von Irina Schlegel
Es gab mal eine Zeit, da hatte Deutschland eine gemeinsame Grenze mit Russland. Es war zwar kein Deutschland und auch kein Russland, denn damals waren es Imperien, die jeweils Deutsches Reich und Russisches Imperium hießen – diese Tatsache scheint aber die heutigen deutschen Links- und Rechtsextremisten wenig zu interessieren.
Seitdem sind faktisch genau 100 Jahre vergangen, zwei Weltkriege mussten die Europäer austragen, Millionen menschliche Opfer waren ihre Folge, Millionen flüchteten aus Europa… Europa ist für Jahrzehnte in zwei Teile zerfallen, frühere Imperien haben aufgehört zu existieren. Die Vorstellung „Im Osten von Deutschland fängt Russland an“ scheint aber in den Köpfen einiger Deutschen noch immer festzusitzen. So fest, dass die Botschafter der Baltischen Staaten sich kürzlich gezwungen sahen, einen Brief an die deutsche Zeitung „Zeit“ zu schreiben, die die leidvolle Geschichte Osteuropas, das schon immer zwischen den großen Reichen eingequetscht war und Jahrhunderte lang um seine Unabhängigkeit kämpfen musste, wieder mal außer Acht gelassen hat:
Das Problem kann man aber leider nicht als ein alleiniges Problem der deutschen Medien bezeichnen. Die Vorstellung, sich nur vor Russland rechtfertigen, nur Russland gegenüber Verantwortung tragen und nur dieses wahrnehmen zu müssen, scheint schon ein genetisches Gedankengut bei den Deutschen zu sein. Für den II. Weltkrieg entschuldigt sich Deutschland immer noch nur bei den Russen, und vergisst dabei, dass „verbrannte Erde“ im II. Weltkrieg eigentlich Belarus und Ukraine bedeutete…
Und dass die Sowjetunion im Grunde ein Gefängnis der Völker war, in das viele Völker, wie die baltischen Botschafter gerechterweise anmerkten, infolge des bolschewistischen Terrors hineingezwungen worden waren. Weder möchten deutsche Putinisten von der Tatsache erfahren, dass Kiewskaja Rus, deren Hauptstadt verständlicherweise Kiew war, lange Zeit vor Russland existierte, noch möchte das deutsche Auswärtige Amt den Ukrainern zum orthodoxen Weihnachten gratulieren und erwähnt nur Russen (Anm. d. Red: Beim Posting bitte auf den „Bearbeitungsverlauf“ achten – nach einer Empörungswelle in den Kommentaren wurde das Posting nämlich geändert). Wobei es die Orthodoxie in Kiew zu Zeiten gab, als es noch weder Russland (den Namen hat diesem Land Peter der I. im XVIII. Jahrhundert gegeben) noch Moskau gab. Genauso wollen die Westeuropäer nicht wissen, dass sie ihre Kultur im Grunde sehr viel den Polen und den Kosaken (den Vorfahren der Ukrainer) verdanken, die die Tore Europas Jahrhunderte lang vor Invasoren aus dem Süden und Osten verteidigten und Westeuropa somit die Möglichkeit gaben, sich in Ruhe zu entfalten…
Nun ja, man muss zwar nicht die ganze Geschichte kennen (wenn es auch eigentlich gewünscht wäre, wenn man sich schon Europäer nennt), aber gut – es gibt noch die letzten 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, was bedeutet, dass es nun tatsächlich ein Russland (das es vorher nie gab) und andere Republiken und unabhängige Staaten gibt. (Übrigens sind die meisten Jungs an der Front auch bereits in der Ukraine geboren worden – sie kennen Sowjetunion auch nur aus dem Fernsehen). Und keiner von diesen Staaten ist Russland irgendetwas schuldig – eher umgekehrt, die internationale Gemeinschaft hätte darauf bestehen müssen, dass Russland seinen Nachbarn gegenüber als der einzige Rechtsnachfolger der UdSSR, als welcher es sich verstand, Reparationen zahlt (oder zumindest ihre Verbrechen wie den Holodomor anerkennt) – nein. Im Gegensatz. Weder das Budapester Abkommen, noch die Annexion, die 2014 vor den Augen ganz Europas ablief, noch die 10 000 Ukrainer, die von den Russen und ihren Truppen in den letzten zweieinhalb Jahren getötet wurden – nichts hat bei den deutschen „Linken“ auch nur einen Funken Rechtsverständnis, Europa-Verständnis oder auch einfache menschliche Empathie geweckt.
