
Vor ein paar Wochen stand die Ukraine wieder in Zentrum der globalen politischen Arena. Die renommierte amerikanische Zeitung „The New York Times“ veröffentlichte einen Beitrag, in dem der Ukraine eine mutmaßliche Lieferung von Raketentriebwerken an Nordkorea vorgeworfen wird. Die Autoren bauen eine logische Kette auf: Selbstständig könne Nordkorea kaum solche Systeme in so einer kurzen Zeit entwickeln, deshalb kaufte es die Raketen aus zweiter Hand oder auf dem Schwarzmarkt. Die Raketen selbst seien entweder in der Ukraine oder in Russland hergestellt worden. Dabei werden die Staaten genau in dieser Reihenfolge erwähnt, und das Wort „Ukraine“ wurde just im Titel des Beitrages eingebettet, sodass es für uns kein Spielraum für Manöver lässt.
Der Artikel schildert den Bericht des Fachmannes Michael Elleman, der am selben Tag mit dem Beitrag in der NYT erschien. Offenbar arbeiteten die Autoren mit Elleman zusammen oder bekamen die Version seines Berichtes vor seiner ersten Veröffentlichung.
Wäre so ein Beitrag auf einem No-Name-Blog eines weiteren Think-Tanks veröffentlicht worden, wäre niemand darauf aufmerksam geworden, da sich der Aussagewert solcher Publikationen normalerweise nach der Wichtigkeit der publizierenden Medien richtet, in der sie erscheinen. Und einem Artikel der NYT werden die Menschen glauben, sie wird als sichere Quelle ernst genommen.
Wohl bemerkt, die NYT hat nie unter der Liebe zur Ukraine gelitten und publizierte oft seltsame Beiträge über sie. Zumeist wurden sie in der Spalte „Meinung“ platziert (an sich ist das ein gewöhnlicher Blog auf der Webseite), dieses Mal jedoch, trug der Artikel einen redaktionellen Charakter.
Who is Mr. Elleman?
Ukrainische Medien haben voreilig aus dem amerikanischen Raketenspezialisten Elleman einen Kreml-Agenten gemacht, indem sie die schnellste Erklärung der Gründe für die Erscheinung solch eines Artikels in der NYT unterbreiteten: In den 90ern hat Elleman bei dem Abrüstungsprogramm in Russland gearbeitet und hat man einmal in Russland gearbeitet, ist man folglich ein Agent des Kreml oder man wurde angeworben.
Hier handelt es sich jedoch um das Cooperative Threat Reduction Program – das sogenannte Nunn-Lugar Cooperative Threat Reduction, ein internationales Programm zwischen den USA und den Staaten der ehemaligen UdSSR, das seit 1991 Bestand hat. Die amerikanische Regierung stellte Geldmittel sowohl für die Vernichtung von Atom-, Chemie- und anderen Massenvernichtungswaffen,sowie für deren Transport und die allgemeine Abrüstung bereit. Bis zum Jahr 2012 haben die Amerikaner 8,97 Milliarden Dollar für das Programm (an dem übrigens auch die Ukraine teilnahm) bereitgestellt.
Elleman studierte Physik an der Berkeley (University of California, Berkeley), hat an unterschiedlichen Abrüstungsprogrammen gearbeitet und hat Berufserfahrung beim Unternehmen Lockheed Martin. Von 1995 bis 2001 leitete er das Abrüstungsprogramm in Russland, und von 2003 bis 2009 arbeitete er für das Unternehmen Booz Allen Hamilton, das bei der Realisierung von Abrüstungsprogrammen half. In diesem Unternehmen sind häufig ehemalige Mitarbeiter amerikanischer Geheimdienste beschäftigt. Wir erinnern daran, dass genau in diesem Unternehmen Edward Snowden fast seine gesamte aktive geheimdienstliche Karriere verbrachte (2009-2013).
Faktisch ist Elleman ein eng spezialisierter Fachmann, der, wenn er auch in Russland gearbeitet hat, dies im Auftrag der US-Regierung tat, wonach er in einem, den amerikanischen Geheimdiensten nahestehendem Unternehmen landete und als Experte für Raketentechnologien galt. Ob solche Leute jemals „Ehemalige“ sein können, ist eine große Frage, wenn auch eher eine rhetorische.
