Koalition als Indulgenz
Im September dieses Jahres rief Russlands Präsident auf der 70. UN-Generalversammlung die Weltgemeinschaft dazu auf, eine breite internationale Koalition gegen die terroristische Organisation Islamischer Staat zu bilden, die auch als der Islamische Staat im Irak und in Syrien bekannt ist. Über den Charakter der vorgeschlagenen Koalition erklärte Putin Folgendes: „Wie auch die antihitlerische Koalition könnte sie in ihren Reihen sehr verschiedene Kräfte vereinen, die bereit sind, entschieden jene zu konfrontieren, die wie einst die Nazis das menschenverachtende Böse säen“.
Die aufmerksamen internationalen Beobachter haben keine Gründe, den Kreml der Angst vor der nahöstlichen Terrorgruppierung und umso weniger ihn der Ablehnung des internationalen „menschenverachtenden Bösen“ zu verdächtigen. Für Putin ist die 70 Jahre alte Erfahrung wesentlich wichtiger als der IS. Die von ihm erwähnte antihitlerische Koalition hat nicht nur die Nazis zerschlagen – sie hat dem Kannibalen Stalin das Recht gegeben, über das Schicksal der Nachkriegswelt an einem Tisch mit den Anführern der wichtigsten Staaten der Welt zu entscheiden. Die Länder Osteuropas (Polen, Ungarn, Tschechoslowakei und andere) gerieten für vier Jahrzehnte unter die Kontrolle des kommunistischen Moskau – mit schweigender Zustimmung des Westens. Das war der Preis für die Teilnahme der Sowjetunion an der antihitlerischen Koalition.
Das wirkliche Ziel der putinschen Koalition „gegen den IS“ ist die Wiedergewinnung der russischen Reputation, die nach der Aggression auf der Krim und im Donbass verloren gegangen ist. Wenn die Koalition gut funktionieren sollte, kann der Kreml mit der Akzeptanz des Status Quo der annektierten Krim seitens des Westens rechnen, oder gar auf die Anerkennung der ganzen Ukraine als einer russischen Einflusszone hoffen. Wie einst ein Philosoph schrieb, wiederholt sich die Geschichte immer zweimal: einmal als Tragödie, das zweite Mal- als eine Farce. Der Unterschied zwischen dem Nazi-Deutschland und dem IS ist ungefähr wie der zwischen einer Überflutung im Frühling und dem tropfenden Wasserhahn in der Küche. Darum, um dem bequemen Gegner ein gewisses politisches Gewicht zu verleihen (Welchen Sinn hätte sonst die Koalition?), ist das putinsche Regime gezwungen, fürs Erste dem IS nachzugeben.
Am offensichtlichsten geschieht es gerade in Syrien. Moskau gab die Durchführung einer Operation gegen die Antiregierungskräfte in diesem Land mittels der Luftwaffe an. Entgegen der Kremlpropaganda ist aber das Hauptziel der russischen Luftwaffe gar nicht die Truppen und Infrastruktur des IS, sondern Ortschaften, die unter der Kontrolle der syrischen Opposition stehen.
Weniger bekannt ist auch die Tatsache, dass Moskau auf eine analoge Weise die Konkurrenten des IS auch auf seinem eigenen Territorium vernichtet. Aber erstmal ein wenig Geschichte.
Von Itschkerien bis zum Imarat
Zwei russisch-tschetschenische Kriege (1994-1996 und 1999-2000) haben dem Kaukasus keinen Frieden gebracht, der Widerstand gegen die föderalen Behörden wird in Form von Untergrunds- und Partisanenaktionen bis heute fortgesetzt. Die Ideologie des bewaffneten Untergrunds wurde dabei starken Veränderungen unterzogen: heute sind die Feinde vom FSB und dem Innenministerium nicht die tschetschenischen Nationalisten, sondern Salafiten (Islamisten), die vom russischen Fernsehen des Öfteren „Wahhabiten“ genannt werden.