Aber die amerikanischen Panzer, die (endlich!) nach Osteuropa kommen und um die ihre östlichen Nachbarn seit zwei Jahren regelrecht gebettelt haben (Was sie eigentlich gar nicht tun mussten, denn sie sind NATO-Mitglieder, und das hätte längst geschehen müssen, angesichts der russischen Aggression) – diese Panzer haben die deutsche „Friedensbewegung“ auf einmal wieder auf die Strassen gebracht.
Ihre Logik ist dermaßen verdreht, dass sie selbst hier wieder von den „bösen Amis“ sprechen und von „Wiederaufnahme des Kalten Kriegs“ – und sich nicht mal dafür schämen, die zweijährigen Leiden ihrer Nachbarn völlig ignoriert zu haben…
Erstaunlich.
Seit Tagen ist die deutsche Medienlandschaft mit Meldungen über die Verlegung von amerikanischen Panzern nach Polen überfüllt. Der ganze linke Extremismus, Antiamerikanismus, sowie der deutsche Chauvinismus hinsichtlich Osteuropa ist an diesen Meldungen und den Kommentaren dazu wunderbar zu studieren. Nicht nur, dass deutsche Linksextremisten keine Ahnung haben, dass im Osten von Deutschland kein Russland anfängt – sie sind sich auch noch nach 2,5 Jahren russischer Aggression gegen die Ukraine, der Annexion einer ganzen Halbinsel und der Vernichtung des syrischen Aleppo noch immer nicht darüber bewusst, wie sehr Osteuropa, in erster Linie Baltische Staaten, Polen und Ukraine Unterstützung von ihren westlichen Partnern brauchen, denn Russland führt seit 2,5 Jahren zwar einen realen Krieg „nur“ gegen die Ukraine, sich Osteuropa aber der Gefahr des weiteren Vorstoßes Russlands sehr bewusst ist und sich dagegen verteidigen will, soll und darf.
Das interessiert die sogenannten „Pazifisten“ nicht. Nicht im Geringsten. Es geht nur ums Ausleben ihres Antiamerikanismus. In ihrem Hass auf die westliche Welt, die es ihnen erlaubte, in einem sicheren und reichen Land zu leben, sind sie bereit, die ganzen Osteuropäer den Russen zum Fraß vorzuwerfen.
Im Grunde finde ich deutsche Watnike/Putinisten sogar schlimmer als die Russen selbst. Denn die Russen kennen seit Generationen nichts anderes als ihre eigene Propaganda. Als Russe muss man es schon wollen, die Geschichte Osteuropas mal nachzulesen und zu verstehen, dass osteuropäische Staaten wie Polen, Baltikum oder Kroatien von ihrem NATO-Beitritt nur profitiert haben und heilfroh darüber sind. Dazu müssen die Russen Infos suchen.
Für den Westen müsste das osteuropäische Problem mit Russland allgemein bekannt sein. Denn die Deutschen standen nicht unter Sowjetpropaganda und Informationen gibt es im Westen ebenfalls seit Generationen überall, in jeder Sprache.
Darum ist es im Grunde ein noch schlimmeres imperialistisches und chauvinistisches Gedankengut, das die deutschen „Linken“, „Pazifisten“ zusammen mit den „Reichsbürgern“ und gewöhnlichen Putinisten da an den Tag legen. Im Osten von Deutschland fängt kein Russland an, Leute. Und jede Befürwortung der russischen Politik gegenüber Osteuropa ist nicht nur chauvinistisch, sondern auch ein Zeichen von fehlender Empathie, Einsicht und europäischer Einigkeit.
Es geht nicht um Euch, liebe „Wessies“. Es geht um zig Millionen Europäer, die nicht zu Eurasien gehören wollen.
Dieses Material wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
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4 Responses to “Über das westeuropäische Verständnis von Osteuropa, oder wo enden die Grenzen Russlands?”
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