Die Schicksale der Menschen und die Informationsflüsse sind miteinander verflochten. Man weiß nie, welches Faktum das Gesamtpuzzle der Ereignisse vervollständigen kann. Es ist uns gelungen, das Puzzle einer bestimmten Geschichte zusammenzufügen.
Gestern wurde auf einem separatistischen Propagandasender ein Video veröffentlicht: „Das Verhör eines gefangengenommenen Majors der ukrainischen Aufklärung in der Nähe von Debalzewe“:
Lassen Sie sich vom Datum der Veröffentlichung nicht täuschen – dieses Archiv-Video wurde gerade jetzt erst reingestellt, nachdem sich Resonanz auf eine andere Geschichte, die mit diesem Video verbunden ist, gelegt hat, und zwar die Geschichte mit einem „Interview“ eines Feldwebels der russischen Armee namens Eugen Tur. Wir baten einen Freund, der mit der Situation unmittelbar vertraut ist, um einen Kommentar zu dem Video.
Alexej (ein Offizier der ukrainischen Armee): „Fangen wir damit an, dass dieser Major, der im Video zu sehen ist, ungefähr so viel mit der militärischen Aufklärung zu tun hat, wie ich mit der Raumfahrt. Ich kann nicht alle Details verraten, aber wenn wir uns das Video genauer anschauen, werden wir feststellen, dass der Offizier behauptet, dass er Verwundetee abholen wollte – und er sagt die Wahrheit. Dann kommt das übliche Geschwafel der Separatisten im Hintergrund: „Warum bist du in den Donbas gekommen, warum vergewaltigt und tötet ihr Russischsprachige“ usw. – also das übliche Sortiment eines Propagandisten. Aber beachten Sie: Der Major bewahrt ein sicheres Auftreten und fragt sich anscheinend, warum dieser Clown aus einer kriminellen Gruppierung sich wie ein Ermittler aufführt. Warum ist der Major so erstaunt? Weil, nachdem das Interview mit dem Feldwebel der russischen Armee Eugen Tur auf YouTube aufgetaucht ist, die russischen Komplizen der Separatisten erkannt haben, dass ihre Anwesenheit erneut offengelegt wurde und es dringend notwendig ist, einen Gefangenenaustausch und Verhandlungen mit dem ukrainischen Geheimdienst durchzuführen, bevor Feldwebel Tur bei Pressekonferenzen zu Wort kommen könnte. Die Separatisten mussten eine Lösung finden, um den Feldwebel einzutauschen. Ihr Versuch, ukrainische Militärangehörige gefangenzunehmen bzw ihnen eine Falle zu stellen, hatte Erfolg. Es war ungefähr so: Eines Nachts ging beim Stabsquartier des Sektors ein Anruf ein. Die „Volkswehr hat uns angeboten, unsere Verwundeten vom neutralen Gebiet abzuholen, insgesamt 5 Personen, überwiegend aus dem Sanitätsdienst. Ohne jegliche Rücksprache ist der Major mit ein paar Jungs aufgesprungen und zum Treffpunkt gefahren. Deshalb braucht der Separatist, der das Verhör führt, gar nicht zu erzählen, wie er „unter Aufbietung aller Kräfte einen Kommandotrupp der ukrainischen Armee gefangengenommen“ hat. Der Major dagegen fühlt sich sicher, denn er glaubt immer noch, dass er Unterhändler ist, der die Verwundeten abholen soll. Ich persönlich stelle mir die Frage, warum die Söldner einem Menschen die Hände gebunden haben, der für sie keine Bedrohung darstellt? Alles nur Zurschaustellung, nichts weiter“.
Die Geschichte von Alexej macht einiges klarer. Jetzt sehen wir uns das Video mit dem Feldwebel Tur mal genauer an.
In dem November-Video mit dem Bericht des Feldwebels sehen wir, dass seine Hände frei sind, er raucht sogar eine Zigarette und trinkt Kaffee, und man versucht mit ihm wie mit einem Menschen zu sprechen, ohne ihm Klischees aufzudrängen.
Das Video mit dem Major vermittelt ein ganz anderes Bild. Das ist der Unterschied zwischen zivilisiertem Denken und der Handlungsweise der „Barbaren“.
Außerdem haben wir erfahren, dass das Ende dieser Geschichte ganz rapide kam: Nach dem Auftauchen des Videos mit dem Feldwebel Tur stieg sein Tauschwert an, und faktisch zwei Tage später hat man ihn gegen fünf ukrainische Militärangehörige eingetauscht, darunter auch den Major. Das einzige, was wir erfahren konnten, war, dass Feldwebel Tur nicht von russischen Militärs in Empfang genommen wurde sondern vom russischen Geheimdienst FSB. Danach wurde sein Profil aus sozialen Netzwerken gelöscht, und seine Familie und Freunde haben ihn nie wieder gesehen. Jedenfalls erschienen solche Kommentare auf seinem Profil im sozialen Netzwerk VKontakte, bevor es gelöscht wurde.
So sind die Wendungen des Schicksals.
P.S. Interessanterweise sprach gestern ein Freiwilliger von InformNapalm mit einem Vertreter des ukrainischen Geheimdienstes über das Thema „Warum werden die gefangenen russischen Militärs von offiziellen Behörden versteckt und nicht der Öffentlichkeit präsentiert?“.
Im Laufe der Diskussion wurde ihm klargemacht, dass es eine stillschweigende, nicht dokumentierte Vereinbarung gibt. Es gab keine Verhandlungen als solche, aber man geht davon aus, dass wenn die ukrainische Seite anfangen sollte, gefangene russische Militärs massenhaft in offiziellen Medien zu zeigen, die russische Seite eine Flut von Videos mit Verhören unserer Gefangenen durch die Terroristen veröffentlichen könnte.
Das sehen wir jetzt: Videos mit unseren Gefangenen, in denen sie von Separatisten moralisch gedemütigt werden, gezwungen werden, fürs Video zu hüpfen und erniedrigende Gesänge zu skandieren, in den Kerkern festgehalten – und manche nach Russland verschleppt werden. Ein markantes Beispiel ist Nadija Sawtschenko, die widerrechtlich in einem russischen Gefängnis festgehalten wird. Reicht das wirklich nicht für wenigstens ein paar Gegenmaßnahmen?
Es scheint, dass die Ausreden über ein taktisches Spiel und die Verweise auf das ausgeklügelte Szenario hier nicht funktionieren. Das ist natürlich kein Grund, um ins Jammern zu verfallen und „alles ist verloren, man hat uns fallen lassen“ zu schreien. Nein! So weit kommt es nicht. Wir sind Anhänger anderer Methoden, wie in dem Witz:
Der Generalstabchef ruft den Verteidigungsminister an:
– Herr Minister, die Armee rebelliert!!!
– Was? Gehen die auf Kyjiw?!
– Nein, sie haben Donezk eingenommen und gehen auf die Krim!!!
Fortschritt und Initiative würden wir aber gerne nicht nur bei den freiwilligen Helfern sondern auch auf der Ebene der staatlichen Institutionen sehen.
Quelle: InformNapalm; übersetzt von Olena Köpnick.
CC BY 4.0
3 Responses to “Tausch ist Tausch, oder wohin ist Feldwebel Tur verschwunden?”
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