Weißt Du denn, worin wir stark sind, Basmanow?
Nicht mit dem Heer, nein, nicht mit der Hilfe Polens,
sondern mit der Meinung! Ja! Mit der Meinung unseres Volkes.
A.Puschkin „Boris Godunow“
Über den Informationskrieg spricht derzeit vielleicht nur ein Faulpelz nicht (wobei vieles, was im Medienraum passiert, richtiger als „Informationsterrorismus“ zu bezeichnen wäre, wie es Boris Nemzow formuliert hat). Russland agiert in diesem Krieg sehr raffiniert, indem es seine Taktik permanent ändert, auf die Situation operativ reagiert und immer neuere Kräfte in den Kampf wirft. Alles wie im realen Krieg.
Er wird gegen die Ukraine schon mehrere Jahre geführt, womöglich all die Jahre der Unabhängigkeit, und hat in letzter Zeit einen besonderen Zynismus erreicht.
Wir verlieren weiterhin Stellung für Stellung und Widerstand gibt es nicht genug, oft gibt es gar keinen. Und das Wichtigste: bis jetzt hat noch immer keine „Informations-ATO“ angefangen.
Wir wehren uns durch einzelne Auftritte von Politikern, Publizisten, Journalisten, Diskussionen beim FB, Talkshows im Fernsehen. In letzter Zeit gibt es sogar Probleme mit Talkshows, es scheint ganz so, als ob die Meinungsfreiheit jemandem an der Macht ganz und gar nicht gefällt. Den Krieg gegen die Informationsmonster führen nur freiwillige Aktivisten. Wenn man hier eine militärische Analogie zieht, handelt es sich umeine Abwehr durch einzelne Kämpfer mit Gewehren und Maschinenpistolen gegen eine militärische Armada mit Panzern, Luftwaffe und Raketen. Das Kräfteverhältnis ist ziemlich ungleich. Und viele unsere „Bürger“ (ich kann das nicht ohne Anführungszeichen schreiben) kämpfen in diesem Krieg noch immer auf der Seite des Aggressors.
Von allen „materiellen“ Verlusten sind zum heutigen Tag zwei die wichtigsten: 1. Die Okkupation der Krim und 2. Der Krieg im Donbass, der sich in eine humanitäre Katastrophe für die ganze Region hinüberwächst. Man sollte anerkennen, dass die Einnahme und Annexion der Krim ein grelles Beispiel des Sieges im Informationskrieg ist. Sie wird zweifellos in alle Lehrbücher zur Psychologie der Propaganda eingehen. Aber genauso offensichtlich ist, dass die Krim zurückzuholen ohne Gegeninformationskampf sehr schwierig wird, wenn es denn überhaupt möglich ist.
Wir haben nicht nur reale geografische Regionen verloren. Wir haben riesige Gebiete im Informationsraum verloren, die sich mit „parallelen Antiwelten“ gefüllt haben, gegen welche wir keinerlei Maßnahmen ergreifen. Diese Niederlagen sind primär, sie sind der Grund aller weiteren materiellen Verluste. Wenn wir nicht die „Informationsterritorien“ zurückgewinnen, die in den Köpfen von Millionen Menschen existieren, werden wir auch keine geografischen Territorien zurückerobern können.
Putin ist der moderne Frankenstein
Einmal bin ich im Internet auf die folgende Formel gestoßen (leider kenne ich den Autor nicht): „Die halbe Wahrheit + die halbe Wahrheit = Lüge“. Die Formel ist nicht nur schön, sie spiegelt das Wesen der Erschaffung einer „hochqualitativen Lüge“ genial wieder, die einwandfrei funktioniert und in den Köpfen der Menschen einen festen Platz im System ihrer Überzeugungen einnimmt. Sie ist bei weitem effektiver als klare Fakes in der Art von „gekreuzigten Jungs“ und „hingerichteten Gimpeln“. Die Kraft dieser Lüge besteht darin, dass sie eben keine leere Erfindung ist, sondern aus einzelnen Thesen erschaffen wird, die an sich nicht gelogen sind. Sie sind leicht erkennbar und dienen als „Schlüssel“ zur Anbindung dieser Lüge an die Wahrheit. Das ist dasselbe wie die Tatsache, dass man aus „wahrhaftigen“ Stückchen eines Mosaiks ein Bild zusammenlegen kann, das vom Sinn und Inhalt her seinen Einzelteilen diametral entgegengesetzt ist.
