnen und 2019 für den Zugverkehr. Der Staatsvertrag zur Projektierung und den Bau der Kertsch-Brücke wurde am 17. Februar 2015 zwischen der föderalen Einrichtung „Verwaltung der föderalen Verkehrsstraßen „Tamanj“ der Föderalen Verkehrsagentur Russlands und der GmbH „StroiGasMontage“ unterzeichnet.
Als die Idee des Brückenbaus in Russland zur Sprache gebracht wurde, wurde sie von vielen Russen sehr wohlwollend aufgenommen. Dabei hatten sie vergessen, dass diese Idee für ihr Geld unter den Bedingungen einer finanziellen und wirtschaftlichen Krise, Arbeitslosigkeit und massenhafter Abschaffung von Arbeitsplätzen realisiert wird. So stieg nach Angaben von RosStat (staatliches russisches Statistikunternehmen) die Zahl der bedürftigen Menschen in Russland 2015 stark an – um 3,1 Millionen Menschen, und beträgt nun 19,2 Millionen Menschen, was der höchste Wert seit 2006 ist. Das Armutsniveau in Russland 2015 liegt bei 13,4% (2014 waren es 11,2%). Dabei präzisiert Russland, dass diese Information ohne die Berücksichtigung der Angaben der annektierten Krim und Sewastopols angegeben wird. Das Existenzminimum in Russland, entsprechend den Angaben von RosStat, betrug im 4. Quartal 2015 9.452 Rubel pro Kopf im Monat, im 3. Quartal 9.673 Rubel, im 2. Quartal 10.017 Rubel und im 1. Quartal 9.662 Rubel.
Insgesamt beträgt der Durchschnittslohn der Bevölkerung Russlands im 4. Quartal 2015 circa 35.586 Rubel im Monat.
Unter solchen Bedingungen wird den russischen Staatsbürgern angeboten, ein Projekt zu finanzieren, deren Verwirklichung sie um einiges ärmer machen und dessen Effekt dabei gleich Null sein wird. Da die Krim für Russland eine Subventionsregion ist und bleiben wird, kann man die darin investierten Mittel wohl kaum zurückerwarten, und zu einem Urlaubsort wird sie für die Russen nie werden. Die Annexion der Krim und die somit verbundene Entstehung einer weiteren Subventionsregion für Russland, selbst ohne die Berücksichtigung der internationalen Sanktionen, haben den Absturz der Wirtschaft und des Lebensniveaus der einfachen russischen Bürger nur beschleunigt.
Man sollte auch nicht vergessen, dass der Brückenbau ohne Einverständnis der Ukraine verläuft, was an sich schon einen groben Verstoß gegen internationale Rechtsnormen darstellt, denen zufolge das Asowsche Meer ein Gebiet der gemeinsamen Schifffahrt ist. Das erkannte auch der ehemalige Kreml-Protege Sergei Aksjonow an. „Das Einverständnis der Ukraine zu erhalten ist wohl kaum möglich,“ sagte er und fügte hinzu, dass der Bau von einem unterirdischen Korridor wesentlich billiger sei und kein Einverständnis einfordere.
Die von uns befragten Juristen und Experten im Seerecht beteuern, dass die Brücke ohne Einverständnis der Ukraine unmöglich zu bauen ist. Entsprechend dem Vertrag von 2003 tritt hier die Wiener Konvention über die Rechtmäßigkeit von internationalen Verträgen in Kraft. Und das bedeutet, dass Russland gegen diese Bedingungen nicht verstoßen kann, indem es sich zum Beispiel auf den Artikel 62 „Grundlegende Veränderung der Umstände“ beruft, indem es die einseitige Statusveränderung der Krim meint.
Die Juristen merken auch an, dass der Großteil der Länder den Übergang der Krim unter russische Rechtshoheit nicht anerkennt, und die Ukraine, die sich im Fall der Realisation dieses Projekts unter der Bedrohung der Blockierung der Straße von Kertsch für die Durchfahrt ihrer Schiffe wiederfinden wird, alle Chancen hat, diese „grundlegende Veränderung“ in einem internationalen Gericht oder auch im UN-Vermittlungsausschuss anfechten kann. Wie die Praxis zeigt, können sich solche Prozesse über Jahrzehnte erstrecken.
Somit ist nicht ausgeschlossen, dass der Brückenbau wegen der finanziellen und juristischen Faktoren nie beendet sein wird. Den Russen wird dabei wie immer erklärt, dass irgendwelche Feinde daran Schuld seien, und darüber, dass Milliarden russische Rubel zu dem Zeitpunkt bereits in den Wind geschlagen sein werden, wird sich wieder mal keiner Gedanken machen.
Für das kostspielige und sinnlose Projekt zum Bau der Kertsch-Brücke sind circa 70% der Budgetmittel eingeplant worden, die zum Straßenbau und Brückenreparatur in ganz Russland bereitgestellt werden. Die Autoren dieses Vorhabens haben natürlich kein wirtschaftliches Modell. Geld dafür bereitzustellen wurde ausschließlich dafür beschlossen, um eine freie Durchfahrt auf das Territorium der Krim zu gewährleisten, mit der Russland keinen Landkorridor hat. Der Hauptauftragnehmer dieses „Jahrhundertbaus“ ist ein Unternehmen von Arkadij Rotenberg, einem persönlichen Freund von W.Putin, der nun die benötigten Mittel in vollem Umfang erhalten wird, und wahrscheinlich sogar mehr als das.
„In Russland haben derartige sinnlose Projekte immer ein bestimmtes Ziel,“ schreibt die amerikanische Ausgabe Newsweek: „Sie stellen Instrumente dar, mit deren Hilfe der Kreml seine Absichten verwirklichen und dabei seine Oligarchen und Gouverneure unter Kontrolle halten kann. Große, vom Staat finanzierte Projekte sind ein Teil des regulierbaren Milieus, das nach Kremls Meinung gebraucht wird, damit sich Russland evolutionär und nicht revolutionär verändert. Die Bildung von gesünderen, aber weniger kontrollierbaren Investitionsbedingungen gilt als gefährlich für das heutige russische Staatsregime“.
Dieses Material wurde von Oleg Baturin und Dmitry Lisunow exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
CC BY 4.0
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