Der letzte Präsident der Tschetschenischen Republik Itschkerien Doku Umarow änderte die Ziele, Aufgaben und Ideologie des bewaffneten Kampfes. Im 2007 legte er seine präsidialen Befugnisse ab und rief die Bildung des Staates Imarat Kaukasus (Kaukasus-Emirat) aus, wobei er alle „ethnische territorial-kolonialen Zonen unter dem Namen „Nordkaukasische Republiken“ für gesetzwidrig“ erklärte. Sich selbst ernannte er zum „obersten Emir der Mudschaheddin vom Kaukasus“.
Das Imarat besteht aus fünf operativ-verwaltenden Formationen: Wilayaten Dagestan, Nochtschijtscho (Tschetschenien), Galgajtsche (Inguschetien), Nogaisker Steppe (Stawropoler und Krasnodarer Gebiet) und einem vereinten Wilaya von Kabardy, Balkarien und Karatschai.
Die Wilayaten werden von Wali angeführt, die aus der Mitte der Emire autonomer ethnischer Kampfvereinigungen befördert werden – den Dschaamaten (Gemeinden). An der Spitze des Imarat Kaukasus steht der oberste Emir mit ausserordentlich weiten Befugnissen. Die Untergrundkämpfer von IK kämpfen nicht für nationale Rechte, sondern für die Errichtung von Scharia-Gesetzen auf allen Territorien des selbsternannten Staates.
Das IK ist für seine terroristischen Kampfmethoden bekannt, verbreitet sind darunter die Anschläge auf die Mitarbeiter vom FSB, Innenministerium und Staatsanwaltschaft, Sprengungen des zivilen Transports und der Infrastruktur-Objekte von Innenministeriumsbehörden Russlands, manchmal unter Einsatz von Selbstmordattentätern. Die „Waldbrüder“ machen keinen Halt vor Erpressung und Drohungen an die Unternehmer, die sich weigern, die „Revolutionssteuer“ zu zahlen, den sogenannten Sakjat.
Experten glauben, dass das IK unter dem ideologischen und materiell-technischen Einfluss von Al-Qaida steht.
2010 hat der UN-Sicherheitsrat das Imarat Kaukasus auf die Sanktionsliste gegen Al-Qaida gesetzt. Auf dem Diplomatenniveau hat Moskau in vollem Ausmaß die These für sich ausgenutzt, dass sein Kampf gegen die Mudschaheddin Teil eines viel breiteren Krieges gegen den islamistischen Terror ist, den die ganze zivilisierte Welt nach dem 11. September 2001 führt.
Das Imarat Kaukasus und der Islamische Staat.
Unter Bedingungen der absoluten Rechtlosigkeit und Verletzung von grundlegenden Menschenrechten in den nordkaukasischen Republiken seitens der russischen Behörden, haben die Ideen des Imarats in den Herzen vom Grossteil der Jugend Resonanz gefunden. Dank der allgemeinen Hoffnungslosigkeit und der Willkür der Behörden, in Kombination mit einem hohen Anspruch auf die Gerechtigkeit, hatte das IK lange Zeit keine wesentlichen Probleme mit der menschlichen Ressource gehabt: nach einem weiteren Willkürakt der russischen Gewaltbehörden begab sich die Jugend auf der Suche nach der Wahrheit selbstständig auf den Weg in den Wald.
So ging das fort bis zum Auftauchen vom Islamischen Staat im Nahen Osten. Im Sommer 2014 hat der IS eine Reihe von erfolgreichen Offensivoperationen im Norden von Irak und Syrien durchgeführt. Die Entwicklung echter Kampfhandlungen und die Siege der Mudschaheddin zogen immer mehr Aufmerksamkeit der salafistischen Jugend in Russland auf sich. Viele haben sich ernsthaft mit dem Gedanken auseinandergesetzt, sich am Dschihad in Syrien zu beteiligen, wo es Schwung, echte Kämpfe und genau abgezeichnete Perspektiven gibt – all das, was in den Bergen von Kaukasus eben fehlte.
