
von Irina Schlegel
Im nachfolgenden Artikel erläutern wir unseren Standpunkt zum Thema „Ukrainische Sanktionen gegen russische Internetdienste“.
Seit Tagen toben im ukrainischen Internetraum heftige Diskussionen über das Verbot der russischen sozialen Netzwerke und Dienste, die verdeckte Kremlpropaganda in der Ukraine betreiben.
Die Gesellschaft spaltete sich in jene, die diese Entscheidung über dreijährige Sanktionen gegen die Internetquellen des Aggressorstaates unterstützen, und solche, die sich über die Verletzung eines der wichtigsten Postulate der Demokratie – Meinungsfreiheit – Sorgen machen.
Wir versuchen zu erklären, warum in diesem Kontext der Begriff „Meinungsfreiheit“ wohl kaum benutzt werden kann.
In Artikel 34 der Verfassung der Ukraine wird dieser Begriff wie folgt beschrieben:
„Jedem wird das Recht auf Gedanken- und Wortfreiheit, auf freie Äußerung seiner Ansichten und Überzeugungen garantiert. Jeder hat das Recht, Informationen frei mündlich, schriftlich oder anderweitig und nach eigener Wahl zu erfassen, aufzubewahren, zu nutzen und zu verbreiten. Die Verwirklichung dieses Rechts kann durch Gesetz im Interesse der nationalen Sicherheit, territorialen Integrität oder gesellschaftlichen Ordnung zur Verhinderung von Unruhen und Verbrechen, zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung, zum Reputationsschutz und dem Schutz der Rechte anderer, zur Verhinderung der Bekanntmachung von Informationen, die auf vertrauliche Weise erhalten wurden oder zur Gewährleistung der Autorität und Unvoreingenommenheit der Rechtspflege eingeschränkt werden“.
Bereits seit drei Jahren leben wir im Zustand nicht nur eines realen Krieges, den Russland im Osten der Ukraine führt, sondern im Zustand eines alltäglichen Informationskrieges, den der Aggressor gegen die ganze zivilisierte Welt führt. Unter den neuen Bedingungen des Hybridkrieges, in dem dem Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen, der Veränderung ihrer Realitätswahrnehmung und als Folge – physischen Handlungen, die zur Zerstörung unserer Zivilisation führen, große Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Wo endet die Meinungsfreiheit und wo beginnt offensichtliche Propaganda, die Tod, Zerstörung und Volksverhetzung bringt? Wenn ein Arzt oder ein Jurist mehrmals bestimmte Fehler begehen, wird ihnen die Lizenz entzogen. Warum können Journalisten, die in unserer Zeit große Macht über den menschlichen Verstand und das Bewusstsein besitzen und dementsprechend auch Macht über das weitere Schicksal des Landes und den Vektor seiner Entwicklung, nicht zur Verantwortung gezogen werden?
Wir wissen doch alle, was in den letzten drei Jahren geschehen ist. Wir wissen, warum so viele Menschen im Donbas im entscheidenden Moment begannen, für Russland und gegen die Ukraine aufzutreten – das war doch keine Folge von realen feindlichen Handlungen der Ukraine gegen sie, sondern die Folge der russischen Propaganda, die die Menschen aus dem Fernsehen und Internet überflutete.
Gerade diese Propaganda wurde auch zum Grund dafür, dass 2014 die Menschen den ukrainischen Panzern den Weg versperrten, sich an ausgedachten Referenden beteiligten und einige noch immer denken, dass „Russland nichts damit zu tun hat“ und „SieSindDaNicht“.
Also hat der Einfluss auf das Bewusstsein reale menschliche Tode zu Folge gehabt.
Und genau dafür wurden einige Personen sowohl beim Nürnberger Tribunal als auch bei den Gerichtsprozessen im Fall Ruanda angeklagt und verurteilt.
Kann man im Zustand des Krieges überhaupt von „Zensur“ sprechen? Kann man russische Quellen, die unter unmittelbarer Kontrolle des Kreml stehen und die Daten ihrer User jederzeit an den FSB übergeben, als Journalisten, IT-Mitarbeiter oder Medien bezeichnen?
