Am 11. Juni ist das Visa-Abkommen zwischen der Ukraine und der EU offiziell in Kraft getreten. Millionen Ukrainer bekommen nun die Möglichkeit, nach Europa zu reisen, ohne für ein Visum Schlange stehen zu müssen. Und obwohl es immer noch strenge Einschränkungen für Ukrainer bei Grenzüberquerung in die EU gelten, scheint es der Anbruch einer neuen Ära der ukrainischen Migration zu sein. Immer öfter taucht die Frage über die Einführung der Visumpflicht mit Russland auf, was höchstwahrscheinlich nur eine Frage der Zeit ist.
Visafreiheit bedeutet keine Arbeitserlaubnis in der EU, aber in der Praxis wird man wahrscheinlich einen Anstieg der illegalen Beschäftigung von Ukrainern in europäischen Ländern beobachten können. Alle sind sich dessen bewusst, jedoch ist diese Konstellation für alle vom Vorteil – in der Ukraine gibt es nicht genug gut bezahlte Arbeit für alle Bürger und in der EU wird man sich über billige Arbeitskräfte freuen.
Die Anzahl von im Ausland arbeitenden Ukrainern kann man nicht genau einschätzen – die Rede ist von Millionen Ukrainern im arbeitsfähigen Alter. Arbeitskräfte, die sich zu Hause nicht verwirklichen konnten, suchen Arbeit in anderen Ländern. Nach offiziellen Angaben handelt es sich um 5 Millionen Arbeitsmigranten. Etwa 25-40% von ihnen arbeiten in Russland – nach einigen Angaben sind es bis zu 2,1 Millionen Ukrainer. Ein Teil dieser „russischen“ Arbeitsmigranten bleibt in Russland wahrscheinlich für immer, ein anderer Teil von ihnen wird sich auf die Arbeitsmärkte der EU-Länder umorientieren. Seit 2014, nach der Schwächung des Rubels und dem Einbruch der Wirtschaftskrise in RF, haben viele Migranten Russland verlassen, und auch Ukrainer werden nach neuen Jobs im Ausland suchen müssen.
Die Anzahl illegaler Migranten ist schwer einzuschätzen, weil sie des Öfteren die Grenze überqueren, ohne sich beim Konsulat anzumelden, oder schwarzarbeiten und deswegen in keinen Statistiken ausländischer Beschäftigten erfasst werden. Manche überqueren die Grenze illegal und ihre Spur verliert sich gänzlich.
Die Einschätzung der Anzahl ukrainischer Arbeiter im Ausland schwankt zwischen der „optimistischen“ 1 Million bis zu „pessimistischen“ 7 Millionen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.
Wir möchten anmerken, dass die Stabilität ukrainischer Wirtschaft in den letzten Jahren zum Großteil durch Fremdwährungsspritzen ukrainischer Arbeiter gewährleistet wurde. Nach Angaben der Nationalbank sind im Jahr 2016 über 5,4 Milliarden Dollar durch Privatüberweisungen in die Ukraine geflossen. Dabei wurden 2,3 Milliarden mittels Banküberweisungen geschickt, 2,1 Milliarden – mittels verschiedener Zahlungssysteme, und private Fremdwährungsüberweisungen kann man nur ungefähr abschätzen. Die Nationalbank geht von einem Betrag von 1 Milliarde Dollar aus (Dokument 1, Dokument 2). Das heißt, dass keiner weiß, wieviel Fremdwährung von den im Ausland arbeitenden Ukrainern ins Land gelangt.
Die Nationalbank nimmt den populären Index der Umlaufgeschwindigkeit zum Vergleich und berichtet über Geldeingänge von den Arbeitern im Ausland in Höhe von 5,8% des Bruttoinlandprodukts der Ukraine. Jedoch wird dieses Geld noch mehrmals innerhalb des Landes umgesetzt und erhöht dadurch das Bruttoinlandsprodukt um einen Multiplikator >1.