Imarat stieß zum ersten Mal auf einen Mangel an Personalbestand: es gab nicht nur keine frische Zugänge mehr (die allesamt magnetisch vom IS angezogen wurden) – sogar die erfahrenen Mudschaheddin, die im Nordkaukasus gekämpft hatten, sind zum Dschihad nach Syrien gefahren. Die Organisation wurde schwächer, aber zu einem offenen Konflikt zwischen dem IK und dem IS kam es noch nicht.
Alles hat sich am 21. November 2014 verändert, als Suleiman Sailanabidow, einer der Emire von Wilaya Dagestan, einen Eid an den Kalif des Islamischen Staates Abu Bakru al-Bagdadi ablegte. Bald ist noch eine Reihe von Emiren aus dem IK-Befehlsbereich ausgetreten und hat sich dem Islamischen Staat angeschlossen.
Die Anführer vom IK haben das langanhaltende Schweigen gebrochen: Im Netz tauchte eine Videoansprache auf, in der der oberste Emir des Imarat Kaukasus Ali Abu-Muhammad (Aliaschab Kebekow) einen ehemaligen Mitstreiter, der dem IS die Treue geschworen hat, der Spaltung und des Verrats beschuldigte. Der IK-Anführer schlug den „Dissidenten“ vor, sich auf das dem IS unterstellte Territorium zu begeben, und ernannte neue Emire auf ihren Platz.
De facto wurden auf dem Territorium des Nordkaukasus zwei parallele Untergründe gebildet: das Imarat Kaukasus und die Kaukasische Provinz des Islamischen Staates. Das erste, das mit Al-Quaida verbunden ist, bestand aus Veteranen der russisch-tschetschenischen Kriege und wurde von Menschen angeführt, die ausser der Kriegserfahrung auch eine theologische Bildung hatten.
Der oberste Emir der kaukasischen Mudschaheddin Aliashab Kebekow, nach Expertenbewertung, besaß im Untergrund den Ruf eines „Vegetariers“: verbot die Selbstsprengungen von Frauen, belegte mit einem Verbot die Angriffe auf zivile Objekte usw. Die Nachfolger des Islamischen Staates auf dem Territorium des Nordkaukasus deklarierten und praktizierten derartige Pingeligkeit in den Methoden der Kriegsführung dagegen nicht. Die Mudschaheddin, die einen Eid an den IS abgelegt hatten, haben sich den Ruf von wirkungsvollen und gnadenlosen Kämpfern verdient.
Die „sanfte“ Strategie von Kebekow befriedigte die „heissen jungen Köpfe“ nicht, was auch zu einem Grund für den Abgang des Personalbestands vom IK zum IS auf dem Kaukasus selbst wurde.
Moskaus Interessen
Parallel zur Spaltung in den Reihen der kaukasischen Mudschaheddin bezog auch der Kreml eine Position. Al-Quaida und alle mit ihr verbundenen Strukturen haben ihren Vorrang als das „Absolute Böse“ dem Islamischen Staat eingeräumt. Nun wurde möglich, vorbildlich gegen die Bedrohung der Islamisten zu kämpfen, wenn dein Gegner der IS ist.
Also, um die Lage am Kaukasus in Übereinstimmung mit dem gewünschten Medienbild zu bringen, begannen die Gewaltbehörden Russlands eine folgerichtige Liquidation vom Organisationsnetz des Imarats. Am 19. April 2015 ist im Kampf gegen den FSB-Speznas der oberste Emir des Imarats Ali Abu-Muhammad (Aliashab Kebekow) gefallen. Sein Nachfolger, Abu Usman Gimrinski (Magomed Suleimanow) hielt noch ein wenig durch und ist am 11. August 2015 im Kampf gegen russische Soldaten im Dorf Gimry, Dagestan, getötet worden.
Seit Sommer 2015 (seit dem 1. Juni) haben russische Soldaten 82 Mitglieder des islamistischen Untergrunds vernichtet. Davon waren 38 – Mitglieder des Imarat Kaukasus, 42 – Söldner, deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation nicht ermittelt werden konnte, 2 – Kämpfer des Islamischen Staates. Die Zahlen sind nach geprüften Angaben der Websiten „Kaukasischer Knoten“ und „Kaukasus-Zentrum“ angeführt.