In gewisser Hinsicht ähnelt Elleman dem ukrainischen Außenminister Pawlo Klimkin, der ebenfalls Physik studierte und in den 90ern mit den amerikanischen Partnern bei Abrüstungsfragen zusammengearbeitet hat. Doch aus irgendeinem Grund wird Klimkin von niemandem als amerikanischer Agent bezeichnet.
Warum beschuldigt Elleman die Ukraine?
Wenn man den Beitrag in NYT gelesen hat, bleiben einem keine Zweifel, dass die Ukraine auf die eine oder andere Weise die Raketentriebwerke an Nordkorea geliefert hat. Die schlechte Wirtschaftslage in der Ukraine gepaart mit der großen Erfahrung im Raketenbau, die Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Russland, die unbekannten Schmuggler von Raketentriebwerken und überhaupt, ihr kennt doch diese Ukraine – kurzum, vor uns liegt ein typischer Klischee-Artikel, frei von jeglichen Beweisen. Die Ukraine wird in dem Artikel 26 Mal erwähnt, Russland – 13 Mal. Die Akzente wurden definitiv gesetzt.
Doch in dem Bericht von Elleman selbst wird die Information in einem etwas anderem Licht dargestellt. Er schreibt, dass die Triebwerke womöglich in Russland oder der Ukraine produziert worden sind. Und wenn in der Ukraine, dann noch zur Sowjetzeiten. Die Ablauffolge ist folgende – Russia and Ukraine, an fünf bis sieben Stellen im ganzen Text. Dabei wird die Ukraine zwölf mal erwähnt und Russland 20 Mal.
Auf diese Weise haben die Journalisten der NYT die Akzente des Elleman-Berichtes verändert und die Ukraine als den Hauptschuldigen dargestellt, obwohl im ursprünglichen Bericht die Rede eher von Russland, als von der Ukraine war.
Russische Reaktion, oder ihre absolute Abwesenheit
Und hier ist die russische Reaktion sehr aufschlussreich. Wenn wir davon ausgehen, dass das Erscheinen des Berichtes ein Werk von russischen Geheimdiensten oder Einflussagenten war, hätte man eine heftige Reaktion seitens russischer Experten und Diplomaten erwartet, doch Maria Sacharowa schweigt aus irgendeinem Grund.
Der Artikel ist am Montagmorgen erschienen und am Abend desselben Tages wird von dem Radiosender „Echo Moskwy“ die Sendung „Arsenal“ ausgestrahlt. Ihr Gast war dieses Mal Boris Obnosow – der Generaldirektor der Aktiengesellschaft „Tactical Missiles Corporation JSG“. Das Thema der Sendung ist perfekt – „Der russische Raketenbau“. Man sollte glauben, dass wenn dies ein gezielter russischer Informationseinwurf war, wäre die gute Hälfte der Sendung der Entlarvung der hinterhältigen Ukraine gewidmet, die ihre Raketenbautechnologien an die Schurken-Staaten verkauft. Doch während der gesamten Stunde ist die Frage bezüglich der Ukraine nicht angesprochen worden.
Erwähnenswert ist, dass egal wie stark die Versuche sind, die Ukraine mit der Lieferung von Raketentechnologien an Nordkorea in Zusammenhang zu bringen, unser Staat physisch nicht in der Lage ist, diese Technologien an das Regime von Kim Jong-un zu liefern: Der Transport würde ohnehin entweder über Russland oder China abgewickelt.
Schließlich gibt es auf der Welt keinen Schwarzmarkt für Raketentriebwerke, wie es auch keinen Zweitmarkt für die Turbinen der Firma Siemens gibt. Bei diesem Thema gibt es so oder so eine „russische Spur“. Sogar falls das Triebwerk einst in der Ukraine oder der USSR (Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik) produziert wurde, dann wurde es höchstwahrscheinlich von Russen nach Nordkorea geliefert. Sogar wenn die Technologien oder die Rakete selbst über China nach Nordkorea gelangten, sind sie dennoch entweder aus Russland oder mit Russlands Wissen in China gelandet.
