Internationale Medien spekulieren weiterhin über den Herstellungs- und Aufbewahrungsort des Nervengifts „Nowitschok“, der bei der Vergiftung des ehemaligen GRU-Mitarbeiters Sergei Skripal und seiner Tochter Julia in der britischen Stadt Salisbury eingesetzt wurde.
Bezeichnenderweise verweisen die Autoren dieser sensationellen Publikationen bezüglich des Standorts des Labors zur Herstellung von „Nowitschok“ auf unbekannte Quellen beim britischen Nachrichten- und Sicherheitsdienst. Diese Medienmeldungen sind natürlich interessant und haben ihre Berechtigung, InformNapalm bemüht sich aber stets um maximale Faktentreue. Auch diesmal haben wir unsere eigene Annahmen, die durch Beobachtungen unserer OSINT-Experten bekräftigt werden.
Was aus Medien bekannt ist
Am 5. April berief sich die britische Zeitung The Sun auf eigene Quellen und wies auf ein Geheimlabor des russischen Außennachrichtendienstes im Moskauer Viertel Jasenewo als Herstellungort des Nervengifts „Nowitschok“ hin.
Am 6. April nannte die britische Zeitung The Times bereits einen anderen Ort: eine militärische Forschungsbasis in der geschlossenen Stadt Schichany im Gebiet Saratow Russlands.
Es war interessant, die Reaktion der russischen Seite zu beobachten: Die meisten Anhaltspunkte stellte uns dabei der russische Fernsehsender NTV (Archiv) bereit.
Achten Sie auf ein paar Details:
- Hier kommentiert der Vorsitzende der Staatskommission zur chemischen Abrüstung und Vertreter des russischen Präsidenten in der föderalen Wolga-Region Russlands, Michail Babitsch, die Version von The Times: „Dieses Labor gehörte nicht zum Bereich unserer Arbeit. Alle Basen, auf denen chemische Waffen aufbewahrt werden, sind bekannt, und Schichany ist keine davon.“
- Ihm pflichtet auch der Gosduma-Abgeordnete für das Gebiet Saratow, Nikolaj Pankow, bei: „Schichany ist eine kommunale Einrichtung, die zum Kreis Balakowka im Gebiet Saratow gehört, das ist mein Wahlkreis. Zum letzten Mal haben wir in Schichany vor etwa 20 Jahren etwas über Militärangehörige gehört, als Russland den Prozess der Vernichtung von chemischen Waffen begann. In meinem Wahlkreis wurden nie chemische Waffen aufbewahrt.“
- Die Version von The Sun wird von den russischen Medien nicht direkt abgestritten, sie merken ironisch an: „Somit ist das Geheimlabor also von Jasenewo ins Gebiet Saratow umgezogen, und zwar in die Stadt Schichany. Interessanterweise berufen sich beide britische Zeitungen auf irgendwelche Quellen bei den britischen Geheimdiensten. Entweder arbeiten die Zeitungen mit irgendwelchen verschiedenen Geheimdiensten, oder aber der britische Geheimdienst hat keine eindeutige Meinung über den Standort des russischen „Proton-Dawn“.
Das ist eine erprobte Methode der russischen Propaganda: Wenn man dich auf frischer Tat ertappt hat, verwisch‘ die Spuren mit alternativen Versionen. Soweit wir verstanden haben, versucht die russische Seite uns gerade von der ersten Version abzulenken. Wir führen unsere Annahmen mal an.
Wo und warum sollte man das Labor mit „Nowitschok“ suchen? Die Version von InformNapalm
Die Version der Times haben wir aus einigen Gründen verworfen – das weiße Rauschen in den Medien um diese Version herum ist gar nicht zufällig.
- Diese Version wird von den russischen Vertretern sehr aktiv, operativ und überzeugt abgestritten. Die Reaktion war blitzartig, womöglich wurde sie von russischen Agenten in Großbritannien geplant und koordiniert.
- Die Times-Version über den Standort des Labors in Schichany erschien etwas später – diese Zeitverzögerung reichte aber offensichtlich aus, um russische Kommentatoren und Medien vorzubereiten.
