von Irina Schlegel
Russland setzt seine menschenverachtende und im Grunde auch rechtsverachtende Politik fort, indem es weiterhin unschuldige Menschen aus einem anderen Land, von dem es sich im März 2014 ein Stück angeeignet hat, entführt und zu horrenden Strafen verurteilt, rein dafür, dass sie ihrer Heimat treu bleiben.
Oleh Senzow, der ukrainische Regisseur, der im Mai 2014 aus seiner Heimatstadt Simferopol auf der Krim vom russischen FSB entführt worden war und im August 2015 zu 20 Jahren Haft wegen einer absurden Terrorismusanklage in Russland verurteilt wurde und bislang in einer Kolonie mit strengen Haftbedingungen in Jakutsk einsaß, befindet sich seit Anfang September auf einem Gefängnistransport an einem unbekannten Ort.
Am 9. September hatten Mitglieder der zivilgesellschaftlichen Beobachtungskommision ihn in einer Haftanstalt in Irkutsk aufgefunden. Seitdem wissen weder seine Familie noch seine Anwälte etwas über seinen Aufenthaltsort oder wohin er weiter transportiert wird.
Am 29. September erhielt Zoya Swetowa, eine Journalistin von Open Russia, einen Postbrief von Senzow. Auf der letzten Seite steht ein Datum: 17. September 2017, Stadt Tjumen. Auf dem Briefumschlag ist ein Stempel: Untersuchungshaftanstalt-1, Tjumen, Gebiet Tjumen, darauf ist ein Stempel eines Inspektors zu sehen, der die Korrespondenz von Häftlingen prüft. Verschickt wurde der Brief am 21. September 2017.
Nach Moskau kam der Brief eine Woche später.
Oleh Senzow schreibt äußerst selten. Wie aus seinem Brief klar wird, wurden ihm in der Kolonie in Jakutsk monatelang keine Briefe übergeben, die ihm Freunde, Verwandte und unbekannte Menschen aus der ganzen Welt schickten. Darum wissen wir auch nicht, ob seine Briefe tatsächlich weitergeschickt wurden.
Vor ein paar Monaten verwehrte der Föderale Vollstreckungsdienst (FSIN) Russlands der Journalistin von Open Russia ein Interview mit Senzow und als sie diese Absage beim Samoskworezki Gericht angefochten hat, riet ihr ein Vertreter des FSIN, einen Brief an Senzow zu schreiben und die Antworten auf ihre Fragen auf diese Weise zu bekommen. Sie hat erklärt, dass Senzow die Briefe nicht bekommt. Der FSIN-Vertreter zeigte sich verwundert und ungläubig.
Sie hatte Recht.
Jeder Brief eines Häftlings, der nach außen verschickt wird, ist wie ein Flaschenbrief, der ins Meer geworden wurde – vielleicht kommt er ja an. Es kann sein, dass Oleh den nachfolgenden Brief abgeschickt hat, damit alle, die sich um ihn Sorgen machen, wissen, wo er sich befindet und was mit ihm geschieht.
Nun veröffentlichen wir diesen Brief in deutscher Übersetzung:
Bei mir ist alles ok. Ich fahre gerade. Sie haben mich plötzlich aus Jakutien weggebracht und bringen mich in den Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen (im äußersten Norden von Russland). Und dort gibt es nur ein Gefängnis – das legendäre Charp. Wie es dort war und wie es dort jetzt ist, weißt Du, denke ich, besser als ich. Ich erwarte nichts Gutes von dieser Reise. Um so mehr, da ich nach meinem Aufenthalt in der Haft in Irkutsk und der in Omsk eine Vorstellung davon habe, was „schlecht“ bedeutet und das nicht bloß aus zweiter Hand.
Physisch fasst mich keiner mehr an, aber Du verstehst doch ausgezeichnet, dass dieses System sehr perfide bestrafen und schikanieren kann, ohne rohe Gewalt anzuwenden.
Aber egal, wird schon alles gut!