Über den russischen Internetdienst Yandex und die wahren Besitzer seiner Aktien schrieben wir erst kürzlich im Artikel: „Hybridkrieg: Die latente Gefahr von Yandex (Infografik)“
Viele wissen über die berüchtigte russische „Gerasimow-Doktrin“, in der es unter anderem darum geht, dass es unter Bedingungen der modernen Realität unabdingbar ist, sich nebst der traditionellen Kriegsführung auf den Informationskrieg zu konzentrieren. Diesem wird riesige Aufmerksamkeit geschenkt, und zu den Methoden dieses Krieges gehört auch die Durchsetzung der eigenen Ideologie, Religion, Lebensweise und Weltanschauung.
All das beobachten wir seit drei Jahren in der Ukraine. Man braucht sich nur an die Geschichten über die Yandex-Karten zu Maidan-Zeiten zu erinnern, auf denen am 18-20. Februar 2014 die Brücken ins Zentrum Kyjiws als geschlossen dargestellt wurden, was die Menschen daran hinderte, in den grauenhaftesten Tagen der Revolution schnell zu Hilfe zu kommen. Die Menschen suchten nach Umwegen, um ins Zentrum zu kommen und verloren dabei Zeit. Zeit, die jemand anderem das Leben kostete… Ist das kein Verbrechen? Und wer verantwortet das?
Wenn jemand bei VKontakte sitzt und „einfach nur Musik hört“, wird er unvermeidlich mit russischer Propaganda konfrontiert: in Form von Werbeanzeigen, Beiträgen, Vorschlägen usw. Das alles fließt unbemerkt in sein Bewusstsein ein. Ein Drogenabhängiger, dessen Bewusstsein mit Drogen vergiftet ist, sieht die Realität nicht so wie sie ist, und seine Wahrnehmung provoziert ihn zu bestimmten Handlungen. Dabei ist er meist überzeugt davon, dass seine Wahrnehmung absolut adäquat ist. Wenn er also seinen Nachbar tötet, glaubt er, dass er gerade ein Monster im eigenen Haus liquidiert. Und es ist völlig sinnlos zu versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Das Einzige, was man tun kann ist, ihm die Drogen abzunehmen. Nach einer Zeit wird sein Bewusstsein wieder zur Realität zurückkehren.
Was die Pressefreiheit angeht, so werden in den letzten drei Jahren die Medien im Namen der „Pressefreiheit“ permanent dazu genutzt, den Krieg immer weiter anzustacheln – Tausende, Millionen Menschen wurden verdummt und hinters Licht geführt, ja sogar auf direkte Weise in den Tod geschickt.
Mein lieber Freund Duden sagt zu diesem Begriff Folgendes:
…von der Verfassung garantiertes Grundrecht der Presse zur Beschaffung und Verbreitung von Informationen und zur freien Meinungsäußerung.
– „Zur Beschaffung“ bedeutet nicht, dass man sich mit Terroristen abspricht, wann und wo sie bald auf Wohnviertel schießen werden, um dahin zu kommen und einen Beitrag rechtzeitig drehen zu können, damit man es dann einem verdummten Volk als den Beschuss des Gegners präsentieren kann. „Zur Beschaffung“ impliziert auch nicht, dass man Laiendarsteller findet, die man als Opfer vorstellt, und auch nicht, dass man Geschichten gänzlich neu erfindet. „Zur Beschaffung“ hat nicht notwendig zur Folge, dass man in einem anderen Land „Informationen“ eines direkt vom verbrecherischen Regime bezahlten und gesteuerten Mediums einkauft und Lügen weiterverbreitet, die dazu führen, dass die Gesellschaft dieses anderen Landes ein vollkommen falsches Bild vom Geschehen bekommt, wie es in Deutschland gewesen ist.
– „Verbreitung von Informationen“ bedeutet nicht, dass man Interviews bei Terroristen nimmt, die nach einer Direktive eines faschistischen Regimes agieren und dementsprechend das sagen, was ihnen aufgetragen wurde. Auch ist damit nicht gemeint, dass man geschmiert wird, um „Informationen zu verbreiten“, die die gesellschaftliche Meinung in dem jeweiligen Land beeinflussen sollen. Auch schließt „Verbreitung der Informationen“ nicht ein, dass man absichtlich einen Teil, wenn nicht die ganze Wahrheit verschweigt, sie verdreht und auf diese Weise sein Volk desinformiert, aggressive Stimmungen entfacht und eine falsche Einschätzung der Lage fördert.