- Noch im Jahr 1923 wurde in Schichany eine Iluschin-Station erschaffen, die später der Zentrale Militärische Chemische Truppenübungsplatz der Sowjetischen Armee wurde. Dieses Objekt genoss noch zu Zeiten des Kalten Krieges große Aufmerksamkeit seitens ausländischer Beobachter und westlicher Geheimdienste.
- Das Militärstädtchen Schichyna-2, auch als Wolsk-18 bekannt, ist ein allzu kalkulierbarer Ort für die eventuelle Einrichtung eines Geheimlabors zur Herstellung von „Nowitschok“. Im Städtchen befinden sich das 33. zentrale wissenschaftliche Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums Russlands, ein Truppenübungsplatz dieses Instituts, das 9. Aufklärungsregiment, sowie die 1. mobile ABC-Brigade. Im Städtchen gibt es auch andere Infrastrukturobjekte wie Schulen und Kindergärten.
Alle diese Überlegungen schließen natürlich nicht aus, dass dieses Labor gerade in Schichany liegt, lassen aber an dieser Version zweifeln. Es ist nicht auszuschließen, dass der Giftstoff in Schichany entwickelt wurde, aber für diversive und terroristische Operationen im Ausland ist es nicht sonderlich sinnvoll, dies in einem großen Labor des russischen Verteidigungsministeriums zur Herstellung von Giftstoffen zu tun.
Für diversive Zwecke braucht man sehr kleine Mengen an Giftstoff, im Grunde nur ein paar Gramm, darum müsste der Standort der Herstellung streng geheim sein. Bei der Entwicklung eines Giftstoffes wird ein technologisches Betriebsblatt erstellt, das dann an jeden Betrieb weitergeleitet werden kann, der die nötigen Produktionsvoraussetzungen besitzt. Somit könnte „Nowitschok“ an jedem beliebigen und für fremde Augen und Inspektionen geschlossenen Betrieb überall in Russland hergestellt worden sein.
Wo dieser Ort gesucht werden soll, hat The Sun aufgezeigt, hat aber einen kleinen Fehler in der Geografie gemacht. InformNapalm beschloss, dieser ersten Version nachzugehen und sie entweder zu bestätigen oder zu widerlegen.
Auslandsgeheimdienst und andere Anhaltspunkte
Also hat The Sun als erste die Angaben über ein chemisches Labor im Moskauer Stadtviertel Jasenewo veröffentlicht. Wo genau dieses Objekt liegt, hat die Zeitung nicht mitgeteilt, erwähnte aber, dass dieses Labor zum Auslandsgeheimdienst (SWR) Russlands gehört. InformNapalm hat ein Monitoring dieser Gegend durchgeführt und ist zu dem Schluss gekommen, dass es in Jasenewo selber keine solche Objekte gibt.
Aber unweit von Jasenewo befindet sich das Dorf Sosenskoje, in dem auf dem Gelände der Butowo-Waldanlage die Militäreinheit Nr. 36606 liegt, die ein Objekt des russischen Auslandsgeheimdienstes ist (Koordinaten).
Das ist ein ziemlich großes und gut bewachtes Territorium des Auslandsgeheimdienstes Russlands. Wir nehmen an, dass gerade hier ein Labor zur Herstellung von Giftstoffen liegen kann. Auf den Satellitenbildern sehen wir das Vorhandensein einer Stelle zur Lagerung von abgetragenem Boden, was uns annehmen lässt, dass in der Nähe ein Untergrundbau erstellt wurde, den wir weiter unten besprechen. Das Volumen des abgetragenen Bodens ist dabei ziemlich bedeutend. In den letzten Jahren fand auf dem Gelände der Militäreinheit auch der Bau von Bodenobjekten statt. Zum Beispiel wurde neulich die Montage eines Kühlungssystems für ein neues großes spezialisiertes Objekt zur Platzierung von Server- und Netzwerktechnik beendet.
Gift für Spione
Warum die Herstellung von „Nowitschok“ auf dem Territorium eines Objekts des russischen Auslandsgeheimdienstes organisiert werden konnte? Führen wir ein paar Argumente an.