Ich habe lange nicht geschrieben, weil ich irgendwie keine Lust dazu hatte. Und nicht weil ich in irgendeiner Depression oder niedergedrückt bin – daran leide ich nicht, zweifelt ja nicht daran!
Ich bin einfach nicht besonders kommunikativ, und es gibt Zeiten, in denen ich die Außenkommunikation minimiere.
Die Operationsabteilung in Jakutsk war dem übrigens sehr behilflich – in diesem Jahr haben sie mir zwei Postkarten ausgehändigt, eine zu Silvester und eine zum Geburtstag. Dafür haben sie mir vor meiner Abreise eine ganze Kiste mit alten Briefen übergeben, die sie diese anderthalb Jahre bei sich aufbewahrten, und dazu auch noch circa einhundert neue, die sie im Lauf des Jahres sammelten und erst jetzt beschlossen, ihre Papiergeisel abzugeben. Nun fahre ich, lese das alles unterwegs. Dann haben sie mir noch ein Dutzend Bücher übergeben, die mir geschickt wurden und die sie mir aber vorher nicht übergaben.
Ich verdamme nun alles und jeden, da ich diese für mich sehr kostbare Literatur über alle Etappen mitschleppen muss, aber sie wegzuwerfen ist mir doch zu schade. Sie sollen mir keine Bücher mehr schicken, ok? Sie schicken mir solche, die ich nicht brauche, und ich kann sie dann nicht wegwerfen – ich verteile sie nach Möglichkeiten und trage sie bei mir, bin aber schon am Rande meiner Möglichkeiten, was den Transport meiner mobilen Bibliothek angeht!
Und Päckchen, die ich nicht bestellt habe, braucht man mir auch nicht zu schicken, denn man darf nur ein Päckchen pro drei Monate bekommen, und ich schreibe lieber an Natascha (Schwester von Oleh Senzow) oder sonst jemanden, vielleicht über Dich, was genau ich brauche und bekomme genau das. Denn es gab schon Situationen, in denen eine gutmütige Seele Mitleid mit einem armen politischen Häftling hatte und ein kleines Päckchen mit nutzlosem Kram schickte, und dann muss man noch drei Monate warten, um das zu bekommen, was ich tatsächlich brauche.
Sobald ich ankomme, schreibe ich Dir.
Und, um das existenzielle Thema zu beenden, das übrigens einen Großteil des Lebens eines Häftlings einnimmt, bitte meine Schwester Natascha, mir auf mein Haftkonto 10.000 Rubel zu überweisen. Bis ich ankomme, wird das Geld mich einholen.
Übrigens, mal was zu guten Taten, die nicht immer zu guten Ergebnissen führen.
Klimkin (ukrainischer Außenminister) versuchte mich an meinem Geburtstag im Juli telefonisch zu erreichen, dann kam „Pussy Riot“ mit Aljochina nach Jakutsk, um mich zu unterstützen. Das ist toll! Aber statt des Anrufs hatten sie mich in eine weitere Einzelhaftzelle (das ist schon das vierte oder sogar das fünfte Mal) gesetzt und dann auch noch an diesen viel härteren Ort, das Charp, abtransportiert. Der FSIN Russlands hat diesen Befehl Ende Juli unterzeichnet. Das heißt aber nicht, dass man gar nichts zu tun braucht.
Ihr dort, in der Freiheit, könnt alles tun, was Ihr für nötig hält, um mich oder andere politische Gefangenen zu unterstützen, Ihr sollt nur wissen, dass die örtlichen Vollstreckungsbeamten ihre eigene Logik im Kopf haben – und öfters reagieren sie eben so, wie sie reagieren.
Sie werden mich ja nicht zum Nordpol bringen.
Im Großen und Ganzen ist bei mir alles ok und ich hoffe, dass ich diese Reise und den Aufenthalt am Endpunkt mit den Resten meiner Gesundheit aushalte. Ich hoffe, Ihr veranstaltet dort auch keine Hysterie deswegen, denn ich sitze nicht allein – wir sind viele, und ich habe bei weitem nicht die schlechtesten Bedingungen.