Deshalb hat die russische Informationsmaschinerie einen halben Tag ihre offizielle Position gesucht: Sollte man damit beginnen, die Ukraine zu beschuldigen oder für alle Fälle den Eindruck erwecken, dass nichts vorgefallen ist? Offensichtlich wurde nämlich die zweite Variante gewählt.
Was wurde früher über koreanische Raketen berichtet?
Das Thema der Lieferung von Raketentechnologien wurde bereits mehrmals in der westlichen Presse erhoben, doch die Ukraine wurde dabei nur beiläufig oder gar nicht erwähnt.
So wurde schon am 1. Juni 2017 am Runden Tisch «Trump and North Korea: Where Do We Go From Here?» an der John-Hopkins-Universität unter der Teilnahme von Elleman das Thema von der Lieferung von Raketentechnologien nach Nordkorea diskutiert. Die Formulierungen liefen jedoch wieder darauf hinaus, dass es offensichtlich noch sowjetische Raketentechnologien sind, die in Russland oder der Ukraine produziert wurden. Das Verhältnis der Erwähnungen beider Staaten beträgt wieder 22 zu 10 zugunsten Russlands.
Noch am 4. Juli im Artikel „Wie zum Teufel kommt Kim an eine solche Rakete?“ erwähnt die deutsche „Die Welt“ die Ukraine und… den Iran als potentielle Quellen der Raketentechnologien für Nordkorea, doch den Informationseinwurf haben die ukrainischen Medien scheinbar nicht gelesen.
Die amerikanische Presse hat häufig über dieses Problem berichtet. Bereits zwei Tage vor dem Artikel in der NYT, am 12. August, in der lokalen Zeitung „The Salt Lake Tribune“ erscheint der Artikel „North Korea still mastering how to deliver a nuke to US“, in dem Michael Elleman wieder als Experte erscheint, doch die Ukraine wird in dem Artikel nicht einmal erwähnt. Ein Zufall?
Perfekte Auswahl des Opfers
Nichtsdestotrotz ändern sich nach den analytischen Berichten von Elleman von der russisch-ukrainischen Spur der nordkoreanischen Rakete in der NYT die Akzente und das Thema wird ein ukrainisch-russisches, beziehungsweise einfach ein ukrainisches.
Nebenbei bemerkt, wurde das Opfer perfekt ausgewählt. Ein Land im Kriegszustand und mit einer Reihe von Problemen, mit einer dunklen Vorgeschichte der Waffenlieferungen an alle Brennpunkte der Welt, das die Technologien zur Herstellung von praktisch allen Massenvernichtungswaffen besitzt, mit einer seltsamen Führung, die man an allem bezichtigen kann und sich dabei keine großartige Mühe geben muss, Beweise zu finden, da… ist sowieso alles klar.
Niemand wird verkohlte Schilder mit der Beschriftung Made in Ukraine und dem Herstellerdatum von nach dem Beginn der russischen Aggression vorlegen. Im Informationsraum wird einfach eine Hypothese aufgestellt: Dies könnte die Ukraine gewesen sein. Und wozu Beweise suchen – bei dem schlechten Ruf, den Ukraine hat?
Zudem ist die Ukraine ein schwaches Dritte-Welt-Land, das auf solche Informationseinwürfe nicht adäquat wird antworten können. Die Dementis von „Juzhmasch“, Turtschinow oder Gorbulin in den USA werden einfach nicht gehört werden, und ukrainische Journalisten werden in der NYT keinen Platz für eine Antwort auf die Vorwürfe erhalten. In der Geschichte wird einfach nur die Überschriftzeile bleiben: „North Korea’s Missile Success Is Linked to Ukrainian Plant“…
Das Schweigen der chinesischen Lämmer
Ganz besonders sollte man das Schweigen von China hervorheben, mit wessen Hilfe Nordkorea überhaupt existiert. Die Länge der Grenze zwischen China und Nordkorea beträgt 1420 Kilometer, die Grenze zwischen Russland und Nordkorea ist ca. 39 Kilometer lang. Warum sollten also die Raketentechnologien ausgerechnet aus Russland oder der Ukraine kommen, und nicht aus China?