Im bekannten Roman der englischen Schriftstellerin Mary Shelley „Frankenstein oder der moderne Prometheus“ erschafft der Held Victor Frankenstein ein menschenähnliches Monster von einer Riesengröße und Kraft, das später aufhört, sich unterzuordnen und sich an seinem Erschaffer für sein Aussehen rächt.
Es tötet Familienmitglieder von Frankenstein und führt schließlich zu seinem eigenen Tod. Interessant ist hier die Tatsache, dass das Monster aus Einzelteilen der realen menschlichen Körpern zusammengesetzt wurde. Das ist eine Art „Wunder der Transplantation“, aber nicht zur Lebensrettung eines Menschen durch den Austausch eines defekten Organs, sondern mit dem Ziel, ein anderes Objekt (Subjekt) mit gänzlich neuen Eigenschaften zu erschaffen.
Etwas ähnliches ist auch im Informationsraum passiert.
Die propagandistische Maschine des Kremls produziert nicht einfach nur „informativ-propagandistischen Geschosse“, die die Psyche eines Menschen beschädigen. Sie hat eine komplette Parallelrealität erschaffen, in der wie in einem separaten Land Dutzende Millionen Menschen leben.
Nichts daran wäre neu (denn Parallelrealitäten hat man auch in der Vergangenheit erschaffen, überdies auch lange vor der Erfindung des Fernsehens und Internets), wenn es hier nicht einen Umstand gäbe: Diese neue Realität hat eine ungeheuerliche Kraft entfaltet und begann faktisch, ein selbstständiges Leben zu führen. Wie das Monster aufgehört hat, sich Frankenstein unterzuordnen, so hat auch diese monströse Realität aufgehört, sich ihrem Hauptarchitekten Putin unterzuordnen.
In dieser Realität befinden sich Dutzende Millionen Russen, darin sind Hunderttausende Donbas-Einwohner versunken (in erster Linie auf den Territorien, die von den „DVR-LVR“ kontrolliert werden). Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass die Erstgenannten ein alternative Alltagsrealität zu ihrer Verfügung haben, bei den anderen aber der reale und der virtuelle Informationsraum zu einem Ganzen verschmolzen sind, und sie sich nun im Zentrum des surrealen „Theater des Absurdes“ befinden. Wenn man hier eine militärische Metapher anwendet, haben sie sich im Wirkungsherd der informativen Massenvernichtungswaffen wiedergefunden und sind im Grunde Verwundete (informativ gequetscht).
Die Tatsache, dass die Informationswaffe töten kann und das im buchstäblichen Sinne, ist objektiv bewiesen, mit einer mathematischen Genauigkeit. Die Geschichte des Genozids in Ruanda 1994, der nach verschiedenen Angaben das Leben von 500 000 bis zu 1 000 000 Menschen weggefegt hat, demonstriert sehr beispielhaft die Rolle der Radiostation „Radio der tausend Hügel“ beim Entfachen von nationalem Hass und mit Aufrufen zur Vernichtung der ethnischen Minderheit. Dem Harvard-Ökonomisten David Janagisawa-Drott ist derBeweis gelungen, dass in Gegenden, in denen diese Radiostation nicht empfangen werden konnte, die Anzahl der wegen Mordes Verurteilten um 62-69% geringer war, als dort, wo diese Sendungen empfangen wurden. Die Zahlen sind mehr als überzeugend und beweisen die Verantwortlichkeit der Medien für den Tod von Hunderttausenden Menschen.
Darüber kann man im Artikel „Tausend Tote für Tausend Worte. Wie die Propaganda in Ruanda funktionierte“ nachlesen. Übrigens wurden die Moderatoren dieser Radiostation zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Und dabei ist das Fernsehen im Dienst der Propaganda weitaus effektiver als das Radio. Darüber sollte man ernsthaft nachdenken.
