Am 16. April 2017 findet in der Türkei ein Verfassungsreferendum statt, das bei vielen europäischen Politikern Sorgen hervorruft. Sie sehen darin einen Versuch Erdogans den Präsidentenzweig der Macht zu stärken und den Einfluss des türkischen Parlaments zu schwächen. Am Ende wird sich die Türkei in eine Präsidentenrepublik des Präsidenten Erdogan verwandeln, der in den letzten Jahren sein politisches Feld gegen die Konkurrenten sehr aktiv verteidigte.
Lange Jahre galt die Türkei als eins der stabilsten Länder in der Region. Die Türkei ist ein NATO-Mitglied seit 1952. Die Verhandlungen über ihren Beitritt zur EU laufen dabei seit Jahren. Die Türken haben ihren ersten Antrag auf den EU-Beitritt (damals noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)) noch 1987 gestellt, aber er wurde auf dem Gipfel 1989 abgelehnt. Das nächste Mal kam die Frage über die EU-Mitgliedschaft erst 1997 auf dem Gipfel in Luxemburg auf – man einigte sich darauf, die Frage bei dem nächsten Treffen zu besprechen. Im Jahr darauf begannen die Verhandlungen über den EU-Beitritt von Osteuropa-Ländern, also erinnerte man sich an die Türkei erst ein Jahr später – am 11. Dezember 1999 wurde das Land zu einem offiziellen Kandidaten für den Beitritt zur EU. Danach begannen lange Verhandlungen über die Demokratisierung der Türkei und Harmonisierung ihrer Gesetzgebung. Seitdem hat sich die Türkei der EU-Mitgliedschaft mal genähert, mal sich wieder davon entfernt. In Europa selbst war der innere Widerstand gegenüber der Aufnahme einer bedingten „asiatischen“ Türkei in die EU auch zu stark.
Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus war die Türkei aber viel näher an Europa als die Ukraine es war. Noch 1963 wurde das Land zu einem assoziierten EWG-Mitglied. Seit 1996 ist die Türkei ein Mitglied der Zollunion der EU.
Dank einer starken Armee, dem prowestlichen Generalität und der Mitgliedschaft in der NATO war die Türkei zwar ein etwas problematischer, aber doch mehr oder weniger stabiler Partner in der Region. Schlimmstenfalls hat es immer das Militär regeln können, das einen weiteren Putsch veranstaltete, der einem weiteren selbsternannten Sultan seinen Platz zuwies. Mit der Zeit hat dieses System aber aufgehört zu funktionieren.
Ein Teil der Türkei ist längst zu einem EU-Mitglied geworden, zumindest ihren Dokumenten nach, genauer gesagt – ihren Pässen nach. Türkische Behörden haben eine weitere Wählerfront für sich entdeckt – die europäische. Türkische Politiker begannen, ihre europäische Diasporas zu besuchen und für ihr Referendum zu werben. Einige Zeit lang überlegten sich die Europäer, was man denn nun damit tun soll, entschieden sich aber am Ende dafür, derartige Präsentationen zu verbieten. Und hier zeigte sich die türkische Diaspora für viele europäische Politiker auf eine ganz neue Art.
Es hat sich herausgestellt, dass ihr Großteil, trotz all der Jahre, die sie in den demokratischen europäischen Ländern verbrachte, im entscheidenden Moment Erdogan und seine weitere Machtverstärkung unterstützt. Ein Teil der türkischen Diaspora besitzt außer lokalen europäischen Pässen noch immer die türkischen Pässe, und stellt sich trotz seiner europäischen Staatsangehörigkeit stets auf die türkische Seite.
In Deutschland lebt eine große türkische Diaspora – circa 2,85 Millionen ethnische Türken, von denen circa 1,5 Millionen türkische Staatsangehörigkeit besitzen: [1], [2]. Gerade vor ihnen wollten auch türkische Politiker auftreten, die das Verfassungsreferendum unterstützen – regionale Behörden haben aber ihre Auftritte einen nach dem anderen abgesagt.
Natürlich ist die türkische Gemeinde in Deutschland nicht homogen. Die ersten Einwanderer aus der Türkei kamen bereits in den 1960ern nach Deutschland, ungefähr ein Drittel von ihnen waren ethnische Kurden, die in ihrer Mehrheit gegen die heutige agierende türkische Macht, gegen das Referendum und für die Bildung von Kurdistan auftreten.
Im Grunde hat Deutschland zusammen mit den türkischen Gastarbeitern, die circa 3,5% der Bevölkerung ausmachen, auch die inneren türkischen politischen Probleme importiert. Im Falle von Bildung eines unabhängigen Kurdistan wird Deutschland auch entscheiden müssen, welchen Teil der Immigranten es unterstützen möchte.
In den benachbarten Niederlanden geht es um 400 000 ethnische Türken – das sind circa 2,4% der Bevölkerung. Hier wurde die türkische Frage bei den vergangenen Parlamentswahlen unerwartet entscheidend – die Vertreter der regierenden Partei hatten aber rechtzeitig die Initiative ergriffen, die Auftritte der türkischen Politiker verboten und die Kundgebungen auseinandergetrieben. Am Ende hat die regierende Partei gewonnen. Vom politischen Standpunkt aus war es zwar erfolgreich, hat aber das Problem der Menschen, die in westlicher Kultur leben, nicht aber zu ihrem Teil geworden sind, nicht wirklich gelöst.
Eine andere Folge der holländischen Wahlen war die Tatsache, dass eine Migrantenpartei, die DENK (Interessantes Wortspiel übrigens: holl. „Denken“ und türk. „Gleichheit), es ins Parlament schaffte. Die Partei hat 2,1% Unterstützung bei den Wählern gefunden und drei Parlamentsmandate erhalten. Ihre Anführer sind die in der Türkei geborenen niederländischen Politiker Tunahan Kuzu und Selçuk Öztürk, die Ende 2014 die „Partei der Arbeit“ (Sozial-Demokraten) verlassen und eine eigene Bewegung gegründet hatten.
