
von Irina Schlegel
Unsere ukrainische Redaktion von InformNapalm führte vor kurzem ein Interview mit Ilja Ponomarew, einem russischen Oppositionellen. Ich möchte hiermit ein paar meiner Gedanken zur russischen Opposition mitteilen, die durch dieses Interview angeregt wurden…
Hintergrund: Ilja Ponomarew, 39 Jahre, Abgeordneter der russischen Staatsduma in der 5. und 6. Wahlperiode, Mitglied der Fraktion „Gerechtes Russland“, Gründer der russischen sozial-demokratischen Bewegung „Linke Allianz“. Am 20. März 2014 stimmte er als Einziger in der Staatsduma gegen den Anschluss der Krim an Russland. Am 7. April 2015 wurde ihm seine Abgeordnetenimmunität entzogen. Seit August 2014 lebt er in den USA. Am 17. Juli 2015 hat ein Moskauer Gericht einen Haftbefehl gegen ihn ausgestellt und ihn zur internationalen Fahndung ausgeschrieben.
Als Erstes möchte ich sagen, dass ich Ilja Ponomarew bislang durchaus respektierte, und zwar für seine Position in der russischen Staatsduma bei der Abstimmung für den Anschluss der Krim – er war nämlich der einzige russische Abgeordnete, der damals gegen diese völkerrechtswidrige Entscheidung gestimmt hatte, genauso respektierte ich ihn für seinen Artikel, den er nach seinem Ostukraine-Besuch im Frühling 2014 geschrieben hat. Leider fand ich aber dieses Interview mit InformNapalm sehr beispielhaft für den intellektuellen Zustand Russlands – sogar denjenigen Teil, den man üblicherweise als „Intelligenzija“ bezeichnet und dem normalerweise die russische Opposition auch angehört. Im heutigen Russland scheinen aber russische Oppositionelle von der gleichen Krankheit befallen zu sein, wie der Rest Russlands auch. Und seltsamerweise kommt ihre Krankheit aber erst zutage, sobald sie sich außerhalb von Russland befinden (was übrigens wohl auch mit Chodorkowski passierte). Die Krankheit, die ich meine, nennt sich russischer Imperialismus, und von dieser Krankheit werden in Russland wohl nicht mal diejenigen verschont, die seine „Besten“ sein sollen, was für mich davon zeugt, dass es in Russland im Grunde keine wirkliche Opposition gibt (zumindest nicht in Machtpositionen) und dass man als westlicher, demokratisch gestimmter Mensch keine Hoffnung in diese sogenannte „Opposition“ haben sollte, denn wenn die „Besten“ so sind…
Ganz im Sinne der russischen Propaganda antwortet Ponomarew auf die Frage über die rechtswidrige Krim-Annexion mit Begriffen wie „blutlose Übergabe“ und „zukünftige gemeinsame russisch-ukrainische Verwaltung“, wobei „der Erfolg ukrainischer Reformen die beste Voraussetzung für die Rückkehr der Krim zur Ukraine“ sein soll.
