Die Blockierung des russischen sozialen Netzwerks „VKontakte“ und andere ukrainische Sanktionen gegen russische IT-Unternehmen hatten Populismus und scharfe Kritik gegen „unpopuläre Reformen“ zu Folge. Das Thema wird derzeit von der ukrainischen Partei „Oppositionsblock“ ausgenutzt. Nachrkriegsdeutschland und die moderne Ukraine: Was kann man an den historischen Beispielen Gemeinsames erkennen und wie sollte die Lustration aussehen, die eine Revanche ehemaliger politischer Eliten ausschließt? Dieses analysieren wir im nachfolgenden Artikel anhand konkreter Beispiele aus der Geschichte, die die modernen Realitäten bestärken.
Der „Oppositionsblock“ verspricht, die Blockierung von „Vkontakte“ und die Lustration aufzuheben
Heute existiert eine reale Bedrohung einer Revanche prorussischer Kräfte bei den nächsten Wahlen. Der „Oppositionsblock“, der aus Ex-Regionalen (Anm.d.Übers: Vertreter der „Partei der Regionen“ von Janukowytsch) besteht, spielt sehr gekonnt mit den neuen Trends. Er verwendet populistische Rhetorik: „Holen wir uns „VKontakte“ und „Odnoklassniki“ zurück! Schaffen wir die Dekommunisierung und Lustration ab! Schaffen wir das Verbot der Herstellung von und der Propaganda der St-Georgs-Bänder ab!“ usw. (Quelle, Archiv). Selbst nach dem ukrainischen Maidan sind noch beträchtlich viele Vertreter der alten politischen Elite an der Macht geblieben. Und sie ziehen die Ukraine weiterhin in den Bann russischer Interessen.
Diese Taktik könnte durchaus Früchte tragen: Wenn in den 1990ern und 2000ern Millionen Ukrainer für eine bedingte Rückkehr von Breschnew stimmten, so könnten sich nun auch welche finden, die für eine bedinge Rückkehr eines „Dollarkurses 1:8“ (Anm.d.Red.: Vor 2014 war der Kurs der Hrywnja zum US-Dollar 1:8) stimmen werden.
Ukraine und Deutschland. Wird eine „weiche Lustration“ vor einer Revanche retten?
Die Ukraine ist nicht das erste Land, das eine eventuelle (Neu)Wahl mit Bedacht betrachtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand die erste Bundestagswahl 1949 statt. Die NSdAP war zwar verboten, namhafte Nazis hatten ihre Strafe bekommen, aber das mittlere Glied war nirgendwohin verschwunden.
Die Wahl fand unter der Kontrolle der Sieger statt, darum war eine vollwertige Revanche gänzlich ausgeschlossen. Aber selbst bei dieser Ausgangslage war das erste deutsche Nachrkriegsparlament kunterbunt geworden.
Gleich 17 Mandate von 402 möglichen erhielt die regionale Bayernpartei. Im gesamtdeutschen Ausmaß erhielt sie zwar nur 4,2%, aber die 5%-Hürde galt für jedes Bundesland separat. Im heimischen Bayern erreichten lokale Nazis stolze 20,9% und erhielten weitere Mandate von den Majoritätsvertretern. Das sieht bei den ukrainischen Kämpfern für Föderalismus ziemlich ähnlich aus – zur Schaffung einer „BVR“ fehlte den Bayern nur ein Nachbar wie Russland.
Trotz eines Überflusses an sozialistischen Parteien war die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) in den ersten Bundestag eingezogen – 15 Mandate und 5,7% Stimmen. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, hatten sie zuallererst die Kommunisten verboten, die bis 1945 in Gefängnissen, im Untergrund oder in der Sowjetunion saßen. Aber selbst nach der Niederlage der Nazis wurde schnell klar, dass die Kommunisten eher eine neue fünfte Kolonne und Einflussagenten der UdSSR bzw. DDR darstellten. Darum begann bereits 1951 ein Prozeß zum Verbot dieser Partei und die Absetzung vieler kommunistischer Beamten von ihren staatlichen Posten. Endgültig verboten wurde die KPD 1956. Ja, mit den Kommunisten wollten nicht mal Demokraten zimperlich sein.
Übrigens waren die Kommunisten nicht die erste verbotene Partei in Nachkriegsdeutschland. Als erste wurde 1952 die Sozialistische Reichspartei verboten, die ganze drei Jahre existierte und gerade begann, eine gewisse Popularität unter Kriegsveteranen und ehemaligen Funktionären zu erlangen. Die Behörden wollten aber nicht lange zusehen, wie am Horizont eine neue NSdAP entsteht und hatten sie kurzerhand verboten.
Diese Partei entstand übrigensi aus einer anderen monarchistischen Partei – der Deutschen Konservativen Partei-Deutschen Rechtspartei (DKP-DRP), die bei der ersten Bundestagswahl 1,2% erreichte und 5 Mandate erhielt.
Deutschland als Beispiel für eine gelungene Lustration
Die rechten konservativen Ideen waren in Nachkriegsdeutschland nirgendwohin verschwunden. Auf diesem Feld gab es sogar kaum Platz, denn die Adepten eines Großdeutschland warteten auf ihre Revanche. Offen hatte Hitler natürlich keiner unterstützt, viele setzten sich aber gegen die Kommunisten/Sozialisten und für eine Renaissance Deutschlands ein. Bei der Wahl 1949 war auch die Deutsche Partei durchaus erfolgreich: 4% Stimmen und 17 Mandate.
