Am 14. April 2016 startete in Kiew das zweitägige 9. Kiewer Sicherheitsforum, das vom Fond „Open Ukraine“ von Arsenij Jazenjuk organisiert wurde. Über 400 internationale und ukrainische Führungspersönlichkeiten, politische, geschäftliche und gesellschaftliche Vertreter aus über 20 Ländern der Welt besprachen globale Sicherheitstendenzen und die Herausforderungen in den modernen internationalen Beziehungen.
Freiwillige von InformNapalm und unsere Partner aus dem Zentrum „Prometheus“ besuchten ebenfalls dieses internationale Treffen.
Dieses Jahr war das Forum den letzten Ereignissen in der Ukraine und an ihren Grenzen gewidmet, den Gründen und möglichen Konsequenzen dieser Ereignisse für den Staat, die Region, Europa und die Welt im Ganzen. Ukrainische und internationale Spezialisten haben versucht, mögliche Szenarien des Geschehens und seiner Folgen zu prognostizieren, und haben Expertenempfehlungen zur Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit in Europa und seinen Nachbarregionen für die Zukunft gegeben.
Wir haben beschlossen, unseren Lesern die interessantesten Thesen der Speaker dieses Forums vorzustellen, die moderne Besonderheiten von internationaler Herangehensweise an die Einschätzung und Lösung von kritischen Weltsicherheitsfragen zu verstehen erlauben.
Stellvertretender NATO-Generalsekretär Alexander Vershbow:
„Die NATO verurteilt scharf und wird sich mit der Krim-Okkupation nie einverstanden erklären. Die Okkupation der Krim ist eine Katastrophe für das europäische Sicherheitssystem. Selbst die militärische Aggression im Osten der Ukraine war eine geringere Überraschung (denn Voraussetzungen dafür hatte man bereits in Georgien sehen können). Russland und seine Helfershelfer verstossen permanent gegen die Waffenruhe im Donbass. Darum muss die Weltgemeinschaft permanent Druck auf Russland ausüben, damit es sich vollständig an die Forderungen hält, die in den Minsker Verhandlungen festgehalten wurden. Und solange es diese Forderungen nicht erfüllt, müssen wir weiterhin Druck ausüben“.
Vorsitzender des Komitees für Verteidigungs- und Sicherheitsfragen in Grossbritannien (2010-2015), Staatssekretär in ausländischen Fragen und Unionsfragen (1995-1997) Malcolm Rifkind:
„Die Ukraine als Staat, als Nation ist immer wieder auferstanden, hatte sehr schwere Zeiten und diese Schwierigkeiten wurden nun dadurch vertieft, dass Putin und Russland sich zu einem Schritt entschlossen haben, den es seit den Sudeten-Zeiten nicht gab – zur Annexion der Krim. Und die Welt darf sich damit nicht abfinden. Wir werden niemals die Rechtmässigkeit dieses Ereignisses akzeptieren. Harte Sanktionen gegen die Russische Föderation, die von den europäischen Ländern und USA eingeleitet wurden, müssen solange aufrechterhalten werden, wie die Aggression der russischen Seite anhält. Russland hat de facto gegen das Budapester Memorandum verstossen. Dieser Schritt in Richtung der Verletzung von territorialer Integrität der Ukraine hat nicht nur der Ukraine einen Schaden zugefügt, sondern der ganzen Bewegung der Nichtverbreitung von Atomwaffen auf der ganzen Welt.
Was die Perspektiven der Ukraine in der EU angeht.
Die EU verändert sich nicht immer so, wie es sich die traditionelle Elite in Brüssel wünscht. Die letzten Tendenzen, die man in den EU-Mitgliederstaaten bezüglich der eventuellen Transformation von Gesellschaft beobachtet, werden zur Beschleunigung vom Betritt der Ukraine zur EU beitragen. Großbritannien, Schweden, Dänemark, womöglich Polen möchten manche Aspekte der vollständigen Integration in die EU nicht annehmen. Und falls die EU-Mitgliedschaft keine vollständige Integration vorsehen wird, keine Erfüllung der kleinsten Forderungen, sondern die Möglichkeit geben wird, seine nationale Freiheit in bestimmten Richtungen beizubehalten, so denke ich, dass es für die Ukraine eine bedeutende Verkürzung ihres Weges zur EU-Mitgliedschaft bedeuten wird, als es heute aussehen mag“.
