Der Kampf um den Zugang zu Ressourcen und Infrastruktur
Die russische Besetzung der Krim und die anschließende Auseinandersetzung zwischen Moskau und Kyjiw bestätigten erneut die enorme Bedeutung von Kommunikationslinien und Objekten der Infrastruktur, die die Halbinsel mit dem Kontinent und das Asowsche Meer mit dem Schwarzen Meer verbinden. Ab und an zügelt die gegenseitige Abhängigkeit der Seiten den Konflikt, aber manchmal treibt sie ihn umso stärker an.
Die Ukraine entgegnete auf die Besetzung mit einer Isolierung (lassen wir Anmerkungen über die Initiative und die Effizienz des Staates in dieser Frage fürs Erste außen vor). Es stellte sich heraus, dass die Krim in sowohl in Fragen der Energie- und Güterversorgung als auch in vielen anderen Bereichen äußerste Abhängigkeit zeigt. Die Besatzer mussten den Mangel an allem sehr unzeitig für sich decken, was riesige Unkosten mit sich trug.
Russland wurde mit einer unumgänglichen Aufgabe konfrontiert – eine konstante Verbindung mit dem annektierten Territorium zu schaffen; dies wurde zu einem zusätzlichen Risikofaktor für die Ukraine zusammen mit der Verschärfung der aktiven Phase des Donbas-Krieges. In den Jahren 2014-2015 waren beunruhigende Prognosen einer massiven Militäroperation der russisch-terroristischen Milizen zur Schaffung eines „Landkorridors“ zwischen den besetzten Territorien im Osten und der Krim an der Tagesordnung. Moskau verfügte über bedeutende Kräfte für diesen Zweck: das 1. Armeekorps der „DVR“ in der Nähe von Mariupol, die Gruppierung der russischen Streitkräfte in Krim, die Schwarzmeerflotte und die Küstenwache der Zolldienstes des FSB im Asowschen Meer.
Eine Entwicklungsmöglichkeit der Analytiker von Stratfor, 2015
Die Aussicht der Fertigstellung der „Krim-Brücke“ über die Straße von Kertsch schien zunächst, die Lage zu entspannen und die Wahrscheinlichkeit der Verschärfung von Kampfhandlungen im Norden der Asowschen Küste zu reduzieren. Jedoch brachte die Eröffnung der Brücke am 15. Mai dieses Jahres neue Probleme mit sich.
Zum Ersten können jetzt keine Schiffe, die höher als 33 Meter sind, unter der Brücke passieren, die Höhe der Brückenbögen erlaubt dies nicht. Dies führte sofort zu Einbußen im Schiffsfrachtverkehr der ukrainischen Asow-Häfen (vor allem in den Häfen von Berdjansk und Mariupol). Die Maximalhöhe mancher dieser Schiffe überschritt 40 Meter über dem Wasser. Russische Häfen im Asowschen Meer konnten solchen Schiffen keine Anlegestelle bieten, dementsprechend wurden sie von den Einschränkungen nicht beeinflusst.
Brückenbögen der Krim-Brücke für den Durchgang von Schiffen
Zweitens haben die Russen unter dem Vorwand der Bewachung der Brücke vor „ukrainischen Diversanten“ die Durchfahrtsregelung der Straße von Kertsch für die kommerzielle Schifffahrt in Richtung ukrainischer Häfen enorm verschärft. Vorerst traut sich Moskau noch nicht, den Schifffahrtskanal für die Ukraine komplett dicht zu machen. Unabhängig von der Haltung des Kreml zum russisch-ukrainischen Abkommen zur gemeinsamen Nutzung des Asowschen Meeres und der Straße von Kertsch (2003) bleibt noch das internationale Seerecht, das die Freiheit der friedlichen Durchfahrt von Schiffen auf Seestraßen deklariert. Zwar können sie nicht verboten werden, aber es gibt Möglichkeiten, die Fahrten enorm kompliziert und finanziell unrentabel zu machen.
Die Schiffe werden von der Küstenwache des FSB für längere Zeit (3-10 Stunden) zur Kontrolle und Identifikation der Besatzung angehalten. Dies passiert sowohl in der Straße von Kertsch als auch unmittelbar im Asowschen Meer (ein Nachteil des Abkommens von 2013 ist die mangelnde Abgrenzungslinie des Gewässers). Außerdem werden Teile des Asowschen Meeres regelmäßig von den Russen wegen Schießübungen gesperrt. Ein neuer Weg für die Sabotage von Zeitplänen der kommerziellen Schifffahrt ukrainischer Häfen ist die grundlose Aufhaltung von Schiffen vor dem Passieren der Seestraße. Sie werden für mehrere Stunden oder sogar Tage in keine Schiffkarawanen aufgenommen, die organisiert durch den Kertsch-Jenikale-Kanal (der für Schifffahrt geeignete Teil der Kertsch-Straße) geführt werden.