Zu den 42 Söldnern, deren Zugehörigkeit nicht ermittelt worden ist, sind unter anderem die Opfer des sogenannten „Gegenfeuers“ hinzugezählt worden, und zwar Menschen im zahlreichen Autotransport, aus dem die Söldner angeblich als Erste Feuer eröffnet hätten. Die Information über die Zugehörigkeit der „Gegenfeuer“-Opfer zu bestätigen oder zu widerlegen ist äusserst schwierig.
Diese Disproportion in Verlusten ist schwer mit einem Zufall zu erklären, wenn man bedenkt, dass in den Regionen der aktiven Tätigkeit des islamistischen Untergrunds (Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien) die Anzahl der Mudschaheddin des Imarat Kaukasus der Anzahl von Mudschaheddin des Islamischen Staates ungefähr gleich ist. Mehr noch, das Imarat Kaukasus durchlebt eine ernsthafte Personalbestand-Krise und ist in den letzten Jahr stark abgeschwächt. Zur gleichen Zeit bemüht sich Moskau ausserordentlich darum, gerade die Anführer der Organisation Imarat Kaukasus zu liquidieren: in einer sehr kurzen Zeit wurden in Folge zwei Anführer der Organisation getötet, wie auch eine ganze Reihe von mittleren Kommandeuren des Untergrunds.
Manche Experten neigen zur Meinung, dass Moskau die Vertreter des IK auch im Ausland liquidiert. Zum Beispiel wurde am 1. November 2015 in Istanbul, unweit von seinem Wohnort, der Administrator der Imarat-Website „Kaukasus-Zentrum“ Abdulwahid Edelgirijew im eigenen Auto erschossen – ein einflussreicher Mann im Netz des Imarat Kaukasus, ein Vertreter des Wilaya Nochtschijtscho (Tschetschenien) des IK im Ausland.
In den angeführten Angaben kann die Ausrichtung auf die Liquidation gerade des IK-Untergrunds durch die russischen Gewaltbehörden sehr deutlich zurückverfolgt werden. Allerdings besteht Moskaus Zynismus nicht so sehr in der Tatsache, dass es all die Konkurrenten des IS am Nordkaukasus vernichtet, sondern auch darin, dass die Operationen gegen das Imarat Kaukasus als die „Angriffe auf den Bandenuntergrund des Islamischen Staates“ präsentiert werden. Am 24. Oktober 2015 fand im Dorf Gimry in Dagestan ein Kampf zwischen den Speznas-Einheiten des FSB und Innenministeriums gegen eine Gruppe der Mudschaheddin statt.
Infolge davon ist ein 36-jähriger ortsansässiger Einwohner Abdula Nustafajew gestorben. Das Nationale Antiterroristische Komitee Russlands erklärte, dass der Getötete ein Mitglied des Islamischen Staates war. Zugleich dementierten diese Information sogar dem Kreml durchaus loyale Experten Orchan Dschemal und Michail Roschin. Der Getötete war ein Mitglied des Imarat Kaukasus.
Also wird die Vernichtung von Konkurrenten des IS unter der Informationssoße eines „Kampfes gegen den IS“ präsentiert. An der Stelle ist es schwer, Syrien nicht zu erwähnen, wo Russland seit mehreren Wochen ebenfalls „Luftangriffe gegen den IS“ ausführt, und zwar auf die Ortschaften, wo es weit und breit keinen IS gibt.
Schlussfolgernd kann man annehmen, dass Moskau sich zum Ziel gesetzt hat, das Imarat Kaukasus endgültig vom Schachbrett zu räumen. Denn der lange Schaukampf gegen die lokale Widerstandsbewegung, die offen die Methoden und Mittel des IS verurteilt, fügt sich nicht in das Schema der neuen „antihitlerischen Koalition“ von Putin ein.
Dieses Material wurde von Pawlo Podobed exklusiv für InformNapalm vorbereitet; übersetzt von Irina Schlegel. Beim Nachdruck und Verwenden des Materials ist ein Hinweis auf unsere Ressource erforderlich (CC BY).
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3 Responses to “Moskau formatiert Nordkaukasus in den Islamischen Staat um”
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