DENK führt eine seltsame Politik und beschränkt ihre Rhetorik auf den Kampf gegen den Rassismus und Xenophobie. Zugleich wollte neulich der Parteianführer T. Kuzu dem israelischen Premierminister Netanjahu bezeichnenderweise nicht die Hand drücken.
Derselben Partei gehört auch die Idee, ein Register der Rassisten zu erstellen. Wird Netanjahu dort automatisch eingetragen sein?
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Migranten und ihre Kinder lokale Pässe bekommen und in die Politik gehen.
In Deutschland ist das auch nur eine Frage der Zeit, wenn selbst die dritte Generation der einheimischen Türken noch immer nicht ganz in ihre neue Heimat integriert ist. Bei den klassischen deutschen Parteien, eine von welchen die Partei der christlichen (!) Sozialdemokraten ist, können die Einwanderer aus der Türkei nur sehr selten politische Karriere auf höchster Ebene machen. Von den 630 Abgeordneten im Bundestag sind nur 11 türkischer Abstammung – das macht 1,75% aller Abgeordneten aus, und sie vertreten aber 3,5% türkische Wähler. An den deutschen Hochschulen stammen nur 100 Professoren aus der Türkei – 2,17% von den insgesamt 4600 deutschen Professoren. Dazu kommt noch, dass über ein Drittel der türkischen Gemeinde Deutschlands in Armut lebt, 65% keine abgeschlossene Berufsausbildung und nur 5% Hochschulbildung besitzen. 39% machen dabei nur einen mittleren Schulabschluss (unter den Deutschen beläuft sich diese Zahl auf 17%) ([1]).
Der meist bekannte türkische Politiker ist der Anführer der Grünen-Partei Cem Özdemir, aber selbst bei der türkischen Gemeinde ist er nicht der beliebteste. Am Ende hat keine Migrantenpartei die 5% Hürde überwinden können, um im deutschen Bundestag vertreten zu sein.
Man darf die Frage der Loyalität dabei nicht unterschätzen. Wenn die Migranten jahrelang keinen Ausdruck für ihre Interessen in Form einer lokalen politischen Partei finden und eine eigene gründen, ist die Frage der separatistischen Forderungen und irgendwelcher Ultimatums nur eine Frage der Zeit. Das türkische Referendum hat gezeigt, dass ein Teil der türkischen Diaspora sich im entscheidenden Moment auf die Seite von Erdogan gestellt hatte. Und wenn morgen Krieg ist, auf wessen Seite werden sie sein?
Kürzlich entfachte in Österreich ein Skandal, als das Verteidigungsministerium den Verdacht schöpfte, dass Hunderte ehemaliger Soldaten außer dem österreichischen Pass auch den türkischen besitzen. Immer mehr ethnische Türken stellten einen Antrag auf Bestätigung der Ableistung des Wehrdienstes in Österreich – eine Bescheinigung mit einem speziellen runden Stempel, die normale Bescheinigung aus der Armee war ihnen angeblich nicht genug. Laut Meldungen der Medien, handelte es sich hier höchstwahrscheinlich um Bescheinigungen für türkische Beamte ([1], [2]).
Insgesamt leben im Österreich circa 360 000 ethnische Türken (4,1% der Bevölkerung), 116 000 von ihnen haben offiziell den türkischen Pass ([1]). Kürzlich ist aber bekannt geworden, dass zumindest 10 000 weitere Türken nach dem Erhalt des österreichischen Passes ihre türkischen Papiere wiederbeschafft hatten ([1]). Nicht auszuschließen ist, dass es die offizielle Politik der Türkei sein könnte: eine starke ausländische Diaspora mit türkischen Pässen in Europa auszubauen.
Nun stehen europäische Länder vor einem Problem, bei dem die einstigen Gastarbeiter sich in europäische Wähler verwandelt haben, viele von ihnen aber noch immer auch türkische Wähler sind.
Die heutigen Probleme in Europa sind für uns nicht neu: die Frage der Loyalität der eigenen Staatsbürger ist für die Ukraine seit drei Jahren äußerst aktuell. Viele haben sich auch 26 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht damit abfinden können und fühlen sich noch immer als sowjetische Staatsbürger. Die Ukraine haben sie als einen unabhängigen Staat nur so lange geduldet, bis sie keinen Unterschied zwischen ihr und der damaligen Ukrainischen Sowjetrepublik (USSR) sahen. Ob die europäischen Türken zu echten Bürgern ihrer neuen Heimatländer werden, ist auch eine offene Frage. Wie unsere Erfahrung zeigt, haben sich viele „sowjetische“ Bürger mit der Existenz der Ukraine als solcher nicht abgefunden und als es zur Sache ging, stand die Frage vor uns in aller Schärfe: entweder sie „assimilieren“ uns zurück in die UdSSR oder aber wir schaffen es, ein neues Land aufzubauen und endgültig aus der USSR/UdSSR auszubrechen.
Dieses Material wurde von Anton Pawluschko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
(Creative Commons — Attribution 4.0 International — CC BY 4.0 )
Wir rufen unsere Leser dazu auf, unsere Publikationen aktiver in den sozialen Netzwerken zu verbreiten. Das Verbreiten der Untersuchungen in der Öffentlichkeit kann den Verlauf von Informationskampagnen und Kampfhandlungen tatsächlich brechen.
No Responses to “Was vereint die Einwohner von USSR und die Wähler von Erdogan in Europa?”