Andrej Klimenko, Chefredakteur des Verlags BlackSeaNews, ukrainischer Experte, der ständig über die Situation im Asowschen Meer berichtet.
Diese Situation führt zu bedeutenden wirtschaftlichen Verlusten für die Ukraine. Fahrpläne werden nicht eingehalten, der Güterverkehr nimmt ab, und schon bald könnten Unternehmen auf die Zusammenarbeit mit den Häfen im Asowschen Meer verzichten. Die Umorientierung des Güterverkehrs auf die ukrainischen Schwarzmeer-Häfen ist mit zusätzlichen logistischen Ausgaben verbunden und könnte zu sozialen Unruhen im kriegsnahen Asow-Gebiet führen, wo Tausende einheimischer Arbeiter in den Häfen von Mariupol und Berdjansk beschäftigt sind.
Infografik: Seehafen von Mariupol. Quelle
Auf die Isolierung der Häfen am Asowschen Meer von der Seite der Kertsch-Straße reagierte die ukrainische Gesellschaft mit der Idee, einen Schwarzmeer-Asowschen Kanal für Schifffahrt zu bauen. Laut Berechnungen sollte seine Länge ca. 120 km betragen. Und obwohl der Bau eines derartigen Infrastrukturprojektes momentan nicht an der Tagesordnung ist, wäre es technisch umsetzbar.
Potenziell könnte Russland auch Hindernisse für die Schifffahrt in die Schwarzmeer-Häfen der Ukraine (Odessa, Mykolajiw, Cherson) bereiten. Als Vorwand dafür könnte die „Überwachung des Seegebiets“ zwischen dem Kap Tarchankut (West-Krim) und der Schlangeninsel (Ukraine) dienen, wo das von Russen angeeignete staatliche Unternehmen „Tschornomornaftogas“ illegale Gas- und Ölförderung am ukrainischen Schelf betreibt. Dieses Gebiet wurde von der Küstenwache des FSB überwacht, und seit kurzem wird die Gegend um die Bohrinseln laut Angaben russischer Medien auch von Untersee-Jagd-Korvetten und Flugkörperschnellbooten der 41. Raketenschiffbrigade der Schwarzmeerflotte patrouilliert.
Gasfelder am Schelf im südwestlichen Teil des Schwarzen Meeres. Ausschnitt aus einer Karte des staatlichen Unternehmens „Tschornomornaftogas“
Die Militarisierung wird auch im Asowschen Meer vorangetrieben. Zusätzlich zur Schiffsflotte der Küstenwache des FSB und Schwarzmeerflotte verlegt Russland auch Kanonenboote der Kaspischen Flotte in diese Region. Neben der traditionellen Transportroute über den Wolga-Don Kanal wurde auch die Möglichkeit des Schienentransports erarbeitet, was die Transportfristen bedeutend reduziert.
Die Aufrüstung des Militärpotentials könnte Moskaus „Muskelspiele“ in der Konfrontation mit Kyjiw für die Seewege und den Küstenschelf sein. Jedoch sollte man die Möglichkeit der russischen Vorbereitung zu einer weiteren bewaffneten Eskalation außer Acht lassen. Am wahrscheinlichsten könnten die Russen versuchen, Teile des Gebiets Cherson unter ihre Kontrolle zu bringen, denn genau dort verläuft der Nord-Krim Bewässerungskanal.
Dieser Kanal liefert seit 1963 Wasser aus dem Dnipro. Seitdem hat er die Bedingungen für die Landwirtschaft im trockenen Steppenteil von Krim deutlich verbessert. Zum Jahr 2014 deckte er den Süßwasserbedarf der Krim zu 80-87%. Aufgrund der russischen Besetzung wurde der Wassertransport aus dem Dnipro eingestellt.
