Während des Krieges der Opposition gegen das verbrecherische Regime Assads sind eine ganze Reihe Bürgerinitiativen entstanden. Die Aktivisten leisten schwere und verantwortungsvolle Arbeit. Dieses System der sozialen Verwaltung entwickelt sich, wird stärker und wächst. Besonders aufgefallen ist unter den Bürgerkomitees zu Beginn des Krieges die Initiative „Weißhelme“. Diese Katastrophenschutzhelfer sind für die schwierigsten und gefährlichsten Arbeiten zuständig. Sie sind die Ersten, die am Ort des Geschehens eintreffen, sie befreien Menschen aus Trümmern, leisten Erste Hilfe und bringen Opfer in Krankenhäuser. Außerdem übernehmen sie Präventivaufgaben: Sie helfen Menschen dabei, die Luftangriffe von Russland und Assad zu überleben und erfüllen weitere, spezielle Funktionen, die für ein geregeltes Zusammenleben wichtig sind. Eine Gesellschaft, in der Initiativen mit einem derart hohen Grad an Organisation wirken, hat große Perspektiven.
Die Syrer haben ihren Krieg gegen die Tyrannei früher begonnen als die Ukrainer. Baschar Assad hat gegen sie mit Unterstützung des Kreml wesentlich brutalere Methoden eines komplexen hybriden Krieges eingesetzt. Es ist für die Ukraine wichtig, sich mit ihren Erfahrungen beim Widerstand und den Bürgerinitiativen auseinanderzusetzen.
Wir möchten unseren Lesern einen der Aktivisten der syrischen Revolution vorstellen, dessen Lebensaufgabe darin besteht, Menschenleben zu retten. In einem Interview spricht er über russische Bombardierungen, über den Tod von Zivilisten und darüber wie man seine eigene Würde behalten und weiterleben kann.
Guten Tag. Erzählen Sie bitte über sich selbst – Wie alt sind Sie, was sind Sie von Beruf, womit haben Sie sich vor dem Krieg beschäftigt, wo leben Sie und wann haben sie begonnen als Katastrophenschutzhelfer zu arbeiten?
Mein Name ist Abdallah Al Hafi, ich bin 32 Jahre alt. Ich habe einen Abschluss in Wirtschaftslehre an einer der Universitäten in Damaskus. Gearbeitet habe ich bei einem Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie als kaufmännischer Leiter in der kleinen Stadt Mleiha. Alles begann 2012, wir waren damals Katastrophenschutzhelfer bei den Sanitätsstellen. So wurde die Idee eines zivilen Katastrophenschutzes (wörtlich „Zivilverteidigung“, Anm. d. Übers.) geboren.
Wer sind die „Weißhelme“? Wie ist diese Vereinigung in eurem Bezirk organisiert? Wie viele Leute sind bei euch beschäftigt und wie sieht die Struktur aus?
Wir begannen Rettungsbrigaden bei zivilen improvisierten Krankenhäusern zu gründen. Danach haben wir einfachere Sanitätsstellen eingerichtet und Teams gebildet, die Opfer aus Trümmern befreien sollen. Außerdem organisierten wir Feuerwehreinheiten in verschiedenen Bezirken. Anschließend wurde das alles in einem System „Ost-Ghuta und Zentraler Kreis“ vereinigt. Somit entstand ein einheitlich verwaltetes System der „Weißhelme“ auf Territorien, die vom Regime befreit waren.
Unsere Strukturen bestehen aus: Medizinern; Katastrophenschutzhelfern, die Menschen aus von Angriffen betroffenen Gebieten evakuieren und Leute aus eingestürzten Gebäuden befreien; Gruppen von Koordinatoren; Feuerwehrleute; Sicherheitsmannschaften (für den Schutz von privatem und öffentlichem Eigentum vor Plünderungen); Straßenräumbrigaden (um Fahrzeugen von Rettungsdiensten die Zufahrt zu ermöglichen).
In unserem Bezirk gibt es jetzt spezialisierte Teams von Feuerwehrleuten, Sanitätern und Katastrophenschutzhelfern. Diese sind in Untergruppen aufteilt.
In unserem Zentrum gibt es 30 Leute, aufgeteilt in drei Brigaden à zehn Leute, die jeweils 24 Stunden lang Bereitschaftsdienst leisten. Das Zentrum untersteht einem Leiter und es gibt drei Abteilungsleiter (Sanitätsdienst, Feuerwehr und Katastrophenschutz).
Wer kann Mitglied bei den „Weißhelmen“ werden? Gibt es eine Ausbildung und wie ist diese gestaltet?
Interessenten bewerben sich bei der Personalabteilung, es gibt ein Interview und eine Bewertung der körperlichen Fitness. Die besten Bewerber kommen dann in ein Ausbildungszentrum. Dort absolvieren die Kandidaten einen Lehrgang. Tatsächlich nehmen wir die in unser Team auf, die beim Lehrgang am besten abschneiden und gute Referenzen aus ihrem Herkunftsbezirk vorweisen können.