- Der Verweis auf den Auslandsgeheimdienst ist in den Angaben der The Sun vorhanden, die sich auf Quellen beim britischen Nachrichtendienst beruft;
- Das Gelände des Auslandsgeheimdienstes ist streng geheim, es ist vor potentiellen Inspektionen seitens ausländischer Beobachter bestens geschützt;
- Es gibt Gründe anzunehmen, dass an diesem Objekt unterirdische Versorgungslinien geschaffen wurden, in denen es ziemlich einfach ist, ein Minilabor zu platzieren;
- Diversionen und Terroranschläge im Ausland gehören zum Verantwortungsbereich des Auslandsgeheimdienstes und nicht des Verteidigungsministeriums. Zielführend wäre es, den Produktionszyklus des Giftstoffes innerhalb eines Dienstes abzuschließen, um ein Datenleck zu vermeiden.
- Der Komplex des Auslandsgeheimdienstes ist ein Gelände, auf dem zu Sowjetzeiten ein Sanatorium des Zentralkomitees des KPdSU eingerichtet werden sollte. Gerade wird dort aktiv umgebaut – womöglich, steht dieser Umbau mit der Schaffung von neuen Objekten in Verbindung, darunter auch von Geheimlaboren.
- Ein Giftstoff muss so verpackt werden, damit er über die Staatsgrenze und auch sonstige Prüfungen passieren kann. Dieser technisch schwierigen Aufgabe mit hohem Geheimhaltungsgrad ist allein der Auslandsgeheimdienst gewachsen, auf keinen Fall aber das Verteidigungsministerium. Womöglich wird die Aufgabe der Giftstoff-Verpackung von einer zusätzlichen technischen Laborabteilung gelöst. Des Weiteren ist es auch technisch schwierig, den Giftstoff ohne gesundheitliche Schäden für den Ausführenden zum Einsatzort zu transportieren. Der Kurier muss entweder ein Gegengift dabei haben, oder aber er wird von seinen Auftraggebern im Unwissen über den Inhalt gelassen. In diesem Fall müssten britische Geheimdienste eine weitere Leiche mit ähnlichen Vergiftungsmerkmalen suchen.
- Es gibt Gründe anzunehmen, dass der Auslandsgeheimdienst-Komplex auf seinem Territorium Ein- und Ausgänge zur Moskauer U-Bahn hat, was seine Möglichkeiten eines geheimen Transports des Giftstoffs erweitert, zugleich aber eine Gefahr für zivile Bevölkerung Moskaus darstellt. Im Falle eines Giftlecks können viele Menschen zu seinem Opfer fallen.
Übrigens, in diesem Blog kann man einzigartige Fotos dieses Auslandsgeheimdienstgeländes aus dem Jahr 2016 finden (Archiv).
Ein Blogger, der mit einem Hubschrauber über diesem Objekt geflogen ist, stellt folgendes fest: „Das ist der geheimste Ort Moskaus. Das Stabsquartier des Auslandsgeheimdienstes. Vom Boden kann man es nicht sehen, alles ist dicht umzäunt und von einem undurchdringlichen Wald umgeben. Der Auslandsgeheimdienst erweitert sich und wächst, auf dem Territorium findet der Bau von großen Gebäuden statt. Und hier sehen wir den Parkplatz für die Mitarbeiter. Ich wusste gar nicht, dass wir so viele Aufklärer haben“.
Schlussfolgerung
Das Labor zur Herstellung von Nervengift „Nowitschok“ kann sich an jedem beliebigen Ort in Russland befinden, anhand der Spuren in öffentlichen Quellen und der Reaktion der russischen Vertreter kann man aber annehmen, dass die ursprüngliche Version der britischen Zeitung The Sun der Wahrheit am nächsten kommt. Wir können es natürlich nicht mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit behaupten und unsere Annahmen basieren auf indirekten Hinweisen. Aber Ziel dieser Untersuchung ist es, Schlüsselfragen zu stellen, die Antworten darauf werden wir womöglich schon bald erfahren.
Dieses Material wurde von Kusjma Tutow und Andrej Lisizyn exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel; korrigiert von Klaus H. Walter.
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