Mit „blutloser Übergabe“ bezeichnet die Kremlpropaganda seit über einem Jahr die militärische Okkupation und Annexion einer Halbinsel mitten in Europa, die entgegen aller Sicherheits-, Rechts- und Friedensprinzipien stattfand, an die man sich nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest in Europa zu halten versuchte, und die auch den konkreten Verpflichtungen Russlands gegenüber der Ukraine zuwiderlief (Stichwort: Budapester Abkommen). Was die gemeinsame russisch-ukrainische Verwaltung angeht, so existierte auf der Krim bereits eine – bis März 2014, zumindest in Sewastopol, wo russische Streitkräfte stationiert waren, in der Annahme, dass diese die Ukraine vor Außenbedrohungen schützen werden, und was am Ende aber nur dazu führte, was russische Propaganda – und nun offensichtlich auch die russische Opposition – als „blutlose Übergabe“ bezeichnen. Viel eher passt hier aber der Begriff „feindliche ÜBERNAHME“, während welcher Menschen proukrainischer Ansichten ins Gefängnis geworfen wurden (oder gar wie Oleh Senzow nach Russland verfrachtet wurden und noch immer dort auf wahnsinnige, mit keinerlei Fakten gestützte Gerichtsentscheide warten müssen) oder von der Krim flüchten mussten, und während nur 15% Krimer Bevölkerung an dem sogenannten „Referendum“ teilgenommen haben. Ponomarew ist übrigens nicht der erste russische Oppositionelle, der nicht nur von „gemeinsamer Verwaltung“, sondern auch von einem „neuen Referendum“ spricht (dafür haben sich Navalny und Chodorkowski ebenfalls ausgesprochen). Was sie dabei vergessen ist eine Kleinigkeit: Es hat kein Referendum auf der Krim gegeben. Ich werde an der Stelle nicht erneut erklären, warum es keins war – das haben bereits genug Experten getan. Kurz und bündig wird es zum Beispiel im folgenden Artikel erklärt: „Die Krim ist Unser!“. Warum man die Krim auch nicht als „ur-russisch“ betrachten kann, hat der russische Historiker Andrei Subow im folgenden Artikel zusammengefasst: „Die Krim ist Unser?“
Abgesehen von Europäischem Recht, internationalen Abkommen usw. gibt es aber auch Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die seit Jahrtausenden in jeder Gesellschaft mal mehr mal weniger befolgt werden: zum Beispiel dass man sich mit Überfalltätern, Verbrechern und Dieben nicht an einen Tisch setzt, sondern sie ins Gefängnis schickt. Dass man sie zur „gemeinsamen Verwaltung“ zulässt, ist mir gänzlich neu… Die Zeit der gemeinsamen Entscheidungen über die Krim ist seit dem März 2014 vorbei. Was die Rückkehr der Krim zur Ukraine angeht, so ist das gänzlich unabhängig von Reformen in der Ukraine, denn die Krim ist ein Teil der Ukraine, und sie wird die Reformen wie jeder anderer Teil der Ukraine einfach mitmachen.
Natürlich beschäftigt zurzeit alle die Frage der MH-17… Vor kurzem war der Jahrestag dieser Tragödie und der darauffolgenden UN-Sicherheitssitzung, die wohl als eine weitere UN-Sitzung in die Geschichte eingehen wird, in der Russland sein Veto-Recht nutzte. Nur war es diesmal besonders beschämend für Russland und seine Regierung: Es hat die Bildung eines Tribunals zur Untersuchung des Boeing-Abschusses verhindert… Etwas Schändlicheres kann man sich kaum ausdenken… 298 Menschen sind gestorben, Bürger verschiedener Länder, Zivilisten, Kinder, die nach Hause flogen oder in Erwartung eines schönen Urlaubs waren… Eine Ermittlung dieses Verbrechens zu verhindern – tiefer kann man wohl nicht mehr fallen. Aber was sehen wir da in den Antworten der russischen „Opposition“? Sich als wahre Patrioten wähnend, berufen sie sich doch tatsächlich auf China und sagen: „Ich wäre anstelle russischer Diplomaten den Weg gegangen, den China gewählt hat: Ich hätte mich enthalten.“ Nun ja, zumindest gab er zu, dass diese Sitzung eine Schande war, auch wenn er sich ganz unsicher darüber ist, wer denn jetzt das Flugzeug abgeschossen hat… Im Oktober wird sich die ganze Welt mit dem Bericht holländischer Ermittler vertraut machen können, bis dahin kann man bei uns aber auch ziemlich viel dazu lesen: MH17-Tragödie. All diese Materialien haben wir übrigens an die holländische Polizei weitergegeben…
Was aber die Enthaltung angeht… China wird nicht von allen Ländern der Welt beschuldigt, dass es mutmaßlich das Flugzeug abgeschossen habe, darum kann es sich auch aus rein politisch-diplomatischen Gründen enthalten – das ist sein Recht. Was Russland angeht, so sehe ich das ganz anders: Wenn ich ungerecht beschuldigt werde, setze ich ALLES dafür ein, damit möglichst viele Menschen (Länder) den Fall untersuchen. Ich wäre glücklich über ein Tribunal, ich hätte mit beiden Händen dafür gestimmt (was übrigens die Ukraine auch gerade tut). Definitiv hätte ich mich nicht enthalten, denn sogar das wäre verdächtig, nicht wahr?