– „Freie Meinungsäußerung“ bedeutet auch nicht, die Vertreter eines Opferstaates außer Acht zu lassen und Talkshows mit den Vertretern des Aggressorsstaates zu machen, wie wir es im Lauf von 2014-2015 in den deutschen Medien beobachteten; es impliziert auch nicht, Geld von Verbrechern zu nehmen und bezahlte „Meinungen“ unter dem Deckmantel der „freien Meinungsäußerung“ zu verbreiten.
Jeder Journalist muss für seine Arbeit Verantwortung tragen. Im Fall der nachgewiesenen Nachlässigkeit, Bestechlichkeit, absichtlicher Verbreitung von Lügen und Falschinformationen, die zum Tod von Tausenden Menschen geführt haben oder führen, muss der betreffende Journalist meiner Meinung nach zur Verantwortung gezogen werden. Zuallererst in Form eines Berufsverbots, und in bestimmten Fällen muss er womöglich auch vor Gericht gestellt werden.
Auf jeden Fall glaube ich aber daran, dass all diese Menschen, die das in den letzten drei Jahren getan haben, es auf die eine oder andere Weise seelisch büßen werden müssen, denn ihre Hände sind voller Blut, auch wenn sie diese scheinbar nie dreckig gemacht haben. Dieser Hybridkrieg hat ganz deutlich gezeigt, dass das Wort buchstäblich töten kann. In diesem Krieg sind Tausende Menschen wegen verbrecherischer Tätigkeit jener, die nur das Wort (oder auch das Bild) als Waffe haben – der Journalisten, in den Tod gegangen.
„Pressefreiheit“ muss in der Verfassung nach diesen drei Jahren sehr genau definiert werden, denn es zeigte sich sehr deutlich, dass sie sehr schnell zu einem Verbrechensmittel werden kann, und zwar zum Mordmittel.
Am 9. Mai hat Russland außerdem die Durchführung von Märschen des „Unsterblichen Heeres“ auf der ganzen Welt initiiert, unter dem Slogan des „Andenkens an die Gefallenen im Kampf gegen den Nazismus“ – wir schrieben über diese Maskerade, die das Andenken der Helden zur Verbreitung von kommunistischen und prorussischen Ideen in der Weltgemeinschaft ausnutzt.
Man darf auch nicht über den Einfluss des Kremls auf die Bürger der Ukraine über die Religion vergessen, und zwar über das Moskauer Patriarchat der Orthodoxen Kirche. Darüber, dass bereits seit 2008 mit Hilfe der Kirche antiukrainische Propaganda geführt wurde, schrieben wir in unserer Artikelreihe FrolovLeaks. Zum nächsten Schritt beim Widerstand gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine muss das Verbot des Moskauer Patriarchats in der Ukraine werden.
Dieses Material wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet; deutsche Version editiert von Klaus H.Walter.
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4 Responses to “Meinungsfreiheit vs. Informationskrieg: Zu ukrainischen Sanktionen gegen russische Internetdienste”
30/05/2017
Свобода слова vs. Информационная война: По поводу украинских санкций против российских ИТ-компаний - InformNapalm Blog[…] Автор: Irina Schlegel, специально для сайта международного разведывательного сообщества InformNapalm. […]
17/06/2017
Die Mail.Ru-Group versucht, ukrainische Sanktionen über eine Offshorefirma in Zypern zu umgehen - InformNapalm.org (Deutsch)[…] russischen sozialen Netzwerke „VKontakte“ und „Odnoklassniki“, die unter die ukrainischen Sanktionen gekommen sind. Näheres dazu im nachfolgenden technischen Gutachten von […]
28/06/2017
Aggressive russische "soft power" in der Ukraine - InformNapalm.org (Deutsch)[…] alle ehrlich spielen. „Neutralität“, „Ausgewogenheit“ und sonstige „journalistische Richtlinien“ werden vom Aggressor für erlogene Propaganda ausgenutzt (EML-Brief, […]
17/05/2018
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