Die Haupteigenschaft des Informationskrieges Russlands ist die Verwendung moderner Psychologietechnologien (solche wie zum Beispiel die neuro-linguistische Programmierung) und ein nie zuvor gesehenes Ausmaß der Lüge.
Man sollte daran denken, dass die Resultate der Ansteckung mit den „Toxinen“ der Desinformation für die menschliche Psyche sehr dauerhaft sind, und ihre Folgen sogar nach ihrer Neutralisation weiter existent bleiben. Wenn man dies berücksichtigt, kann man als eine wichtige Folge des modernen Informationskrieges die Tatsache betrachten, dass die von ihm erschaffene Realität nicht mehr zurückzutransformieren, umzulenken, ja nicht einmal zu lokalisieren ist, und noch weniger ist diese zu veredeln, „wahrhaftiger zu machen“, zu entschärfen. Und dabei übersteigt die Toxizität der Lüge ja alle möglichen Grenzen und hat ein Niveau erreicht, das nur mit Massenvernichtungswaffen zu vergleichen ist, und nach manchen Bewertungen sogar diese längst übertroffen hat. Eben darum ist Putin nun zu einer Geisel der von ihm selbst erschaffenen Situation geworden und kann seinen Weg ganz einfach nicht mehr verlassen. Er kann keinen allumfassenden Krieg gegen die Ukraine beginnen (wegen Sanktionen, mangelnder Ressourcen, Krise und vieler weiterer objektiver und subjektiver Gründe). Aber er kann auch nicht mehr anhalten, denn das von ihm erschaffene informativ-propagandistische Monster treibt ihn zum nächsten Amok, es lechzt nach neuem Blut und geht keinerlei Kompromisse ein. Sich ihm nicht unterzuordnen ist Selbstmord (und womöglich nicht nur ein politischer) – das Monster wird sich an seinem Erschaffer auf die raffinierteste Art rächen (und es geschieht bereits). Sich unterzuordnen ist der Weg zur Insania, in der aus Verzweiflung die schrecklichsten Schritte unternommen werden könnten, bis hin zur Anwendung von Atomwaffen.
Zwei Arten des historischen Traumas: Trauma des Opfers und Trauma des Aggressors
In der modernen sozialen Psychologie von großen Gruppen wird aktiv eine Theorie des kollektiven oder historischen Traumas entwickelt.
Wir gehen von der Annahme aus, dass außer dem individuellen Bewussten und dem Unbewussten als Charakteristikum von großen Menschengruppen noch das kollektive Bewusste und Unbewusste existiert. Und mit ihm existieren auch solche Erscheinungen wie ein kollektives Trauma, kollektiver Stolz, kollektive Scham. In letzter Zeit widmet sich auch die Publizistik diesem Thema, schauen Sie doch bitte zum Beispiel die Artikel von Ilja Kukulin „Historisches Trauma als eine kulturelle Erscheinung“ und Michail Jampolski „Wie urteilt man über Sieger?“
So wird die Massenpsychologie des modernen Russland, die der heutigen Politik zugrunde liegt, mit dem Trauma des Imperiumszerfalls erklärt, was mit Versuchen, dieses zu restaurieren, kompensiert wird (die Idee der „Russischen Welt“), das „Aufstehen von den Knien“, die Ausbeutung des Konzepts der Weltverschwörung etc.
Meiner Meinung nach ist es falsch zu denken, dass dem kollektiven Trauma nur die Opfer unterlegen sind. Obwohl es diesem Thema viele Untersuchungen gewidmet sind, sind bei weitem nicht alle Aspekte verständlich. So hat man sehr wenig analysiert, was denn mit der kollektiven Psychologie der Aggressoren geschieht, inwieweit diese Erfahrung für sie traumatisch wird. Das einzige Thema, das wohl gestreift wurde, ist Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, aber das ist ein Schicksal vom Halbaggressor-Halbopfer, das eine Niederlage in diesem Krieg erlitt. Wahrscheinlich darf man das Problem nicht nur von einem einzigen Standpunkt aus untersuchen, denn die Rollen des „Aggressoren“ und des „Opfers“ sind oft gegenseitig verflochten, sie können ihre Plätze tauschen, wie im dramatischen Dreieck von Karpman.