Später kam eine Frage nach der Kremlpropaganda und nach Methoden, mit denen man diese besiegen könnte. Und hier möchte ich die Antwort von Herrn Ponomarew vollständig anführen, denn diese Antwort hat mich tatsächlich am meisten getroffen und auf diese möchte ich ausführlich antworten:
Ponomarew: -Ich finde, dass man eine Lüge nie mit einer anderen Lüge besiegen kann, genauso wie man Propaganda nicht mit Gegenpropaganda besiegen kann. Ich denke, man kann Propaganda nur auf eine asymmetrische Art und Weise besiegen – mit realen Erfolgen der Ukraine als eines Landes. Die Ukraine hatte einen sehr guten Moment vor einem Jahr, denn die ganze Welt hat tatsächlich mitgefühlt, mitgefiebert – eine militärische Aggression, alle wollen helfen. Nun kommt bereits Enttäuschung auf, dass „wir wollten doch helfen, wir sind doch bereit zu handeln, es geschehen aber offensichtlich keine grundlegenden Änderungen“. Der Krieg ist immernoch da, die Korruption auch, die Wirtschaft ist weiter auf dem absteigenden Ast. Und wo sind eigentlich die Resultate? Ich finde, dass der Hauptmechanismus des Kampfes gegen die Kremlpropaganda wirtschaftliche Erfolge sind. Das besteht aber nicht in der Erhöhung der Preise und Tarife, die nun im ganzen Land stattfindet, sondern im wirtschaftlichen Wachstum, in der Schaffung neuer Betriebe – das sind neue Investitionen, neue Geschäfte, die man im Land aufbauen muss. Und man sollte nicht so sehr daran denken, wie man es dem Internationalen Währungsfonds recht macht, sondern darüber, wie man es gut für die einfachen Ukrainer macht. Dann wird die ganze Welt verstehen, auf wessen Seite die Wahrheit ist. Das ist ein universelles Rezept. Absolut für alle. Für die Ukrainer ist es besonders wichtig, denn alle fragen in erster Linie: Und, die Revolution fand statt und was nun? Leben die Menschen besser oder nicht? Und man sollte nicht die kommunistischen Symbole verbieten, sondern sich mit der Wirtschaft beschäftigen. Das ist, wie ich finde, die nötigste und die richtigste Sache gerade.
Man kann die Lüge nicht mit einer anderen Lüge besiegen – das sollte jedem klar sein. Aber von „Erfolgen der Ukraine“ zu sprechen, während Russland seit über einem Jahr einen aggressiven Krieg gegen diese führt, während Russland seine Soldaten und Bewaffnung als „Urlauber“ hinschickt und Nazis, Arbeitslose und ehemalige Gefänfgnisinsassen aus ganz Russland als Freiwillige in die Ostukraine gekommen sind (über das Kontingent der „freiwilligen Helfer“ aus Russland haben wir viel geschrieben), während Russland die besten Jungs der Ukraine seit über einem Jahr vernichtet, denn sie sind diejenigen, die faktisch direkt nach dem Maidan in den Krieg gezogen sind, sie sind diejenigen, die als Erste in diesem Krieg gestorben sind: die Patrioten, die Revolutionäre – wie ein Freund von mir sagte, der eine Hundertschaft auf dem Maidan angeführt hatte: Von seiner Hundertschaft sind nur noch 4 (ich wiederhole, VIER) am Leben. Weiß das die russische Opposition etwa nicht, fühlt sich denn keiner dafür verantwortlich? Sind solche Aussagen wie die von Herr Ponomarew dann nicht zumindest zynisch? Denn diese Jungs hätten sich mit den „Erfolgen der Ukraine“ beschäftigen sollen, sie waren die wahren Idealisten, sie waren bereit alles für ihr Land zu opfern…. haben sie auch am Ende getan…. Hat nicht Russland sie getötet? Der Satz: „Der Krieg ist immernoch da“ von einem Russen ausgesprochen sagt mir an dieser Stelle auch besonders zu…