Stellvertretende US-Staatssekretärin in Fragen der Demokratie und globaler Beziehungen (2001-2009) Paula Dobriansky:
„Mit Russlands Aggression im Osten der Ukraine und der illegalen Annexion der Krim wurden westliche Werte, Institute und Allianzen herausgefordert, die den Frieden und Stabilität im Lauf von Jahrzehnten nach dem Ende des II. Weltkrieges und des Kalten Krieges aufrechterhielten. Darum müssen wir nun vereint sein und zu einem Konsens bezüglich der Unterstützung dieser Institute und Werte kommen. Wir müssen nicht nur an der Frage der Verlängerung von Sanktionen arbeiten, sondern nach neuen Sanktionen suchen, denn der Preis für eine Aggression muss noch höher gesetzt werden, um der Gewalt ein Ende zu setzen und der territorialen Integrität der Ukraine Respekt zu zollen. Dieses Forum findet in einer sehr wichtigen Zeit statt, in der die Ukraine an der Ostfront zu kämpfen versucht und gleichzeitig danach strebt, sich wirtschaftlich zu entwickeln, die Korruption zu bekämpfen und sich in die europäische Gesellschaft zu integrieren. Wir müssen wachsam sein und der Ukraine bei der Erreichung dieses wichtigen Ziels beistehen“.
Stellvertretender Beauftragter des US-Verteidigungsministeriums Michael Carpenter:
„Wenn in der Ukraine die Reformen fortgesetzt werden, werden die USA sie weiterhin unterstützen. Was die Unterstützung der Ukraine im Sicherheitsbereich angeht, im besondern was die Reformierung ihrer Streitkräfte angeht, so ist es mir eine Freude mitzuteilen, dass in 2016 die USA 335 000 000 $ für die regulären Streitkräfte und die Spezialkräfte der Ukraine bereitstellen werden. Zugleich planen die USA die Unterstützung für den Grenzdienst und die Nationalgarde der Ukraine zu verdoppeln. In der Ukraine wurde viel getan, um Reformen nach der Revolution der Würde durchzuführen. Wir hoffen, dass die Ukraine den Weg der Reformen nicht verlässt, denn die USA planen auch in Zukunft, positive Veränderungen zu fördern. Die Situation im Donbass ist gerade sehr zerbrechlich. Wir vermerken gravierende Verstösse gegen die Waffenruhe seitens der prorussischen Kräfte. Ausserdem werden in den Donbass permanent russische Waffen verlegt. Die OSZE-Mission ist mehrmals unter einen Mörserbeschuss geraten, ihr wird des Öfteren der Zugang zu vielen Orten im Donbass verwehrt. Das alles lässt schlussfolgern, dass Russland die Situationseskalation im Donbass kontrolliert. Des Weiteren manipuliert die russische Seite aktiv die Geschichte der Ereignisse im Donbass und beschuldigt die Ukraine unter anderem der Verletzung des Minsker Abkommens. Die US-Politik wird solange auf die Aufrechterhaltung der Sanktionen gegen Russland gerichtet sein, bis die Ukraine die Kontrolle über ihre östliche Grenze und die Krim wiedererlangt.“
Präsident des Forschungszentrums für politische Entscheidungen Nicolas Tenzer (Frankreich):
„Die demokratische Welt muss ihre eigene Tagesordnung für Informationskriege zusammenstellen und nicht einfach nur auf jene reagieren, die Russland allen aufzwingt. Das putinsche Russland lügt und stellt Fakten bereit, die mit der Wirklichkeit nichts gemeinsam haben. Und wir müssen dann diese Falschinformationen widerlegen. Ein Beispiel dafür ist die Behauptung, Russland hätte gegen den IS gekämpft. In Wirklichkeit hat Russland nicht gegen den IS gekämpft, sondern das Assad-Regime unterstützt. Und wir müssen so etwas widerlegen und klarstellen. Wir müssen unseren eigenen Diskurs, unsere eigene Wahrnehmung der Realität und unsere eigenen Werte verbreiten… Es ist äusserst wichtig, Russland daran zu hindern, seine Informations-Tagesordnung aufzuzwingen. Faktisch versuchen wir Russland nur zu antworten und bieten unsere eigene Wahrnehmung der Welt und Realität oft gar nicht an“.