Und am sonsten mache ich alles wie immer: Lese viel, mittlerweile sogar in Englisch, korrigiere und ergänze meine Drehbücher – diese Arbeit kann man fast ewig machen, aber ich denke, für ein paar Sammelbände habe ich noch genug, mache Sport nach Möglichkeiten, und so andere Kleinigkeiten.
Ich verfolge natürlich nach Möglichkeiten das Geschehen in der Ukraine und Russland. Kann aber nichts gutes sagen – von hier sieht man womöglich schlecht.
Die Ukraine tut sich schwer, kratzt sich aber wohl doch in die richtige Richtung hoch. Russland hat sich wohl in seiner Sackgasse festgefahren und was weiter kommt, davon hat niemand eine Ahnung.
Wie bisher zweifle ich weder an unserem Erfolg noch am Sieg, noch daran, dass alles gut wird und sogar sehr gut!
An der Stelle verabschiede ich mich, Euer Oleh Senzow, 17. September 2017.
P.S. Schreib nicht hierhin, ich fahre bald weiter, früher als Du diesen Brief bekommst.
(Quelle: Open Russia, Artikel vom 30. September 2017)
An den Methoden der russischen Führung hat sich seit den Zeiten von Stalin, dessen Denkmäler ungeachtet der Millionen Nachfahren seiner Opfer nun überall in Russland aufgestellt werden, wenig geändert: Menschen werden für ihre politische Haltung inhaftiert, gefoltert und zu horrenden Strafen verurteilt. Menschen mit proukrainischer Position werden mit absurden Anklagen konfrontiert, die Krimtataren werden verfolgt, die Krim wird von den Russen in einen menschenleeren militarisierten Truppenübungsplatz verwandelt, ihre Natur wird ausgebeutet. Wenn die Krim zurück in die Ukraine kommt, werden die Ukrainer wohl wieder, wie damals in den 1950ern, sehr viel arbeiten müssen, um die Halbinsel zurück in einen bewohnbaren Ort zurückzuverwandeln.
Es wird gerade wieder über die Rechtmäßigkeit der russischen Annexion diskutiert (was an sich schon absurd ist), die Krim wird als ein politisches Instrument benutzt, das russische Verbrechen wird heruntergespielt, man möchte gar das Thema unter den Tisch Fallen lassen und vergessen.
Unsere Quelle InformNapalm wurde im März 2014 von Krim-Bewohnern gegründet, einige andere Menschen in unserem Team sind Nachfahren von deportierten Opfern sowjetischer Politik auf der Krim – wir können dieses Thema weder vergessen, noch zulassen, dass die verlogenen russischen Erklärungen über die „ur-russische Krim“ für bare Münze genommen werden. Wir haben in diesen drei Jahren einige Artikel zum Thema der historischen, politischen und rein menschlichen Ungerechtigkeit dieser Behauptungen veröffentlicht. Und zwar (Bitte einfach auf das Bild klicken – und Sie werden zum entsprechenden Artikel weitergeleitet):
Zur Rechtslage der Krim:
Zur Geschichte der Krim:
„KrimUnser!“, oder noch einmal über die historische Gerechtigkeit
Zur russischen Sonderoperation zur Einnahme der Krim
Krimer Kantstein ein Jahr später: Einzelheiten der russischen Sonderoperation zur Krim-Annexion
Zur Ausbeutung ihrer Natur:
Krim-Annexion: Katastrophale Zustände bei der Wasserversorgung auf der Halbinsel
Und in Ergänzung – ein äußerst interessanter russischer Artikel aus dem Jahr 2008 (!!), in dem die zukünftige Annexion der Krim sehr detailliert beschrieben wird:
Dieser Artikel wurde von Irina Schlegel exklusiv für InformNapalm vorbereitet; editiert von Klaus H.Walter.
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2 Responses to “Oleh Senzow als Sinnbild der russischen Politik auf der besetzten Krim”
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