Und wenn wir es nur mit den Rechten zu tun hätten, denn mit populären Themen spielten auch große Parteien. Die Freie Demokratische Partei (FDP) erreichte bei der Wahl 1949 11,9% Stimmen und bekam 52 Mandate. Und wurde somit zur drittgrößten Fraktion im Bundestag. Die renommierte Zentrumspartei bot ihren Wählern auf den Wahlkampfplakaten allerdings an, einen Schlussstrich unter die Entnazifizierung und „Bürger zweiter Klasse“ zu ziehen.
Der Stil des Plakats erinnert die Wähler an die Stilistik der Nazi-Plakaten und das Wort Schluß ist wohl extra mit zwei „S“ geschrieben. Diese Spielchen mit dem Wähler hatten durchaus ihre Logik, denn 8.5 Millionen Deutsche waren Mitglieder der NSdAP gewesen. Nach dem Ende des Krieges verabschiedeten die Sieger die Gesetze über Lustration und teilten die Verdächtigen in fünf Kategorien ein:
- Hauptschuldigen (Kriegsverbrecher);
- Angeklagte (Aktivisten, Militaristen);
- sekundäre Schuldigen;
- Mittäter;
- Unschuldige.
In den westlichen Gebieten hatten mehrere Millionen Deutsche diese Prüfungen durchgelaufen, und viele wurden in ihrem Recht auf die Besetzung eines staatlichen Amtes eingeschränkt.
Und selbst die Wahlsieger – die Sozialdemokraten und die Sozialisten – schmeichelten sich bei den Wählern ein und versprachen auf ihren Wahlplakaten ein vereintes Deutschland, zu dem auch Königsberg, Schlesien und die Sudeten gehören sollten.
In Deutschland fand eine Revanche nicht statt – dank der harten Position der Sieger, die selbst für die Registrierung einer Partei separate Lizenzen ausgaben. Von Gedanken über einen bedingten „Dollarkurs 1:8“ wurden die Deutschen durch schnelle Reformen und den Wiederaufbau der Wirtschaft abgelenkt. Und alle Versuche der Revanchisten, sich in die politische Elite durchzuschleichen, wurden durch eine Reihe von Parteiverboten und gerichtlichen Entscheidungen beendet.
Die Ukraine und die misslungene Lustration
In der Ukraine ist die Situation der Lage im Nachkriegsdeutschland zwar ähnlich, etwas schwieriger ist sie jedoch schon. Die lokale politische Elite hat den Prozess der Lustration verpfuscht und niemand wundert sich noch über einen ehemaligen Vertreter der „Partei der Regionen“ im Fernsehen oder selbst in einem wichtigen Amt. Im Unterschied zum Nachkriegsdeutschland, das vollständig von den Vertretern des Anti-Hitler-Bündnis kontrolliert wurde, haben die lokalen politischen Kräfte in der Ukraine unter einander heimtückisch beschlossen, einen Prozess des Wiederauflebens der politischen Elite abzuwickeln. Hat aber nicht geklappt.
Die Ukraine hat keine Entsprechung des Marschall-Plans bekommen. Im Donbas wird weiterhin Krieg geführt. Die Krim ist besetzt. Und wirtschaftliche Reformen werden eher unter der Peitsche durchgeführt und sind meist terminlich mit den Anforderungen der EU oder USA abgestimmt.
In der Ukraine begeht die Obrigkeit des Öfteren Fehler aus dem Nichts heraus und reagiert viel zu spät auf Informationsanlässe. Zum Beispiel hätten die ukrainischen Beamten das Verbot der Buchhaltungssoftware „1C:Buchhaltung“ auch anders präsentieren können: sie hätten erklären können, dass dieses Verbot den Großteil der Privatnutzer gar nicht treffen wird, und zeigen können, welche Bedrohung die Nutzung von russischen Informationsprodukten mit sich bringt. Aber die Obrigkeit gibt zuerst einen Anlass für einen Angriff und scharfe Kritik und ist dann beleidigt über das „Hochschaukeln der Situation“ und eine weitere Welle von „Srada“-Rufen (ukr. „Verrat“). Das sind alles Kleinigkeiten, solange es nicht um Wahlen geht, bei denen das Volk „sich an alles erinnern wird“, dank derselben ehemaligen Vertreter der „Partei der Regionen“, die noch immer einen bedeutenden Teil der Medien kontrollieren.
Nach dem Maidan wurde in der Ukraine die Kommunistische Partei verboten und eine Dekommunisierung durchgeführt, die Vertreter der „Partei der Regionen“ sind aber an der Macht geblieben. Die Lustration wurde rein formell ausgeführt. Am Ende fühlten sich die ehemaligen Vertreter der „Partei der Regionen“ – „Nasch Krai“ (zu dt. „Unsere Gegend“) und „Oppositionsblock“ – bei den letzten Wahlen für die vereinten territorialen Gemeinderäten ziemlich wohl.
Nach drei Jahren stehen wir vor einer drohenden Revanche. Nachkriegsdeutschland konnte es dank den ergriffenen Maßnahmen bewerkstelligen. Die kämpfende Ukraine steht heute vor einer weiteren historischen Herausforderung: Wie können wir das Abgelebte von uns fern halten?
Dieses Material wurde von Anton Pawluschko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel; editiert von Klaus H.Walter.
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