Wenn man diese Prozesse am Beispiel Russlands betrachtet (genauer – der Sowjetunion), so werden wir viele Fakten der kollektiven Traumatisierung durch die eigene Aggressivität sehen, wo die Gesellschaft gleichzeitig als ein Opfer und ein Aggressor auftritt. In erster Linie ist Russland (genauer- die Sowjetunion) ein Staat, der im Laufe von 50 Jahren die Blüte seiner Nation vernichtete und faktisch einen intellektuellen und moralischen Genozid beging.
Angefangen mit dem „Roten Terror“ der 1920er Jahre, dem Bürgerkrieg und der ersten Emigrationswelle (in welcher die Blüte der Nation ausgereist war: Wissenschaftler, Philosophen). Später gab es noch blutigere Ereignisse (Exekutionen und Zwangsarbeit der 1930er), Krieg, im Feuer dessen beste Vertreter der Nation nicht allein durch Feindeshände gefallen sind. Sehr beispielhaft ist das Verhältnis zu jenen, die aus der Gefangenschaft ausgebrochen waren, die die deutschen Konzentrationslager überlebt hatten. In derselben Zeit wurden auch die Deportationen und der Genozid an ganzen Völkern begangen (Tschetschenen, Krimtataren, Wolga-Deutschen und anderen). Eine der schrecklichsten Seiten dieser Geschichte ist der Holodomor der 1930er, der künstlich, ohne objektive Gründe (wie zum Beispiel Missernten) erschaffen wurde. Außer der physischen Vernichtung wurden viele Menschen aus dem Land vertrieben oder sie haben es selbst verlassen, um sich vor Repressionen zu retten oder vor unmenschlichen Existenzbedingungen zu flüchten.
Historische Gründe
Höchstwahrscheinlich hat das alles nicht erst 1917 angefangen, sondern besitzt tiefer gehende historische Wurzeln. Die Geschichte Russlands ist zumindest in den letzten 500 Jahren durch eine expansive Außenpolitik gekennzeichnet (eine würdige Weiterführung von Traditionen der Goldenen Horde). Faktisch stellt die ganze russische Geschichte die Eroberung von immer neueren Territorien dar, die dem unermesslichen Imperiums miangeschlossen wurden.
Allein in den letzten 200 Jahren geschahen die Annexion der rechtsufrigen Ukraine, des Territoriums des Krimer Khanats, Georgiens (Ende 18.- Anfang 19. Jahrhunderts) , später gab es noch den Kaukasus-Krieg und die Unterjochung der Völker des Nordkaukasus.
Die zweite Komponente ist das Verhältnis des Staates zu seinem eigenen Volk, das sich traditionell auf der Ebene von Sklaven befand (die Leibeigenschaft existierte bei uns bis 1861 und wurde während der sowjetischen Ära faktisch wiederhergestellt). Dasselbe Verhältnis hatte man auch zu russischen Genies – man braucht sich nur an das tragische Schicksal von Puschkin, Lermontow, Gribojedow und vielen anderen zu erinnern. Nicht weniger tragisch verlief auch das Schicksal der Wissenschaftler und Erfinder, das wunderbar in der Gestalt von Lewscha in der Novelle von Leskow wiedergespiegelt wird. Lomonossow war wahrscheinlich eine glückliche Ausnahme, indem er faktisch in eine Ikone verwandelt wurde. Das Schicksal der Dekabristen ist ein weiteres Zeugnis dieses Verhältnisses, obwohl wir uns hier nicht sonderlich von anderen totalitären Monarchien unterscheiden, welche die Revolutionäre brutal unterdrückten.
Beispielhaft ist, dass es in der russischen Mentalität eine absolute Ablehnung jeglicher Reformbestrebungen vorhanden war, was ebenfalls seine Spiegelung in der Geschichte fand. Erinnern wir uns doch an den Mord an Alexander II., der vom Volk als der „Befreier“ bezeichnet wurde, einer der wenigen Reformatoren unter den königlichen Persönlichkeiten. Und an den Mord an Stolypin, dessen Reformen Russland unter die fortschrittlichsten Demokratien Europas hätten bringen können. Eine wichtige Besonderheit der russischen Mentalität war die Psychologie der Gesetzlosigkeit, das Fehlen eines Rechtsverständnisses der Welt, die völlige Ablehnung jeglicher Demokratie. Unter anderem auch deshalb hatten die Dekabristen eine Niederlage erlitten, die nach einer konstitutionellen Monarchie strebten, wo das Gesetz über der Macht gestanden hätte.