Was „die Schaffung neuer Betriebe“ angeht… Soweit ich weiß, hat Russland nicht nur die Betriebe der Ostukraine und ihre Infrastruktur zerstört, sondern alles was davon übrig war, nach Russland verfrachtet. Soll ich Ihnen ein Foto des Donezker Flughafens zeigen, bevor die „Russische Welt“ dahin gekommen ist? Hier, bitte:
Was die Abschaffung sowjetischer Symbole angeht, die jedesmal eine Riesenempörung in Russland hervorruft – man denke hier nur an den Abriss der Lenin-Denkmäler in der Ukraine, der in der russischen Propaganda jedes Mal als ein weiteres „grausames Vorgehen der Kyjiwer Junta“ dargestellt wird… Und an die vor kurzem stattgefundene Errichtung eines Stalin-Denkmals auf der Krim, das von der russischen Regierung initiiert wurde und das eine Häme für die ganze Krimer Urbevölkerung darstellt, die 1941-1944 auf Befehl Stalins aus der Krim deportiert wurde… Oder an Plakate Stalins, die in Russland zum Siegestag am 9. Mai überall aufgehängt wurden…
Ich bin Deutsche. Die Heilung einer Nation, eines Volkes, fängt grundsätzlich mit der Bereinigung seiner Vergangenheit, seiner Geschichte an. In Russland ist dies nach dem Zerfall der Sowjetunion nie passiert – wie wir nun sehen können, ist das auch sein größtes Problem. Von daher sage ich nur: Richtig so, Ukraine, erstmal sowjetische Symbole vernichten. Ist als Erstes an der Tagesordnung. Ist sogar noch zu wenig getan: Es gibt immernoch Städte, die die Namen von sowjetischen Massenmördern tragen (wie Dserschynsk zum Beispiel) – das muss noch getan werden. Parallel zu Wirtschaftsreformen, die sich übrigens sofort entfalten werden, sobald Russland aus der Ukraine verschwindet und dieser Krieg aufhört.
Und übrigens: Wer ist „müde im Westen, dass nichts passiert“? Wir haben ein paar Parteien, die den Kurs des russischen Präsidenten gern einschlagen würden und gegen die EU sind, ja, aber das sind 7%. Und wer? Das Sankt-Petersburger Forum haben all die Rechten des Westeuropas besucht… Scheinbar sind gerade die westeuropäischen Nazis auf der Seite Putins Regierung, nicht? Seltsam… Ich denke, der Westen kann ganz gut selbst entscheiden, wem und wann er müde zu helfen ist.
Meine persönliche Meinung ist, dass der Westen Russen und Russland zu oft zu verstehen und zu helfen versuchte – seit Jahrhunderten (zuletzt übrigens in den 1990ern). Eine Entnazifizierung wurde Russland gegenüber (leider) nie durchgeführt… Es ist an der Zeit, dass Russland sich selbst hilft, wie wäre es mal damit?
Am Ende läuft aber für mich alles auf dasselbe hinaus: Russlands wahnsinnige Regierung muss gestoppt werden und aus der Ukraine verschwinden, die Krim muss zurückgegeben werden, Russland soll sich an internationale Abkommen halten. Im Grunde ist das alles, was man von Russland möchte: dass es nämlich die Ukraine in Ruhe lässt.
Abgesehen vom nationalistischen Staatskurs, den die Kremlregierung fährt, und den wirtschaftlichen Problemen infolge der Korruption, hat die russische Opposition ziemlich viel zu bewerkstelligen… Zum Beispiel die Abschaffung des Stalin-Kults. Noch VOR den Reformen. Mit seiner Geschichte mal im Reinen werden – das wird Russland viel mehr Nutzen bringen, als jegliche wirtschaftliche Reformen. Das ist der erste Schritt: Sich von seinem imperialistischen Denken befreien, von dem wohl auch seine besten Söhne nicht verschont zu sein scheinen…
Dieses Material wurde von Irina Schlegel für InformNapalm vorbereitet. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unser Resource erforderlich.
CC BY 4.0
No Responses to “Überlegungen zu Ilja Ponomarews Interview mit InformNapalm”