Schematische Darstellung des Nord-Krim-Kanals
Trotz verschiedener durchgeführter Maßnahmen, wie beispielsweise Brunnenwasserbohrungen, konnte die russische Besetzungsverwaltung den Süßwasserbedarf der Krim nicht ausreichend decken. Dies führte zu Verminderungen von Bewässerungsflächen und Landwirtschaftsvolumen. Der Wassermangel führte neben der intensiven Nutzung von unterirdischen Quellen zur Verschlechterung der Umweltsituation auf dem besetzten Territorium. Die Versalzung der obersten Bodenschichten, die Aufsandung von Wassersammelbecken und die rapide Abnahme der Grünflächen auf der Krim dauern an. Diese Entwicklungen könnten mittelfristig zu Migrationsprozessen aus den landwirtschaftlichen Gebieten des Steppenteils der Halbinsel führen.
Der Mangel an möglichen logistischen oder ingenieurwissenschaftlichen Lösungen für das Problem der Wasserversorgung zwingt Russland dazu, militärische Optionen in Betracht zu ziehen. Die zunehmende Militarisierung des Schwarzen und Asowschen Meeres zusammen mit der inoffiziellen Blockade ukrainischer Häfen könnte nach der Meinung vieler Beobachter zum Teil der Erpressungsstrategie gehören, um Kyjiw zur Inbetriebnahme des Nord-Krim-Kanals zu zwingen. Im schlimmsten Fall sollte man darauf vorbereitet sein, dass Russen Teile des Gebiets Cherson zu besetzen versuchen.
Fabeln zu Propaganda- und Desinformationszwecken
Es gibt eine Gemeinsamkeit in der Geschichte vieler Länder und politischer Regime, die zu verschiedenen Zeiten auf der Krim existierten – ihr Bestreben, die ressourcenreiche Pufferzone „auf dem Kontinent“ zu kontrollieren. Diese Faktoren berücksichtigte die Regierung des Russischen Imperiums wahrscheinlich, als sie 1794 auf dem Territorium des annektierten Khanats der Krim das Gebiet Taurien (später – das Gouvernement Taurien) gründete. An diese Verwaltungseinheit mit dem Zentrum in Simferopol wurden auch einige Territorien der heutigen Gebiete Cherson, Saporischschja und Mykolajiw angegliedert.
Landkarte des Gouvernements Taurien Anfang 20.Jahrhunderts
Die Idee einer Reinkarnation des Gouvernements Taurien in seinen früheren Grenzen könnte genauso unerwartet Früchte tragen, wie es 2014 mit „Neurussland“ passiert ist. Wie vielversprechend ein solcher Plan wäre, ist offensichtlich: die Kontrolle über das kontinentale Taurien kann das Wasserversorgungsproblem der Krim zu lösen, denn genau hier fließt das Wasser des Nord-Krim-Kanals.
In den Aufrufen der Sprecher des „russischen Frühlings“ 2014 sollte die Konföderation „Neurussland“ aus acht „Volksrepubliken“ innerhalb der Grenzen entsprechender Gebiete des Südostens der Ukraine bestehen. Jedoch sind nur die „LVR“ und „DVR“ entstanden, und das – nur auf sehr beschränkten Territorien. Im Mai 2015 erklärten die Vertreter der Milizen das Projekt „Neurussland“ für abgeschlossen (oder für unbestimmte Zeit aufs Eis gelegt). Deswegen arbeitet das russische Agentennetz in der Ukraine bei der propagandistischen und subversiven Arbeit nicht mehr auf das Modell aus acht Gebietsrepubliken hin. Als Beispiel für die Suche nach neuen ideologischen Hintergründen dient der Fall der sogenannten „Bessarabischen Volksrepublik“ oder „Volksrepublik Budschak“ (2015). Eine separatistische Enklave mit diesem Namen sollte südliche Teile des Gebiets Odessa umfassen, von einem „Volksrepublik Odessa“-Modell von 2014 war also keine Rede mehr.
Es ist eine berechtigte Annahme, dass es keine aktiven „Patrioten“ der „Chersoner Volksrepublik“ mehr gibt. Das bedeutet aber nicht, dass das Gebiet Cherson vor weiteren Chimären der „russischen Welt“ geschützt ist. Bevor die Idee des Gouvernements Taurien (der Name ist irrelevant, die Territorien spielen eine Rolle) aktiv umgesetzt wird, würde es viel Sinn machen, präventiv zu agieren. Vor allem, wenn man schon die ersten Warnglöckchen hören kann.
Die russische Propaganda könnte die Meinung der nicht allzu kritisch denkenden Mehrheit mit Hilfe von alten ethnografischen Landkarten mit dem sogenannten „Fehler Rittichs“ manipulieren. Unter diesem Link findet man ein Beispiel eines Textes, dessen Autor solche Landkarten zur Meinungsmanipulation nutzt.