Alles wurde durch eine Kraft entschieden, die sich Hinterlist, Heimtücke, also Täuschung zu Diensten machte. Das sitzt sehr tief in der russischen gesellschaftlichen Psychologie, bis jetzt.
Damals ist es zu einer logischen Voraussetzung für den Bolschewismus geworden, der eine Quintessenz von allen bis dahin existierenden imperialistischen Tendenzen gemischt mit Unrechtsbewusstsein darstellte und der sie auf das Niveau einer sozialen Krankheit brachte. Das bolschewistische Russland stellte eine genauso kranke Gesellschaft dar wie das faschistische Deutschland.
Die kranke Gesellschaft
Der berühmte deutsche Philosoph und Psychologe Erich Fromm, einer der Forscher der Psychologie des Totalitarismus und Faschismus, veröffentlichte 1955 das Buch „Gesunde Gesellschaft“, in dem es Zeilen wie gibt: „In der Vergangenheit bestand die Gefahr darin, dass die Menschen zu Sklaven wurden. Die Gefahr der Zukunft ist, dass die Menschen zu Robotern werden können“.
Wir neigen dazu, all die Schuld und Verantwortung auf die herrschende Schicht zu verlegen und vergessen dabei, dass all die Gesetzlosigkeit der Anführer mit unserer Zustimmung geschieht. „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient,“- schrieb Joseph Marie de Maistre vor zwei Jahrhunderten. Die Gesellschaft, die grausame Verbrechen innerhalb sich selbst zugelassen hatte, und diese nicht geahndet, nicht abgelehnt und nicht als eine mit der Menschlichkeit vereinbare Tat nicht verurteilt hat, kann sich nicht für gesund halten. Sie kann es per Definition nicht sein.
Ich spreche von der Krankheit der Gesellschaft, nicht nur vom politischen Regime. Denn in all den Jahren der Repressionen hat doch irgendjemand die 5 000 000 Denunziationen geschrieben, nach welchen absolut unschuldige Menschen zu Opfern geworden sind, unter fast völliger Duldung der absoluten Mehrheit der Menschen, vor deren Augen all das passierte. Auf der einen Seite bedeutet die Vernichtung von Millionen Menschen das Ausbluten der Nation, die ihre klügsten, talentiertesten, gewissenhaftesten Vertreter verliert. Auf der anderen ist es eine Sünde, ein Verbrechen, das sich im kollektiven Bewusstsein widerspiegeln müsste.
Die Bewusstwerdung dieses Verbrechens und der eigenen Beteiligung daran ist eine unbeschreiblich schwere psychologische Hürde. Eine fast unerträgliche. Sich davor retten kann man nur auf zwei Arten. Die erste ist all das anzuerkennen und ihm eine dem Geschehen entsprechende Bewertung zu geben, indem man die Verantwortung auf sich nimmt, es verurteilt und schließlich – es büßt. Aber auf diesem Weg entsteht ein psychologischer Widerstand: Die Angst vor dieser horrenden Scham und Schuld, die man unweigerlich erleben müssen wird, bevor man sich davon erlöst. Der zweite Weg ist die Verneinung, die Suche nach einer Rechtfertigung, nach einer Erklärung für all das, der Aufbau eines neuen Weltbildes, das für jeden bequem sein wird, die Erfindung eines Ziels, um dessen willen all das getan wurde. Dabei werden die Schuld und die Scham nicht verschwinden, wie es scheinen könnte, aber indem sie aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt werden, werden sie im Unbewussten weiterleben. Sie werden neue Argumente und neue Taten einfordern, die das künstliche Weltbild der verdrehten Werte bestätigen. Sie werden neue Opfer fordern.
