
von Irina Schlegel
Anthony Lee Iacocca hat es einst auf den Punkt getroffen, als er sagte: „Die Mehrheit der Menschen liest keine Artikel, sondern schaut sich nur die Schlagzeilen an. Darum verfügt derjenige, der sie verfasst, über eine kolossale Wirkung auf die Wahrnehmung der Nachrichten durch die Leser“.
Neulich bin ich auf ein fabelhaftes Muster der Schlagzeilenkunst in der „Zeit“ gestoßen, aber dazu später. Zunächst führe ich ein paar Beispiele für Überschriften deutscher Zeitungen der letzten Monate an, also nach etwas über zwei Jahren seit dem Beginn der Okkupation der ukrainischen Halbinsel Krim und der darauf folgenden militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine.
Derartige Fauxpas tauchen immer wieder mal hier mal dort auf. Hier zum Beispiel in „Die Welt“ vom 22. Februar 2016 mit einem Artikel zu Eurovision und Jamala unter der Schlagzeile: „Ukraine provoziert Russland mit Krim-Kandidatin“. Ach, wissen wir doch, haben’s schon gehört. Die Ukraine provoziert Russland seit zwei Jahren schon. Erst hat die Ukraine bei sich zuhause eine Revolution veranstaltet, ließ dann die Einnahme ihrer Halbinsel zu, provozierte russische Militärangehörige in den Donbas zu kommen und ukrainische Staatsbürger zu töten, und fing dann an, dreisterweise ihre eigenen Territorien im Osten des eigenen Landes zu verteidigen, brachte es außerdem fertig, westliche Sanktionen zu initiieren, verzichtete darauf, bei Russland Gas einzukaufen, und wendet sich nun auch noch gegen die „russische Welt“ und spricht von irgendsoeiner eigenen Vorstellung von einer eigenen Zukunft. Pure Provokation liegt hier auf der Hand.
Im Mai wurde eine Dokumentation eines BBC-Regisseurs über die Verschwörungstheorien rund um MH-17 präsentiert. Der Regisseur ist relativ bekannt, seine Filme lassen sich leicht im Internet finden. Das dramaturgische Prinzip ist einfach: Er findet irgendwelche verwirrten Botaniker mit unterhaltsamen Theorien über das eine oder andere Ereignis (wie 9/11 zum Beispiel), lässt sie am Bildschirm ausreden und zerlegt ihre Theorien dann in Grund und Boden. Aber was schreibt der deutsche Stern, als er diesen Film in Deutschland annonciert? In besten Traditionen der Kremlpropaganda lesen wir: „BBC-Doku: Ukrainischer Jet soll MH17 abgeschossen haben“… Alles klar.
Oder diese vortreffliche Schlagzeile, die vor ein paar Wochen eine andere äußerst seriöse und renommierte deutsche Zeitung, die FAZ, herausgab: „Wladimir Putin nennt das neue amerikanische Raketenabwehrsystem in der Ukraine eine Gefährdung“. Ich habe im FAZ-Forum gleich nachgefragt, wo genau in der Ukraine deutsche Journalisten ein amerikanisches Raketenabwehrsystem platziert haben – ich wollte nämlich solch eine wunderbare Nachricht an meine ukrainischen Freunde bringen, die im Unterschied zu deutschen Journalisten über eine derartig positive Entwicklung absolut im Unwissen waren. Wobei im Artikel selbst die Rede von einem amerikanischem Raketenabwehrsystem in Rumänien war. Wie die Ukraine plötzlich in der Schlagzeile gelandet ist, ist nicht ganz klar. Und was ist das: Die Jagd nach Lesern oder absichtliche Sabotage, wenn man bedenkt, dass das Thema amerikanischer Waffen, amerikanischer Soldaten und Tonnen von amerikanischen Keksen in der Ukraine eines der Lieblingsthemen der Kremlpropaganda ist?
Es entsteht der Eindruck, dass Journalismus als solcher aufgehört hat zu existieren. Es gibt einzelne Menschen, die tatsächlich Journalisten sind, aber gibt es denn noch Journalismus?
Aus irgendeinem Grund sind die Journalisten vollkommen von ihrer absoluten Unantastbarkeit überzeugt, denn für die Demokratie und für eine demokratische Gesellschaftsordnung ist Meinungsfreiheit einer der wichtigsten Grundsätze.
Das Dilemma besteht für mich hier in Folgendem: Jede Freiheit impliziert Verantwortung. Es ist keine Freiheit ohne ein Verständnis für die eigene Verantwortlichkeit möglich, keine Rechte sind ohne Pflichten möglich. In erster Linie, vor sich selbst.
Indem sie die Meinungsfreiheit als Aushängeschild benutzen, züchten Terroristen und Propagandisten ihre Medienressourcen auf der ganzen Welt, verbreiten absichtliche Lügen, verzerren die Realität den Herren dieser Welt zuliebe und führen Krieg um die Seelen und Geister der Menschen.
Niemand denkt an die „Ethik eines Journalisten“, die im Gesetz ebenfalls festgeschrieben steht (zumindest im ukrainischen). Die Pflicht, Wahrheit an die Menschen zu bringen, Fakten auszubuddeln, das Wesen der Dinge aufzudecken…
Indem sie die Meinungsfreiheit als Aushängeschild benutzen, haben Journalisten (lasst uns sie doch einfach als Medienmitarbeiter bezeichnen) gelernt, ihre subjektive, persönliche Meinung weiterzugeben (was bislang allein das Privileg von Künstlern war, von den anderen hatte man doch immer logische Argumente und Fakten gefordert) und ihre Reportagen so aufzubauen, dass die berüchtigte objektive Realität einfach aufgehört hat zu existieren. Sie gibt es nicht mehr.