Der Sinn der Streitfrage ist wie folgt. Auf vielen alten ethnografischen Landkarten kann man sehen, dass kontinentale Teile des Gouvernements Taurien überwiegend von Russen, und nicht von Ukrainern bevölkert waren. Die Landkarten aus der frühen Sowjetzeit zeigen diese Gebiete jedoch als ethnisch ukrainisch. Der Leser wird zur Schlussfolgerung geführt, dass die sowjetische Regierung die Russen entweder „ukrainisiert“ oder die Bevölkerung im Laufe der sozialen Kataklysmen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tatsächlich ersetzt hat. Folglich ist das ein weiteres „Verbrechen der Bolschewiken gegen das russische Volk“, dessen Auswirkungen korrigiert werden müssen.
Als Quelle aller Landkarten des russischen Nordtauriens dient die „Ethnografische Landkarte des europäischen Russlands“, die 1875 vom russischen Ethnografen und Kartografen Alexander Rittich erstellt wurde.
Ein Ausschnitt aus der „Ethnografischen Landkarte des europäischen Russlands“ von Alexander Rittisch, auf der die russische Bevölkerung (hellere Farbe) die ukrainische Bevölkerung in Nordtaurien überwiegt.
In diesem konkreten Fall hat der bemerkenswerte Wissenschaftler einen bedauerlichen Fehler begangen, denn die statistischen Angaben, die er bei seiner Arbeit nutzte, zeigten einen deutlichen Überhang von Ukrainern auf diesem Territorium. „Rittichs Fehler“ wurde des Öfteren gemeldet, darunter auch von dem berühmten russischen Spezialisten auf dem Gebiet der historischen Demografie, dem Doktor der Geschichtswissenschaften Nikolaj Kabusan (1932–2008).
Eine Seite aus dem Buch Nikolaj Kabusans „Ukrainer in der Welt: Bevölkerungsdynamik in den 20-er Jahren des 18. Jahrhunderts bis 1989: Die Bildung von ethnischen und politischen Grenzen der ukrainischen Ethnie“, das 2006 vom Institut für russische Geschichte der russischen Wissenschaftsakademie veröffentlicht wurde.
Die Angaben zur überwiegend ukrainischen Bevölkerung im Gouvernement Taurien im Ganzen und in seinen nördlichen Teilen wurden von der ersten Volkszählung im Russischen Reich 1897 bestätigt. Laut Ergebnissen dieser Volkszählung lebten im Gouvernement Taurien:
- Ukrainer – 611 121 Menschen (42,2 %)
- Russen – 404 463 Menschen (27,9 %)
In den drei kontinentalen Amtsbezirken des Gouvernements Taurien waren die Angaben der Volkszählung wie folgt:
- Ukrainer – 546 418 Menschen (60,6 %)
- Russen – 223 500 Menschen (24,8 %)
Leider wurde dieser Fehler tatsächlich in vielen kartografischen Arbeiten verschiedener Autoren Ende 19. – Anfang 20. Jahrhunderts wiederholt. Es ist jedoch nicht auf allen Landkarten aus Rittichs Zeit vorhanden.
Sprachkarte von Pawlo Tschubynskyj und Konstantin Mychaltschuk, 1871. Veröffentlicht von Verlagen der Südwestlichen Abteilung der Kaiserlichen Russischen Geografischen Gesellschaft. Sie enthält „Rittichs Fehler“ nicht.
Obwohl „Rittichs Fehler“ in professionellen Kreisen allgemein bekannt ist, könnte die russische Propaganda sehr wohl von alten „geschlagenen“ Karten Gebrauch machen. Für den Informationskrieg des Kreml ist die Qualität des Fakes nicht wichtig, sondern das Vorhandensein von Ressourcen für seine Verbreitung in der Zielgruppe.
Allerdings können ethnografische Begründungen nur eine mobilisierende Rolle spielen, sie sind jedoch keine ausreichende Argumentation für Annexionsmaßnahmen. Am meisten sollte man sich vor Destabilisierungsversuchen des Kreml im Süden der Ukraine in Acht nehmen. Für diesen Zweck können die sozial-wirtschaftlichen Probleme der Region, ihre ethnische und konfessionelle Buntheit oder sogar Sabotageakte auf Objekten der kritischen Infrastruktur ausgenutzt werden – alles, was den russischen Besetzer in unserem Land in die Rolle eines „Friedenstifters“ versetzen würde.
Dieses Material wurde von Maxim Majorow exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Volodymyr Chernenko; korrigiert von Klaus H. Walter.
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