Heute findet eine Rückkehr zum Stalinismus statt und wir erinnern uns an seine gruseligsten Seiten. Aber wir machen uns nicht immer Gedanken darüber, warum er sich als so zählebig entpuppt hat. Wir möchten uns irgendwie nicht daran erinnern, dass eine der schändlichsten Seiten der russischen Geschichte das Komplott zwischen der UdSSR und Deutschland von 1937 bis 1939 und die faktische Mitwirkung an der Entfachung des Zweiten Weltkrieges ist. Damals wurde Deutschland nicht von allen als das Imperium des Bösen wahrgenommen, und die sowjetische Propaganda hat dieses gar als ein uns freundschaftlich gesinntes Land dargestellt. Erst im Juni 9141 wurde klar, mit was für einem Monster wir es zu tun haben. Aber das Paradoxon bestand darin, dass das stalinistische Russland in keinster Weise besser als das hitlerische Deutschland war, wenn nicht noch schlimmer, denn dieses Regime hat Dutzende Millionen seiner Mitbürger vernichtet, was nicht mal Hitler getan hat. Und wenn die Verbrechen des Nationalismus Hitlers eine entsprechende Bewertung von der Weltgemeinschaft und von Deutschland selbst bekommen haben, so ist der Stalinismus diesem Los entgangen. Deutschland war fähig, diese Krankheit zu überwinden, indem es nach dem Zweiten Weltkrieg büßte – die UdSSR dagegen hat nicht nur keinen derartigen Versuch unternommen, sondern sich nur noch mehr auf totalitäre Positionen festgelegt . Die deutsche Aggression gegen die Sowjetunion im Juni 1941 hat faktisch zur Rehabilitierung des Bolschewismus beigetragen, als einer Ideologie eines Landes-Teilnehmers der Anti-Hitler-Koalition, das aktiv gegen Faschismus und Nazismus gekämpft hat. An der Tagesordnung stand damals als Hauptfrage, die „braune Pest“ des XX. Jahrhunderts zu besiegen. Der Schaden der kommunistischen Ideologie schien dagegen nicht allzu groß zu sein. „Über Sieger urteilt man nicht“ und „Der Krieg begleicht alle Rechnungen“ – unter solchen Slogans ist die Krankheit aus der akuten Phase in eine chronische übergegangen und hat sich in der gesellschaftlichen Psychologie festgesetzt (man möchte glauben, dass dies nicht irreversibel ist…).
Zur Reue hat auch weder die Niederlage im Kalten Krieg noch der darauffolgende Zerfall der UdSSR geführt. Für uns wurde dieser Zerfall zu etwas Ähnlichem, was für Deutsche die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg war. Und so, wie es in Deutschland zur Entstehung des Nazismus geführt hat, so haben wir in Russland nun ähnliche Resultate. Der Informationskrieg, der zur Realisation imperialistischer Ambitionen entfacht wurde, hat in erster Linie die Bürger Russlands überfallen. Sie sind Opfer eines neuen sozialen Experiments geworden.
Man kann hier folgende Schlussfolgerung ziehen:
Die bedeutendste Folge des Informationskrieges ist die fast irreversible Transformation des gesellschaftlichen Bewusstseins eines ganzen Landes.
Der Informationskrieg hat nicht bloß zu einer propagandistischen Gehirnwäsche geführt. Er hat das Rezidiv einer alten Krankheit hervorgerufen, die unsere Gesellschaft vor fast 100 Jahren befallen hatte (Genauer: hat diese wieder mal aus der chronischen in eine akute Phase überführt). Man kann sie verschieden nennen: Bolschewismus, Stalinismus, imperialistisches Syndrom, russischer Nazismus, orthodoxer Faschismus oder sonst wie.
Es sind nicht verschiedene Erscheinungen – das sind im Grunde Symptome einer Krankheit, auch wenn sie verschiedenen Ideologien entsprungen sind, faktisch – Antipoden: kriegerischer Atheismus und kriegerische Orthodoxie, Kommunismus und Faschismus. Obwohl die Extremen, wie bekannt, zusammenfinden.
Aber der jetzige Rezidiv ist einer von viel schwererer Form und unterscheidet sich von der Krankheitsphase des Stalinismus durch eine deutlich erkennbare Faschistisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins. Wie Lew Schlossberg es treffend formulierte: „Heute ist Russland ein Land, das ideal auf Faschismus vorbereitet ist“.