Im Grunde ist die Administration Trump zur Zeit durch einen, von niemanden benötigten Konflikt mit einem Schurken-Staat abgelenkt, der nicht einmal ganz im Stande ist, mit seinen Raketen den amerikanischen Boden zu erreichen und der bereits, nach der letzten Version nach, nur noch damit droht, den Logistikstützpunkt der United States Navy auf der Insel Guam zu vernichten.
Dabei könnte Trumps Administration an der Lösung der wirtschaftlichen Probleme arbeiten, die in der Wahlkampagne angesprochen wurden, und Amerikas Abhängigkeit von ausländischer Ware reduzieren.
Wir erinnern uns, dass ausgerechnet Trumps Wunsch, die Fülle der deutschen und europäischen Güter auf dem amerikanischen Markt zu reduzieren, die Anti-Trump-Hysterie bei europäischen Politikern und Medien ausgelöst hat. Zu jetzigen Zeitpunkt besitzt Deutschland einen Überschuss im Handel mit den USA in Höhe von mehr als 50 Milliarden Euro, der Überschuss im Handel mit den EU-Ländern beträgt ca. 100 Milliarden Euro.
Doch im Handel zwischen China und den USA herrscht ein Handelsdefizit und beträgt fast 350 Milliarden US-Dollar. Sollte Trumps Regierung auch mit der neuen Politik à la „America First“ anfangen, wird vor allem die Export-orientierte Wirtschaft Chinas Schaden nehmen.
Also ist ist es China momentan von Vorteil, wenn die USA an Stelle der Lösung der wirtschaftlichen Problemen sich plötzlich dem Kampf gegen Nordkorea widmen, die irgendwie zu Raketentechnologien gekommen ist, die ihnen erlauben, den amerikanischen Boden zu erreichen. Im Extremfall ist die Besänftigung Nordkoreas ein selbstgestricktes Ass in den Händen chinesischer Diplomaten.
Ein interessantes Detail: Ausgerechnet am Tag der Erscheinung des Artikels über die Lieferung von ukrainischen Raketentriebwerken, verschärfte China demonstrativ seine Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea. Ein reiner Zufall oder ein weiteres Ergebnis des Handels zwischen China und den USA?
Eine selbtgemachte „Koltschuga“ vs. „Javelin“
Übrigens sollte man womöglich nicht nach solchen komplizierten Erklärungen suchen? Seinerzeit wurde der Ukraine bereits vorgeworfen, „Koltschugas“ an den Irak geliefert zu haben. Danach marschierten die Amerikaner in den Irak ein, doch es wurden dort keine Spuren von ukrainischen „Koltschugas“ entdeckt, gleichwohl ist der ukrainische Präsident Kutschma beinahe schon zum Schurken geworden. Jetzt, Jahre später, hat die Geschichte alles aufgedeckt, doch der Nachgeschmack blieb.
Im vierten Kriegsjahr hat man in Amerika begonnen, über die Lieferung letaler Waffen an die Ukraine zu sprechen. Dabei sollte man aber verstehen, dass über diese Fragen nicht umsonst seit Jahren diskutiert wird. Gegen die Lieferungen treten sowohl die Einflussagenten des Kreml auf (hier ist der jüngste Beitrag in Bloomberg interessant), als auch inneramerikanische Kräfte, die für Amerika keinen unmittelbaren Nutzen in einem schnellen Sieg der Ukraine sehen. Wozu braucht die Amerika im Grunde genommen einen schnellen Sieg der ukrainischen Armee in Donbas, wenn man an der Lösung der Frage jahrelang arbeiten kann, ohne Russland aus einem weiteren Konflikt heraus zu lassen?
Es ist uns bekannt, dass auf Wunsch der Zugang zu moderner Technologie auch irgendwelche Taliban erhalten, und auch die bärtige syrische Opposition. Nur die Waffenlieferungen an die Ukraine bleiben stecken.
Interessant wird jetzt die Reaktion der amerikanischen Seite auf den Bericht der NYT sein. Im Extremfall wird sie einfach vergessen und das Material wird zu einer missglückten Interpretation des Elleman-Berichtes. Doch genau dieser Fall kann auch bei den inneramerikanischen Auseinandersetzungen als Argument gegen die Lieferung von letalen Waffen an die Ukraine benutzt werden.
Dieses Material wurde von Anton Pawluschko exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Zoya Schoriwna; editiert von Kateryna Matey.
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