Welche Werkzeuge verwendet Ihr bei den Einsätzen, über welche Fahrzeuge verfügt Ihr, gibt es eine Uniform und Spezialmaschinen?
Früher hatten wir primitives Werkzeug, aber inzwischen haben wir Krankenwagen, Geräte für die Brandbekämpfung und Bagger. Manche Fahrzeuge erweitern wir selbst um Werkzeug und Funktionen, die uns bei den Einsätzen helfen. Wir haben eine spezielle Uniform, was uns ermöglicht koordiniert vorzugehen.
Wie geht ihr bei einem Einsatz vor?
Erfahrung hat uns zu einer effektiven Organisation verholfen. Wir haben bereits große Erfahrung darin, vor Ort strukturiert vorzugehen. Dichte Bombardierungen behindern uns aber schon, weil großes Chaos herrscht.
Wie läuft ein gewöhnlicher Arbeitstag ab, wenn es keine größeren Vorkommnisse gibt?
In gewöhnlichen Situationen prüfen die Reparaturteams unsere Fahrzeuge und andere Geräte. Wenn es ruhig ist, halten wir Vorlesungen und Kurse für unsere Mitarbeiter ab.
Auf dem Foto ist Adallah Al Hafi mit einem Plakat zu sehen, das zur Rettung der Stadt Madaya aufruft. Die Katastrophenschutzhelfer aus Ost-Ghuta haben eine Kundgebung veranstaltet und Spendengelder für die Hungernden gesammelt.
Woran erinnert man sich am stärksten?
Bei unseren Einsätzen passieren immer ungewöhnliche Dinge. In einem Fall haben wir nach mehreren Stunden Arbeit eine ganze Familie unter den Trümmern entdeckt – Mutter und Kinder, alle am Leben und unverletzt. Es kam auch vor, dass die Russen sehr gezielt angriffen ohne, dass es Opfer gab. Gott rettete uns.
Haben Sie schon Mal Menschen gerettet, die Opfer russischer Luftangriffe geworden sind? Wann und wo war das? Erzählen Sie bitte ausführlich davon – Wer wurde verletzt, welche Gebäude wurden beschädigt und worin bestand Ihre Aufgabe?
Anfang November haben die Russen damit begonnen, Ghuta aktiv zu bombardieren. In Duma, Hammuria und Kafr Batna sind Hunderte von Menschen durch russische Luftschläge getötet worden. Durch russische Streumunition sind ganze Wohnviertel zerstört worden.
Ich kann die großen Verluste in Kafr Batna und Dschisrin nicht vergessen. Und die vielen Toten in Hammuria. Und die Angriffe auf Duma.
In meinen Ohren klingen bis jetzt die Geräusche des Todes, ich erinnere mich an den Geruch von Blut und von zerrissenen menschlichen Körpern.
Wie dokumentiert ihr solche Fälle? Habt ihr Foto oder Videomaterial, Opferlisten und Schadensberichte? Welche Information über russische Verbrechen könnt ihr uns für Publikationen zur Verfügung stellen?
Wir haben extra ein Büro, das sich mit dem Erstellen von Dokumentation beschäftigt. Mitarbeiter des Katastrophenschutzes fotografieren und halten alles fest. Ich werde ihnen das als separate Datei zuschicken. Diese befindet sich auf der Homepage des zivilen Katastrophenschutzes.
Erzählen sie über die kriegsbedingte humanitäre Krise vor Ort. Worunter leiden die Menschen am meisten? Wie helfen Sie ihnen?
Unmittelbarer Tod und Sterben auf Raten – darunter leiden die Menschen.
Die Toten finden Ruhe und die Überlebenden suchen neue Unterkünfte, ein neues Leben – Das alles geschieht in Erwartung einer weiteren Rakete. Wir, der zivile Katastrophenschutz, helfen diesen Menschen und leiten sie in Gebiete um, die ungefährlich sind.
Hilfsorganisationen und lokale Verwaltungsbehörden suchen Unterkünfte für die Überlebenden.
Wir wissen, dass zurzeit in Syrien große Gebiete vermint sind und nicht detonierte Kampfmittel herumliegen. Wie ist Situation diesbezüglich in eurem Bezirk? Gehört Entschärfung auch zu euren Aufgaben?
In unserer Region gibt es keine Minen. Aber nach der russischen Invasion ist Streumunition fast alltäglich geworden.
Wir, der zivile Katastrophenschutz, verfügen nicht über einen professionellen Sprengstoffräumdienst. Wir versuchen die Streubomben mit größeren Baggern zu heben und abseits zu vergraben.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit offiziellen Behörden aus? Wobei kooperiert ihr und worin liegen die Unterschiede?
Der medizinische Dienst in Ghuta hat seine eigenen Rettungskräfte. Aber ihre Aufgabe besteht ausschließlich im Transport Verwundeter.
Unsere Aufgabe hingegen umfasst auch die Suche nach Verwundeten und Erste Hilfe direkt am Ort des Angriffs. Außerdem erledigen wir die Koordinierung aller Arbeiten vor Ort: Es geht um konkrete Hilfeleistung und das Bereitstellen notwendiger Ressourcen wie Wasser, Elektrizität, Zufahrtwege usw.