Von Buße zur Heilung
Die Heilung von dieser Krankheit kann nur durch Buße geschehen. Eine tiefe und restlose Buße. Und diese ist ohne die Anerkennung der kollektiven Verantwortung für die ganze Geschichte des letzten Jahrhunderts (und vielleicht sogar noch mehr) unmöglich. Das ist eine sehr schwere Aufgabe, denn man wird durch eine große Schande gehen und eine Last der schwersten Schuld auf sich nehmen müssen. Wenn man es nicht tut, ist der einzige Weg das Scham- und Schuldgefühl zu vermeiden, die Wahrheit zu verneinen und die objektive Realität mit verdrehten moralischen Werten mit Hilfe von Mechanismen der projizierten Identifikation umzufärben.
In der Geschichte der UdSSR gab es zwei Versuche der Buße: während des „Tauwetters“ unter Chruschtschower und in der Zeit der Perestroika Gorbatschows. Kaum hatte sie angefangen, wurden sie jedoch schon wieder zusammengerollt, und es folgte die Rückkehr zum Stalinismus. Das erste Mal hat man die ganze Verantwortung faktisch auf Stalin geschoben und auf seine engsten hochrangigen Henker des „Persönlichkeitskults“ (Jeschow, Beria). Das ist wie wenn im Nürnberger Prozess nur Hitler beschuldigt worden wäre. Darum wurde der XX. Parteitag der KPdSU nicht zum Nürnberger Tribunal des Stalinismus und konnte es auch gar nicht werden. Obwohl er eine kolossale historische Bedeutung hatte (Die Rehabilitierung und Befreiung von Hunderttausenden Unschuldigen aus den Lagern), war es eine unvollendete Heilung, die später zu Rezidiven führte.
Echte Reue kam auch nicht während der Perestroika-Zeit auf, obwohl die Hoffnung bestand, dass es so sein wird. Unvollständige Buße wird keine Befreiung bringen. Sie ist wie ein nicht komplett herausgeschnittenes Krebsgeschwür, das neue Metastasen bilden kann und den scheinbar geheilten Organismus mit einer neuen Krankheit befallen kann, manchmal sogar schwerer als der zuvor. Und wenn man das Unkraut nicht mit der Wurzel herausreißt, wird es wieder auskeimen und die Nutzpflanzen töten.
Die parallele Realität, die durch die Kremlpropaganda erschaffen wurde, ist ein wunderbarer psychologischer Schutz vor dem traumatisierten Bewusstsein des Aggressors, das ist eine Erlösung von der Notwendigkeit der Buße, von der Übernahme der Verantwortung, vom Schulderleben und jeglichen anderen Regungen des Gewissens. Die Schande der Bewusstwerdung der Ungeheuerlichkeit der zu rechtfertigenden Verbrechen kann man stolz mit „Opas haben gekämpft“ und „Aufstehen von den Knien“, mit Erhabenheit der „Russischen Welt“ und anderen Mythen ersetzen, die aus der parallelen Antiwelt andere Realitäten verdrängen, die wegen ihrer scheußlichen Wahrheit nicht zu ertragen sind.
Die deutsche Nation ist da durchgegangen, auch wenn es ihr ganz und gar nicht leicht gefallen ist. Dieser Prozess endete nicht mit Nürnberg und erstreckte sich auf mehrere Jahrzehnte. Die niederschmetternde Niederlage im Zweiten Weltkrieg, seine nationale Tragödie, hat Deutschland, wie paradox es auch ist, dabei geholfen. Braucht denn Russland nicht auch eine nicht weniger niederschmetternde Niederlage, um derartiges Fegefeuer durchzustehen?
Wenn man nach dem Geschehen der letzten Monate urteilt, wird genau so ein Szenario absolut wahrscheinlich.
* * *
Wie kann man dem katastrophalen Geschehen vorbeugen, um so mehr – der Gefahr einer thermonuklearen Weltkatastrophe? Wie kann man den Informations-Frankenstein aufhalten? Und ist es überhaupt möglich?