Im weltweiten Vergleich sieht Ukraine noch einigermaßen reich aus – nach Tadschikistan überwiesen die Arbeitsmigranten einen Betrag, der 36,6% des Bruttoinlandproduktes ausmachte.
Vielleicht wäre es treffender, die Geldüberweisungen mit dem Staatshaushalt der Ukraine zu vergleichen – bei diesem Vergleich kann man sagen, dass die Arbeitsmigranten rund 20% des ukrainischen Staatshaushaltes decken.
Interessanterweise sind es nach Angaben der Nationalbank momentan noch gar nicht die besten Jahre für die Ukraine – in 2013 überstieg das Volumen der Geldüberweisungen die Marke von 8,5 Milliarden Dollar.
Man sollte anmerken, dass diese Situation für Entwicklungsländer normal ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Hunderttausende Italiener im Rahmen eines internationalen Abkommens als Gastarbeiter nach Deutschland. Insgesamt gingen mehr als vier Millionen italienische Arbeiter durch den deutschen Arbeitsmarkt.
Mit der Zeit wird es auch in der Ukraine eine erste Generation europäischer ukrainischer Rentner geben, die nach vielen Arbeitsjahren in der EU in die Heimat zurückkehren, um dort von ihren Renten zu leben. Durch diese Prozesse sind schon Italiener, Spanier, Griechen, Jugoslawen gegangen.
Im Endeffekt wird Ukraine zunehmend zum Teil Europas. Wenn nicht das Land der EU beitritt, so werden seine Bürger ihr „beitreten“. Schon jetzt bekommen ukrainische Arbeitsmigranten europäische Pässe. Laut EU-Statistiken bekamen 2015 über 19.000 Ukrainer Staatsangehörigkeiten der EU-Länder. Anführer in dieser Liste sind Deutschland (4917), Portugal (2895), Polen (1957), Italien (1822), Rumänien (1672) und Tschechien (1042).
Jährlich bekommen etwa 20.000 ukrainische Bürger Staatsangehörigkeiten der EU. Allein in Deutschland wurden in den letzten 15 Jahren über 50.000 Ukrainer zu Staatsbürgern. Man möchte anmerken, dass diese Tatsache auf die Migration des Anfangs dieses Jahrhunderts zurückzuführen ist.
Ein wichtiger Merkmal der heutigen Migration ist die Anzahl ukrainischer Studenten im Ausland – 31.000 in Polen und knapp 10.000 in Deutschland (die Gesamtstatistik von UNESCO über Studierende finden Sie hier). In wenigen Jahren bekommen sie europäische Studienabschlüsse, ein Teil von ihnen bleibt für immer im neuen Land und ein anderer Teil kehrt in die Heimat zurück. Diesen Weg sind alle unseren europäischen Nachbarn gegangen, die von den Vorteilen des Marshallplans nicht profitieren konnten.
Die Bevölkerung der Ukraine beträgt seit langem keine 52 Millionen mehr, und das sollte man als Tatsache nehmen – wenn es in einem Land keine Bedingungen für ein normales Leben seiner Bürger gibt, wandern viele aus. Von vielen Auswanderern wird ein großer Teil zurückkehren – manche aus Heimweh, andere – wegen besserer Möglichkeiten, sich zu Hause zu verwirklichen oder um von den in Europa verdienten Renten zu Hause zu leben. Aber die ukrainische Regierung muss noch lernen, mit der ukrainischen Arbeitsmigration zu leben – die Anzahl dieser Menschen wird nur ansteigen, und nach ihrer Rückkehr werden sie ihr Leben auf die für sie gewohnte europäische Weise gestalten. Die Ukraine wird sich verändern, sie wird den Weg des bedingten Polens in die EU gehen. Schade, dass wir so viel Zeit auf Nostalgie nach der Sowjetunion verschwendet haben, es ist aber gut, dass wir der Umlaufbahn der UdSSR endlich entkommen sind.
Dieses Material wurde von Anton Pawluschko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Volodymyr Cernenko; editiert von Irina Schlegel.
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