Natürlich arbeiten wir mit medizinischen Kräften zusammen.
Erzählen Sie bitte über ihr Team. Wer gehört dazu, wie sieht die Aufgabenteilung aus, wie koordiniert Ihr eure Tätigkeiten? Gibt es freundschaftliche Beziehungen und redet Ihr über professionelle Fragen hinaus auch über Privates?
Unser Team besteht aus jungen Aktivisten der Revolution. Die meisten kennen sich aus den Anfangstagen der Revolution und über Freiwilligeninitiativen.
Viele arbeiten zusätzlich in anderen Bereichen. Ich, beispielsweise, arbeite auch in der psychologischen Kinderbetreuung.
Aber der Katastrophenschutz ist für mich wie einen große Familie, in der man Freud‘ und Leid teilt.
Es ist sehr schwierig mit den vielen Opfern und der Zerstörung umzugehen. Wie schaffen Sie das? Wie gehen Sie mit Angst um? Wer unterstützt Euch psychologisch – Familie, Freunde, professionelle Psychologen?
Hoffnung ist unser Psychologe. Hoffnung und Liebe ist der psychologische Mechanismus. Wenn ich einen Menschen aus den Trümmern befreie, fühle ich mich, als könnte ich 1000 Jahre leben.
Parallel versuchen wir unsere Mitarbeiter besonders bzgl. der Betreuung von Kindern zu schulen. Entsprechende Kurse gibt es für alle Mitarbeiter des zivilen Katastrophenschutzes. Das ist auch überaus wichtig.
Erzählen Sie bitte über Präventivmaßnahmen, die Sie durchführen. Wie oft geschieht das, was sind die Zielgruppen und wo sehen Sie Erfolge?
Das Team des Ausbildungszentrums führt an Schulen Kurse für Katastrophenschutz für Lehrerinnen und Frauen durch. Da wir aber mit der eigentlichen Arbeit stark ausgelastet sind, können wir diese Präventivtätigkeiten nicht ausweiten.
Mussten Sie schon Mal Kinder retten? Erzählen Sie bitte davon.
Kinder leiden am meisten unter den Angriffen der Russen und Assads. Ihr Tod ist unser schlimmster Schmerz und wenn sie überleben, ist das unsere größte Hoffnung. Wenn man ein Kind aus den Trümmern zieht, fühlt man, das Leben geht weiter – trotz Assad und Putin.
Die Arbeit eines Katastrophenschutzhelfers ist definitiv mit Risiken verbunden. Gab es Fälle, wenn Helfer bei Rettungseinsätzen starben?
Die Russen haben eine barbarische Angewohnheit: Sie greifen denselben Ort jeweils zwei Mal an. Das zweite Mal nachdem bereits Leute vor Ort eingetroffen sind. Bei russischen Luftangriffen und solchen von Assad haben wir im Jahr 2015 in Ost-Ghuta 30 Mitarbeiter des zivilen Katastrophenschutzes verloren, wobei 80 verwundet worden sind.
Worin, glauben Sie, besteht das wichtigste Ergebnis Ihrer Arbeit? Worauf sind persönlich bzw. als Team stolz?
Leben retten und die menschlichen Würde aufrecht erhalten. Ist das nicht, wozu der Allmächtige die Menschen aufruft?
Ich bin stolz darauf Syrer zu sein und den Geist unseres Volkes zu unterstützen: Freiheit, Würde und Menschlichkeit. Das ist die Revolution. Das ist der zivile Katastrophenschutz. Das sind die „Weißhelme“.
Dieses Material wurde von Kateryna Jaresko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Viktor Duke. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
One Response to “Bürgerinitiativen in Syrien: Katastrophenschutzhelfer Adallah Al Hafi”
11/02/2016
InformNapalm an Russlands Aussenministerium: Es gibt genug Gründe für ein Militärtribunal - InformNapalm.org (Deutsch)[…] Der Retter aus der Organisation “Weisse Helme” Adallah al-Hafi behauptet: “Seit Anfang November bombardieren die Russen aktiv Gutu. In Duma, Hammuria, Kafr Batna sind Hunderte Menschen infolge der russischen Luftangriffe gestorben. Und die russischen Kassettenbomben verwandelten einstige Wohnviertel in gänzlich zerstörte Gegenden. Ich kann die Massenmorde in Kafr Batna und Dschisr nicht vergessen. Und den Massenmord in Hammuria. Und die Luftangriffe auf Duma. In meinen Ohren sind noch immer diese Klänge, die Klänge des Todes, ich erinnere mich an den Geruch des Blutes und zerfetzter menschlicher Körper… Die Russen haben eine barbarische Angewohnheit: sie greifen die gleiche Stelle immer zweimal an. Sie warten, bis sich die Menschen am Geschehensort nach dem ersten Angriff versammeln, und schlagen dann wieder zu.“: “Bürgerinitiativen in Syrien: Katastrophenschutzhelfer Adallah Al Hafi” […]