Man muss etwas im Bewusstsein der Menschen ändern, sie zwingen zu verstehen, dass die Medienpropagandisten die realen Schuldigen an den tragischen Ereignissen sind, die unter der Einwirkung der Propaganda stattfinden, und dass sie mit Kriegsverbrechern gleichgesetzt werden müssen. Man muss die ungesunde kollektive Psyche der Gesellschaft heilen, die parallelen Realitäten transformieren, die im Stande sind, Menschen massenhaft zu töten.
Diese Aufgaben sind nicht weniger wichtig, als die Probleme der Bewaffnung, die wirtschaftlichen Reformen, der Kampf mit der Korruption. Darüber müssen sich die Politiker und die Wissenschaftler (in erster Linie- soziale und politische Psychologen) den Kopf zerbrechen. Aber dafür braucht man wenigstens die Entstehung eines Bedarfs nach ihrer Lösung.
All die Gespräche darüber, dass es noch „nicht an der Zeit“ ist, dass es wichtigere Aufgaben gibt, sind belanglos, denn ohne die fachmännische Informationspolitik wird die Lösung der wichtigen Staatsaufgaben unmöglich und wird viel größere Ressourcen einfordern. All die Überlegungen darüber, dass wir keine Mittel dazu haben sind verbrecherisch gefährlich. Das Ausbleiben dieses Vorgehens wird uns tausend Mal mehr kosten.
Kürzlich wurde ein Informationsministerium geschaffen, in dem eine Abteilung für Informationssicherheit gebildet wurde (na endlich!). Es scheint, als ob die Sache in Schwung gekommen ist. Aber diese Behörde beschäftigt sich überhaupt nicht mit den Problemen der Medienraum-Psychologie, sie verstehen nicht, dass dies die Schlüsselprobleme sind, denn die Parallelrealitäten existieren in der Psyche der Menschen. Aber noch interessanter ist der Fakt, dass es ähnliche Strukturen auch früher schon gab: Das ist die Abteilung für Informationspolitik des Außenministeriums der Ukraine und den Rat für Fragen der Informationspolitik beim Präsidenten der Ukraine, wie auch die Abteilung für Informationssicherheit beim SBU, die schon 2011 schaffen wurde. Was haben sie denn bis jetzt gemacht?
Man muss verstehen, dass der Informationskrieg bereits seit 15 Monaten läuft. Und auf einen Krieg muss man mit adäquaten Mitteln antworten. Man muss ununterbrochen gegen die Desinformation kämpfen, indem man die parallele Realität der informativen Antiwelt zerstört. Aber die Gegenpropaganda darf nicht dieselben Waffen verwenden.
Der Lüge muss man die Wahrheit entgegenstellen. Man muss verstehen (und das ist sehr erfreulich), dass die Desinformation, die in einem Informationskrieg die Hauptwaffe ist, eine „schnellverderbliche“ Ware ist. Mit der Zeit, unter dem Druck der Wahrheit, oder sogar einfach nur unter dem Druck des gesunden Menschenverstandes, geschieht ihr natürlicher „Halbzerfall“. Man muss sie permanent mit einer neuen ersetzen, darum braucht man immer neuere Geschichten, Videos, „Zeugnisse“ der Pseudozeugen. Die Wahrheit dagegen, die man der Lüge entgegenstellen kann, hat faktisch eine unbegrenzte Haltbarkeit. Mehr noch, wenn es die Prüfung der Zeit besteht, wird es, wie ein guter Wein oder Cognac, noch besser und robuster.
Früher oder später wird die Wahrheit siegen und die parallele Realität zerstören. Und je grandioser die Konstruktion war, um so niederschmetternder wird die Katastrophe. Und auf den Trümmern der alten „informativen Antiwelt“ wird eine neue lebendige Realität aufkeimen, so wie einst auf den Trümmern des infolge von Lüge und Unzucht untergegangenen Römischen Imperiums eine neue Europäische Zivilisation entstand.
Autor: Pawel Gornostai, Dr. der Psychologiewissenschaften; Website des Autors; übersetzt von Irina Schlegel.
2 Responses to “Information-Frankenstein oder reale Folgen des Informationskrieges”
28/04/2015
P. Pomerantsev- Im Spiegelkabinett des Kremls. - InformNapalm.org (Deutsch)[…] “Information-Frankenstein oder reale Folgen des Informationskrieges” […]
09/05/2016
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