Und persönliche Meinung – darum handelt es sich im besten Fall. In vielen Fällen geht es ja um elementare Bestechung. Also um Korruption im Journalisten-Milieu. Über den Staatsapparat lieben es irgendwie alle hin- und herzudiskutieren, aber „Korruption im Journalisten-Milieu“ – kennt jemand so einen Ausdruck? Na, dann hab‘ ich ihn gerade erfunden.
Was haben wir? Menschen, die der Worte mächtig sind, die damit spielen und diese so vortragen können, dass die Botschaft schneller ins Bewusstsein der Menschen eindringt. Das ist ihr Beruf. Die Nachricht übermitteln. Ein Schnellläufer. Ein Bote.
Und unter den Bedingungen unserer modernen Zeit, in der die Freizeit der Menschen oft im Fernsehabendprogramm des jeweiligen Landes besteht, haben wir in Person der „Journalisten“ eine Armee von Soldaten, die imstande sind, das Wichtigste einzunehmen: den Geist des Menschen, seinen Verstand. Seine Vorstellung von der Welt umzuprogrammieren. Seine Wahrnehmung der Realität zu beeinflussen… Eine virtuelle Armee, die in unserer Zeit fähig ist, den Lauf des realen Geschehens umzubrechen, denn die virtuelle Welt ist längst mit der realen verwischt und ist zu ihrem Teil geworden. Und diese ganze Armee hält riesige weiße Schilder vor sich, auf denen mit großen schwarzen Buchstaben steht: „MEINUNGSFREIHEIT!“.
Und dieses Schild verscheucht alle Protestierenden und Widerleger…
Was ist Meinungsfreiheit? Die Freiheit, seine eigene Meinung (die EIGENE Meinung) zu äußern und zu verbreiten. Für jeden Menschen. Aber „jeder Mensch“ arbeitet doch auch nicht in Strukturen, die das Massenbewusstsein beeinflussen. Müssen nicht Menschen, die solchen Einfluss haben, in ihrer Meinungsfreiheit durch Wahrheit, Ehre, Ehrlichkeit, Ethik und Moral beschränkt sein?
Haben die Journalisten das Recht, nach einem Beschuss von OSZE-Vetretern im Donbas Schlagzeilen wie „Ukraine: OSZE-Beobachter in Ostukraine beschossen“ zu schreiben? (Die Zeit, eine der größten Zeitungen Deutschlands, wohlgemerkt).
Interessante Schlagzeile, finden Sie nicht? Und durchaus wahrheitsgerecht… War doch in der Ukraine. War doch die OSZE. Und sie wurden beschossen. Was stimmt denn nicht?
Na ja. Die Psychologie ist eine Wissenschaft, die seit zumindest 100 Jahren anerkannt ist und es ist Tatsache, dass nach einer derartigen Schlagzeile im Kopf des Menschen nur eins bleibt: „Ukraine!OSZE!Beschuss!“. Das war’s.
Und was ist mit der Schlagzeile: „OSZE-Beobachter im okkupierten Donbas von prorussischen Terroristen mit russischen Waffen beschossen“?
Ein etwas anderer Eindruck, nicht wahr?
Dabei ist die zweite Schlagzeile – objektive Realität. Aber diese haben die „Journalisten“ verschwiegen. Und dabei formal „nichts verzerrt“.
„Nichts“ bedeutet: Sie ließen in den Köpfen der Leser eine genaue Vorstellung darüber, dass in der Ukraine geschossen wird, und dabei sogar auf internationale Vertreter. Russland hat damit nichts zu tun. Russische Soldaten umso weniger. Russische Waffen waren da nicht mal in der Nähe. Donbas ist nicht gesondert angeführt, als ein Territorium der Ukraine, das seit über zwei Jahren von russischen Nazis und der regulären Armee okkupiert ist und um welches seit zwei Jahren Krieg geführt wird. Nichts davon ist geblieben.
Journalismus)
Dieses Material wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich.
2 Responses to “Die Kunst der Schlagzeilen im Kontext des russischen Informationskrieges”
29/04/2017
Mediale Manipulationen, oder wie ein osteuropäisches Land dafür gepeinigt wird, sich aus seiner sowjetischen Vergangenheit befreien zu wollen - InformNapalm.org (Deutsch)[…] sprechen. Über Manipulationen mit den Schlagzeilen in den deutschen Medien hatte ich letztes Jahr schon mal geschrieben, viel hat sich seitdem aber nicht geändert. Es wird noch immer vom „Beschuss der OSZE in der […]
24/05/2017
Meinungsfreiheit vs. Informationskrieg: Zu ukrainischen Sanktionen gegen russische Internetdienste - InformNapalm.org (Deutsch)[…] – „Verbreitung von Informationen“ bedeutet nicht, dass man Interviews bei Terroristen nimmt, die nach einer Direktive eines faschistischen Regimes agieren und dementsprechend das sagen, was ihnen aufgetragen wurde. Auch ist damit nicht gemeint, dass man geschmiert wird, um „Informationen zu verbreiten“, die die gesellschaftliche Meinung in dem jeweiligen Land beeinflussen sollen. Auch schließt „Verbreitung der Informationen“ nicht ein, dass man absichtlich einen Teil, wenn nicht die ganze Wahrheit verschweigt, sie verdreht und auf diese Weise sein Volk desinformiert, aggressive Stimmungen entfacht und eine falsche Einschätzung der Lage fördert. […]