Als Epigraph zu diesem Artikel kann das Zitat aus einem Artikel von Walentin Baryschnikow dienen:
Wir bedienen uns der Psychoanalyse, also der Wissenschaft über unbewusste psychische Prozesse und frühkindliche psychische Traumas, um die Frage „Warum wählen einige Menschen, eine Gruppe von Menschen oder auch ein Sozium im Ganzen die Zerstörung, die bösartige Aggression, den kriegerischen Triumph als ein Mittel und Ziel der eigenen Existenz?“ zu beantworten.
Identität. Erstens wurde bei den ziemlich optimistischen Versuchen, mithilfe der Psychoanalyse zu erklären, warum sich junge Menschen einer terroristischen Gruppe anschließen, der Begriff „Identitätskrise“ benutzt – wenn der Mensch auf der Suche nach Selbstdefinition an einer inneren Fragmentierung sowie Widersprüchen leidet und keine Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ findet.
1981 finanzierte das westdeutsche Bundesministerium für Inneres eine Untersuchung von 220 deutschen Terroristen. Einer der Forscher, Bolinger, erhielt Untersuchungsmaterial bezüglich einer kleinen Gruppe verhafteter Linksterroristen. Er beschreibt sie als Menschen, die ihr Erwachsenendasein mit einer inadäquat geformten Identität begonnen haben. Diese Menschen verspürten gegenüber dem Sozium gewisse Entfremdung, fühlten sich an seinem Rande – und der Anschluss an eine terroristische Gruppe erlaubte ihnen die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ zu finden, sich die laufenden Schwierigkeiten zu erklären und an eine glückliche Zukunft zu glauben.
Narzissmus. Einer der meist zitierten modernen Forscher der Terrorismus-Psychologie, Richard Pearlstein, findet, dass die persönliche Logik des politischen Terrorismus am ausführlichsten mit Hilfe des psychoanalytischen Konzepts des Narzissmus zu erklären ist. Er hat 9 thematische Untersuchungen zu Terroristen durchgeführt und festgestellt, dass in 90% der Fälle die narzisstische Enttäuschung in der Psychobiografie der Terroristen eine kritische Rolle gespielt hat.
Vielen Terroristen ist das sogenannte narzisstische Defizit eigen – ein tief und intensiv erlebter Mangel, eine regelrechte Leere im Inneren statt des Gefühls der Ganzheitlichkeit und Selbstrespekts. Zu einem Schutzmittel vor diesem inneren Empfinden der eigenen Nichtigkeit wird die permanente Notwendigkeit, die eigene Größe, Allmächtigkeit und Triumph zu spüren.
Zorn. Wenn die von Narzissmus befallenen Menschen eine Niederlage erleben, empfinden sie meistens eine gewaltige destruktive Reaktion, die die Psychoanalytiker als narzisstischen Zorn bezeichnen. In der psychologischen Welt eines solchen Menschen gibt es nur „alles oder nichts“ – jede Niederlage ist eine Schmerzquelle. Die Gründe für die Misserfolge, fehlende Anerkennung und Annahme werden nach außen projiziert und materialisieren sich im Bild eines „ekelhaften, nichtigen, niederträchtigen Feindes“ – der Gesellschaft, die zu einem Objekt dieses Zorns wird. Von dem intensiven inneren Unbehagen kann man sich dabei nur befreien, wenn man dieses Außenobjekt vernichtet, also die Gesellschaft.
Neid. Das Defizit an positiven inneren Erfahrungen, das durch frühkindliche psychologische Traumata entstanden ist, wird unvermeidlich von einem starken Gefühl des Neids begleitet: Der Terrorrist glaubt, dass die Außenwelt über alle möglichen guten und gewünschten Eigenschaften verfügt, er selbst aber um die Quellen der Vorteile und Befriedigungsmöglichkeiten gebracht wurde. Melanie Klein beschreibt den Wunsch nach Vernichtung, der den Terroristen eigen ist, als eine „Beschädigung der guten Objekte aus Neid“. Auf der globalen Ebene kann sich dieser Neid im Bestreben ausdrücken, die Welt in eine „radioaktive Asche“ zu verwandeln.
Führer. Der moderne Psychoanalytiker S. Akhtar beschreibt die terroristischen Anführer als Menschen, die niemandem vertrauen, die Passivität hassen und eine erneute Verletzung ihrer psychophysischen Grenzen fürchten (die es in ihrer Kindheit oft gab). Um diese Angst zu verjagen, verspüren diese Menschen die Notwendigkeit, ihre empfundene eigene Opferidentität zu „töten“.
Im schlimmsten Fall stellt die Persönlichkeit eines terroristischen Anführers eine pathologische Verbindung aus narzisstischen und paranoiden Eigenschaften vor dem Hintergrund von bösartigem Narzissmus dar (nach Otto Kernberg). Das ist ein besonders schwerer Typ der Persönlichkeitsstörung, dem jegliche Gewissensbisse und Schuldgefühle fremd sind, der danach strebt, bei den Anderen zugleich Angst und Bewunderung hervorzurufen, der absolute Loyalität einfordert und jeglichen Widerspruch als einen ernsthaften Angriff auf sich selbst deutet.
Gruppe. Zur Beschreibung der Dynamik einer terroristischen Gruppe benutzt Kernberg den Begriff „Basiseinstellung des Kampfs und der Flucht“ (nach Wilfred Bion). Die Gruppe mit dieser Basisposition wählt sich einen Anführer mit einem starken paranoiden Potential – einen hypersensiblen, misstrauischen, aggressiven und dominanten Typ. Sie sucht nach einem äußeren Feind und vereint sich gegen ihn um einen Anführer herum, und der Anführer hilft den Gruppenmitgliedern, einerseits die Aggression im Außen zu provozieren und andererseits transformiert er die innere Gruppenaggression in Loyalität gegenüber der Gruppe und in eine gemeinsame Identität.
In der verdrehten Welt eines Terroristen geht es ganz und gar nicht darum, eigene Ideen und neue Lösungen in eine bestehende Gesellschaft hineinzubringen – es geht allein um Zerstörung und Vernichtung dessen, was dem Terroristen das Gefühl vermittelt, benachteiligt worden zu sein. Die innere Finsternis nach außen zu bringen und sie dort zu materialisieren ist sein alleiniges Ziel…
Literatur
P.S. Wir hatten noch im Januar 2015 den Artikel „Psychologie eines Mörders“ veröffentlicht, der sich ebenfalls mit der Psyche eines Verbrechers auseinandersetzt.
Dieses Material wurde von Christina Turezka exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
(Creative Commons — Attribution 4.0 International — CC BY 4.0 )
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