Abgeordneter des EU-Parlaments, Verwaltungs- und Digitalisierungsminister Polens (2011-2013) Michal Boni:
„Die ukrainische Regierung beschloss, eine neue Strategie der Cyber-Sicherheit zu entwicklen und die Schwachstellen an dieser Front werden gerade geschlossen. Was ist eine richtige Strategie? Meiner Meinung nach, ist es in erster Linie eine komplexe rechtliche Basis, die maximal an die europäische Basis angenähert und in Zusammenarbeit mit den NATO-Strukturen agieren muss. Die Ukraine wie auch viele andere Länder steht vor Cyber-Bedrohungen des Informationskrieges. Für die Ukraine sind sie aber gefährlicher, denn hier läuft Krieg und die russische Aggression wird fortgesetzt. Es gibt eine EU-Direktive zur Sicherheit in Fragen der Informationstechnologien. Ich denke, dass die entsprechenden ukrainischen Dokumente sich an dieses Dokument halten müssen. Auch muss eine Zusammenarbeit zwischen den ukrainischen und europäischen Medien eingerichtet werden: Die Journalisten und die zivile Gesellschaft, besonders auf dem regionalen Niveau, müssen zu Kampagnen hinzugezogen werden, die auf die Cyber-Informierung der Gesellschaft gerichtet sind.“
Kanadas Schattenverteidigungsminister, Abgeordneter des föderalen Parlaments Kanadas, James Bezan:
„Es gibt heute in der NATO einige, die keine weitere Erweiterung in den Osten und keinen Widerstand gegenüber der russischen Aggression wollen. Sie wollen keine Verstärkung des Luftabwehr- und Beobachtungssystems usw. Leider gibt es auch solche, die den Aggressor beschwichtigen wollen. Und es ist nicht nur unsere Schwäche, sondern auch ein Signal an Putin zur Fortsetzung der Aggression. Angesichts dieser Tatsache wird es in Warschau einen harten Kampf zwischen den Ländern geben, die die aggressive Ideologie Moskaus erkennen und jenen, die keine Konfrontation mit Moskau wollen. Auf dem Gipfel in Warschau werden wir auch die ukrainische Frage besprechen, darunter auch die militärische Hilfe an die Ukraine. Wir werden darüber nachdenken müssen, welche Verteidigungswaffen wir ihr zur Verfügung stellen müssen, damit sie die Angriffe im Osten abwehren kann. Wir müssen schließlich auch bestimmen, wo genau die rote Linie verläuft, die den Westen dazu bringt, entschlossener in seiner Unterstützung für die Ukraine zu sein.
Ich möchte daran erinnern, dass auf dem Gipfel in Wales die NATO bestimmte Verpflichtungen auf sich genommen hat und wir nun ihre Ausführung sehen. Die Allianz verstärkt ihre Präsenz an den östlichen und südlichen Grenzen, das Luftabwehrsystem wird entwickelt, es werden Manöver abgehalten usw. Zugleich sehen wir, dass Russland seine aggressive Politik gegen seine Nachbarn fortsetzt und die Allianz permanent provoziert. Und wir nehmen es zur Kenntnis hinsichtlich der Pläne zur Eindämmung seines aggressiven Vorgehens.“
Stellvertretender Staatssekretär des Aussenministeriums Polens Marek Ziolkowski:
„Im Lauf des NATO-Gipfels in Warschau, der Anfang Juli stattfinden soll, werden die Bedrohungen für die Allianz von den östlichen und südlichen Flanken besprochen. Unser Gipfel wird auf bestimmte Art und Weise universal sein, zum Beispiel dadurch, dass wir sowohl die Bedrohung aus dem Osten als auch aus dem Süden betrachten werden, und all die Herausforderungen für die Sicherheit analysieren werden, die rund um unsere Region entstehen. Auf den Warschauer Gipfel ist auch der Präsident der Ukraine eingeladen, der an der Sitzung „Ukraine-NATO“ teilnehmen wird. Die Allianz muss ihre Ansichten bezüglich der europäischen Sicherheitsstruktur ändern und wieder zum traditionelleren Denken übergehen, wenn man das heutige Sicherheitsdefizit berücksichtigt. Vor dem Gipfel werden in Polen die Massenmanöver „Anakonda“ abgehalten. Über 20 000 Militärangehörige, darunter auch aus den USA, werden an diesen Manöver teilnehmen.“
Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Programms zu Russland und Eurasien am Königlichen Institut der Internationalen Beziehungen „Chatham House“ James Sherr (Großbritannien):
„Die Ukraine besitzt keine nötige Informationsstrategie. Die einzigen, die was von dieser Strategie verstehen, sind die Menschen, die auf dem Maidan gewesen sind. Grosse Rolle im Prozess der Informationspropaganda müsste eigentlich das Außenministerium der Ukraine spielen, aber wegen des veralteten Organisationssystems dieses Ministeriums schaffen die Diplomaten diese Aufgabe nicht. Das Aussenministerium versteht nicht das Wesen dieses Informationskrieges. Das holländische Referendum ist meiner Meinung nach der grösste Sieg der Russischen Föderation im Informationskrieg seit der Annexion der Krim.“
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Zur Info:
Die jährliche Veranstaltung „Kiewer Sicherheitsforum“, das vom Fond „Open Ukraine“ von Arsenij Jazenjuk in 2007 initiiert wurde, ist eine Plattform für Diskussionen und Erfahrungsaustausch zu aktuellsten Sicherheitsfragen in Europa und der Schwarzmeer-Region.
InformNapalm; übersetzt von Irina Schlegel. Fotos: Olexander Inditschij KSF-2016
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